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Der Tod des Diktator
ОглавлениеEr starb, wie er gelebt hatte – in einer Atmosphäre des Schreckens und der Einschüchterung. Und es war nicht so, dass es viele in seiner Umgebung gegeben hätte, die das Dahinscheiden von Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin, ehrlich bedauert hätten.
Man hatte es kommen sehen. In den letzten Wochen vor seinem Tod ignorierte Stalin jeden ärztlichen Rat. Trotz seines hohen Blutdrucks nahm er ausgiebige Dampfbäder und trank Unmengen Alkohol. Immer wieder zitierte der despotische Alte seine engsten Vertrauten zu ausgiebigen Abendessen mit anschließendem Trinkgelage hinaus in seine Datscha bei Moskau.
So auch in der Nacht vom 28. Februar auf den 1. März 1953. Die Geladenen waren Geheimdienstchef Lawrentij Pawlowitsch Berija, Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, Präsidiumsmitglied der Kommunistischen Partei, Georgij Maksimilianowitsch Malenkow, der den Ministerrat leitete, und Verteidigungsminister Nikolaj Alexandrowitsch Bulganin. Wie üblich zog sich das »Abendessen« bis in die Morgenstunden hin. Nikita Chruschtschow berichtete später, die Einladung sei in fröhlicher Stimmung verlaufen. Stalin sei ausgesprochen guter Dinge gewesen, habe Witze gemacht und seine Gäste gegen vier Uhr morgens sogar noch zur Verabschiedung in die Halle hinausbegleitet.
Die Besucher waren erleichtert, denn nicht alle Abendessen bei Stalin endeten so angenehm. Allzu oft mussten sie die Zornesausbrüche des cholerischen Vierundsiebzigjährigen ausbaden. Auch für die Dienerschaft der Datscha hatte der Abend einen erfreulichen Ausklang. Denn ganz entgegen seiner Gewohnheit wies Stalin, wie es später hieß, seine Männer an, sich schlafen zu legen. Er werde sie in der Nacht nicht mehr benötigen, sagte er.
Als die Leibwächter am nächsten Morgen aufstanden, war es in Stalins Schlafzimmer noch ruhig. Das war nicht weiter ungewöhnlich, denn schließlich war es in der Nacht zuvor ja spät geworden. Gegen elf Uhr – früher in der Regel nicht – rief der Hausherr an solchen Morgen einen dienstbaren Geist zu sich, um sich einen Tee und eine Kleinigkeit zu essen bringen zu lassen.
Um die Mittagszeit glaubte jemand, ein Geräusch gehört zu haben, doch der gewohnt energische Ruf nach einem Diener blieb aus. Auch am Nachmittag herrschte ungewohnte Stille. Langsam wurde die Dienerschaft unruhig. Was mochte da los sein? Niemand wagte es jedoch, die Gemächer des Diktators unaufgefordert zu betreten, da der »Chef« für seine Wutausbrüche bekannt war. Als gegen sieben Uhr abends endlich Licht in Stalins Zimmer anging, hofften die Diener schon, es sei alles in Ordnung. Aber wieder verging Stunde um Stunde, ohne dass der Hausherr sich blicken ließ. Gegen zehn Uhr abends endlich fasste sich der stellvertretende Sicherheitschef der Datscha, Pjotr Wassiliewitsch Losgaschow, ein Herz. Er habe die Tür sehr laut geöffnet, erzählte er Jahre später Stalins Biographen Edvard Radzinskii. Stalin habe es gehasst, wenn man sich leise hereinschlich. Doch die Vorsicht war unnötig gewesen: Der große Diktator lag hilflos am Boden – mit nassen Hosen und unfähig, sich zu bewegen.
„Dass Stalin kurz vor seinem Tode stand, darüber lagen bereits Informationen vor. Manche Informationen haben wir Ende Februar schon nicht mehr Stalin zukommen lassen.“
Sergej Kondraschow, sowjetischer Geheimdienst
Eilig versuchte Losgaschow, Stalin aufzurichten. Der Diktator war bei Bewusstsein, konnte aber nicht mehr sprechen. Leise röchelnd schloss er die Augen. Gemeinsam mit anderen Dienern hob ihn Losgaschow auf ein Sofa. Dort blieb er regungslos liegen. Unschlüssig standen die Männer um das Lager des hilflosen Alten. Schließlich fassten sie den Entschluss, im Ministerium für Staatssicherheit anzurufen. Denn dies war sicherlich ein Fall, der die Sicherheit des Staates aufs Höchste gefährdete. Das Ministerium verwies erschrocken an Geheimdienstchef Lawrentij Berija. »Zu niemandem ein Wort«, lautete dessen knappe Order. Er werde die Sache regeln.
Später in der Nacht trafen Berija, Malenkow und Chruschtschow auf der Datscha ein. Auch die drei nach Stalin mächtigsten Männer des Staates waren ratlos und standen unschlüssig vor der Schlafzimmertür. »Sie hatten einfach Angst vor ihm«, berichtet Sergej Chruschtschow, Nikitas Sohn. »Stalin lag da und hatte sich – entschuldigen Sie den Ausdruck – vollgepisst. Er hätte es ihnen niemals verziehen, wenn sie ihn so gesehen hätten.« Aus gebührendem Abstand blickten sie scheu in Richtung des Diwans. »Sie sahen, wie er dort lag, wie er sich bewegte, und haben sich wieder zur Tür hin verdrückt«, erinnert sich Sergej an die Erzählungen seines Vaters. »Dann kamen sie klammheimlich wieder, schauten wieder nach und diskutierten, was sie jetzt tun sollten. Geh du als Erster! Nein, geh du, du bist an der Reihe!«
Was dann in Stalins Datscha geschah, konnte bis heute nicht lückenlos aufgeklärt werden. Offenbar verfügten die drei Paladine, Genosse Stalin »schlafe friedlich«, und man könne beruhigt wieder nach Hause fahren. Erst als die Diener einige Stunden später erneut anriefen und dringend appellierten, es müsse etwas getan werden, gab die Troika Order, einen Arzt zu rufen. Dreizehn Stunden, nachdem Stalin offenkundig einen Schlaganfall erlitten hatte, trafen die Ärzte an seinem Krankenbett ein. Viel zu spät, um noch wirkliche Hilfe leisten zu können.
Der Zustand des Patienten war hoffnungslos, so die Diagnose der Ärzte. Man solle seine Kinder holen, ansonsten könne man lediglich abwarten. Doch nicht einmal im Sterben machte es Stalin seinen Weggefährten und Widersachern leicht. Sein Todeskampf zog sich über fünf Tage hin. Mit unterschiedlichsten Medikamenten und Spritzen, ja sogar mit Blutegeln, versuchten die Ärzte, seinen Gesundheitszustand zu stabilisieren. Bisweilen erlangte er das Bewusstsein wieder, konnte sogar mit einem Löffel gefüttert werden. Einmal habe Genosse Stalin auf ein Bild an der Wand gezeigt, erinnerte sich Nikita Chruschtschow später. Darauf sei zu sehen gewesen, wie ein Mädchen ein Lämmchen fütterte. Der Diktator habe wohl sagen wollen, dass er sich gerade so hilflos wie das kleine Schäfchen fühle.
„In den nächsten zwölf bis vierzehn Stunden wurden keine Ärzte alarmiert, während sich in der Datscha in Kunzewo ein Drama abspielte: Dienerschaft und Wachen rebellierten und verlangten, dass ein Arzt gerufen wird. Die Parteispitze versicherte aber, dass es keinen Grund für eine Panik gebe. Berija selbst erklärte, dass ›nichts geschehen sei. Er schläft.‹ Und mit dieser Beurteilung verließen die Führer die Datscha, nur um wenige Stunden später zurückgerufen zu werden. Zu diesem Zeitpunkt waren das gesamte Wachpersonal und alle Bediensteten außer sich vor Wut über diesen Trick. Schließlich verlangten die Mitglieder der Führung, dass der Patient in einen anderen Raum gebracht und dort auf ein Bett gelegt werde - immer noch ohne ärztliche Betreuung. Vom ärztlichen Standpunkt aus war dies unverzeihlich.“
Swetlana Allilujewa, Tochter Stalins
Der Gesundheitszustand Stalins verschlechterte sich von Tag zu Tag, während sich an seinem Bett jene versammelten, die ihm im Leben nahe gestanden hatten – und jene, die nach seinem Ableben an seine Stelle treten wollten. Stalins Tochter Swetlana und Nikita Chruschtschow berichteten später übereinstimmend, Lawrentij Berija habe sich ausgesprochen seltsam verhalten. Kaum dass der Diktator Anzeichen gemacht habe, wieder zu Bewusstsein zu kommen, habe er dessen Hand genommen und sie geküsst. Sobald Stalin aber die Augen wieder geschlossen hatte, habe er wild auf ihn geschimpft, nach Chruschtschows Aussage sogar ausgespuckt. Es stand außer Frage, wer nach Stalins Ableben der gefährlichste Mann im Staate sein würde.
Keine Nachricht über den prekären Zustand des Staatsoberhauptes drang nach außen, während sich Nacht für Nacht die wenigen Eingeweihten an Stalins Bett ablösten. Sie blieben wohl in der Erwartung, hier die Weichen für ihre spätere Karriere stellen zu können, sicherlich aber auch in dem Willen, Zeuge zu sein, wenn ihr Tyrann von dieser Welt schied.
Am 5. März 1953 war es so weit. Die Umstehenden konnten beobachten, wie sich Stalins Antlitz immer mehr verfärbte und die Gesichtszüge entglitten. Wie sich seine Tochter Swetlana später erinnerte, öffnete der Diktator dann plötzlich die Augen und ließ seinen Blick über die Besucher an seinem Bett schweifen. »Es war ein furchtbarer Blick, halb wahnsinnig, halb zornig, voller Todesangst. Und dann hob er plötzlich die linke Hand, wies mit ihr nach oben, als wolle er uns alle warnen. Die Geste war undeutlich, aber eindeutig drohend.«
An Gerüchten um Stalins Tod hat es nie gemangelt. So wurde behauptet, der Diktator sei vergiftet worden, oder aber, Chruschtschow habe ihn eigenhändig erwürgt. Geheimdienstchef Berija habe noch in der gleichen Nacht die Leibwächter erschießen lassen, um zu verhindern, dass Zeugen von der schauerlichen Tat berichteten. Derartige Räuberpistolen entbehren der Grundlage, doch da die Staatsführung eine obskure Geheimniskrämerei um die Todesumstände betrieb, schoss die Phantasie schnell ins Kraut. Tatsächlich ist einiges an Stalins Tod ungeklärt und seltsam geblieben.
So rechtfertigten sich die Leibwächter später auf die Frage, warum sie denn in der Nacht nichts von Stalins Notlage bemerkt hätten, der Diktator habe sie schlafen geschickt. Tatsächlich aber konnte sich niemand erinnern, dass Stalin je eine solche Order gegeben hätte. Ganz im Gegenteil hatte er mit zunehmendem Alter einen immer aberwitzigeren Verfolgswahn entwickelt, der ihn hinter jeder Tür einen Meuchelmörder wittern ließ. Dass gerade er die Erlaubnis gegeben haben soll, ihn unbewacht schlafen zu lassen, erscheint in der Rückschau zumindest überraschend.
Ebenso bizarr schien das Verhalten der Diener. Über Stunden wagten sie es nicht, das Zimmer eines vierundsiebzigjährigen Mannes zu betreten, der offensichtlich Hilfe brauchte. Und schließlich das »Versäumnis« Berijas, Malenkows und Chruschtschows, die sich durch den auch für Laien erkennbar bedenklichen Zustand Stalins nicht motiviert sahen, einen Arzt zu alarmieren ... All das lässt nur einen Schluss zu: Josef Stalin ist nicht ermordet worden – doch man hat ihn sterben lassen.
Fast drei Jahrzehnte lang war Josef Stalin Alleinherrscher über die Sowjetunion gewesen. Jetzt erschütterte sein Tod das Land in seinen Grundfesten. Zu lange war seine Amtszeit gewesen, zu prägend für die politische Ordnung und zu grausam, um ihr Ende als einfachen Regierungswechsel zu betrachten. Mit Stalin trat ein Staatschef von der politischen Bühne ab, dessen Herrschaft für Millionen Menschen Tod und Leid bedeutet hatte und für viele Länder Osteuropas das Ende ihrer politischen Souveränität und Freiheit. Doch er hatte so lange regiert, dass eine ganze Generation in dem festen Glauben herangewachsen war, der Mann an der Spitze des Staates sei ein Held und Heilsbringer. Jahrzehntelang war ihnen eingebläut worden, der »weise Vater der Völker« lenke ihr Geschick mit Liebe und Verantwortung. Auf Paraden hatten junge Menschen überlebensgroße Porträts des schnauzbärtigen Georgiers getragen. War es nicht Stalin gewesen, der das rückständige Land zum sozialistischen Musterstaat ausgebaut und im »Großen vaterländischen Krieg« ihr Land und ihr Leben gerettet hatte?
„Alle Gerüchte, Stalin sei von seinen Leibwächtern im Auftrag Berijas ermordet worden, sind unbegründet. Dass sich jemand aus Stalins engstem Kreis gegen ihn gewandt hätte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Er war zwar ein kranker alter Mann, der unter hochgradiger Paranoia litt, aber bis zu seinem Todestag hielt er die Zügel fest in der Hand.“
Pawel Sudoplatow, sowjetischer Geheimdienst, in seinem Buch
Sergej Chruschtschow traf die Nachricht vom Tode des »weisen Vaters der Völker« wie ein Schock. »Ich dachte, der Himmel stürzt ein. Wie sollten wir ohne Stalin weiterleben?« Er sei regelrecht empört gewesen, dass sein Vater seine Trauer offensichtlich nicht teilte, erinnert er sich. Nikita Chruschtschow war in der Nacht des 5. März nach Hause gekommen und hatte knapp mitgeteilt, Stalin sei tot. »Dann stand er einfach auf und sagte, er gehe jetzt schlafen«, berichtet Sergej. »Ich konnte das überhaupt nicht verstehen. Wie konnte er schlafen gehen, wo doch Stalin gestorben war!«
Chrutschtchows Sohn war mit seinen aufrichtigen Gefühlen nicht allein. Zu Stalins Beerdigung drängten sich Hunderttausende in den Straßen Moskaus. Es brach eine Massenpanik aus, in deren Folge zahlreiche Menschen zerquetscht und zu Tode getrampelt wurden. Selbst nüchterne Gemüter konnten sich der allgemeinen Trauer nicht vollständig entziehen. »Er war für uns doch ein regelrechter Halbgott gewesen«, erinnert sich Vitalij Tschernjawskij, der zu dieser Zeit eine Spezialeinheit des sowjetischen Geheimdienstes leitete, »er war der große Führer gewesen, derjenige, mit dem wir Vergangenheit und Zukunft verbanden«.
In der Nacht zum 6. März brach im Funkhaus des staatlichen Radios der Deutschen Demokratischen Republik in Ostberlin Hektik aus. Edith Reglin hatte gerade Dienst. Die Tontechnikerin war es gewohnt, dass bei diesem Sender alles nach Plan lief: freundlich belanglose Musik, Nachrichten und hier und da ein Kommentar, oft aus der Feder Karl-Eduard von Schnitzlers, der den Hörern in der DDR seine ganz spezielle Sicht der Dinge aufzwang. Ediths Job war es unter anderem, eventuelle Versprecher der Nachrichtenleser in einem Protokoll für die Staatssicherheit zu vermerken – in zehnfacher Ausfertigung. Jede offizielle Verlautbarung sollte hundertprozentig der vorgegebenen Parteilinie entsprechen.
In dieser Nacht wurde weniger auf Formalitäten geachtet. Edith solle alles stehen und liegen lassen, sagte man ihr, und im Übertragungsraum einen Mitschnitt anfertigen. Aus Moskau komme eine Nachricht von außerordentlicher Wichtigkeit. Eine eilig organisierte Dolmetscherin übersetzte Edith und den Zuhörern: »Das Herz des größten Menschen unserer Epoche, des Genossen J. W. Stalin, hat aufgehört zu schlagen.« Kratzend jagten die Bleistifte der mitschreibenden Redakteure übers Papier. Edith Reglin blieb gelassen. »Na, die Tränen sind mir bestimmt nicht gekommen«, sagt sie heute ironisch.
Die Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik reagierten mit einer Mischung aus Ungläubigkeit, Schrecken und Erleichterung auf die Nachricht vom Ende des Diktators, dessen eiserne Faust sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Griff gehalten hatte. Für das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei SED stand schnell fest, auf welche Art und Weise die Bürger der DDR ihre »aufrichtige Trauer« auszudrücken hatten. Büsten und Statuen würden an den verblichenen »besten Freund des deutschen Volkes« erinnern, seine Schriften neu verlegt werden. Als Gipfel postmortaler Ehrungen würde die Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats Ost, die erste sozialistische Stadt der DDR, in »Stalinstadt« umbenannt werden. Wer sich der kollektiven Betroffenheit widersetzte, musste mit Strafe rechnen. So verurteilte das Bezirksgericht Leipzig im April 1953 zwei Arbeiter zu vier beziehungsweise sechs Jahren Zuchthaus, weil sie sich allzu offen über den Tod Stalins gefreut und dabei zu allem Überfluss die Hoffnung auf baldige Besserung der Lage in der DDR geäußert hatten.
Es wurden hauptsächlich folgende Maßnahmen beschlossen: 1. Die Flaggen auf Halbmast zu setzen oder mit einem Trauerflor zu versehen. 2. Verkehrsbrennpunkte, öffentliche Gebäude, Betriebe und Schaufenster dem Ableben des Genossen Stalin entsprechend auszugestalten. 3. In Betrieben, den Organen des Staatsapparates, Dienststellen der Partei und Massenorganisationen des Genossen Stalin zu gedenken, wobei Kurzansprachen gehalten werden sollen. 4. Eine Bewegung zur Übernahme von Selbstverpflichtungen zu organisieren. Die Verpflichtungen sollen sich nicht nur auf die Erhöhung der Produktion, die Durchführung des Sparsamkeitsregimes, Normenerhöhungen usw. erstrecken. (...) 10. Vereinzelt wurden Agitatoren eingesetzt, wie z. B. in der Stalinallee, Berlin, durch die Kreisleitung Friedrichshain. Maßnahmen der SED zu Stalins Tod, 6. März 1953
Doch wie in Russland gab es auch in der DDR viele, die von dem Ereignis aufrichtig betroffen waren. Der Schriftsteller Erich Loest hospitierte in der Arbeiter- und Bauernfakultät in Leipzig, als dort die Nachricht von Stalins Tod eintraf. »Die Genossen haben sich da derart reingesteigert, dass kaum einer einen geraden Satz sagen konnte«, berichtet er heute noch ungläubig, »die haben nur noch gestammelt«. Im Korridor standen neben einer Stalinbüste ein Junge und ein Mädchen in den Uniformen der »Freien Deutschen Jugend« mit geschulterten Luftgewehren Ehrenwache. Die Vorbeigehenden blieben stehen, um dem »Vater der Völker« ihre trauernde Reverenz zu erweisen. Obwohl zur fraglichen Zeit noch leidlich linientreu, spürte Loest kein sonderliches Bedürfnis, sich an diesem bizarren Personenkult zu beteiligen. »Gott sei Dank hatte ich einen Hut auf, den konnte ich dann einfach ziehen, und die Sache war erledigt«, schmunzelt er heute. Vor allem überzeugte Parteifunktionäre erschütterte die Meldung zutiefst. »Plötzlich war der leuchtende Stern, an dem sich alles orientierte, erloschen. Es war ganz eigenartig. Es war, als stünde die Welt still«, erinnert sich Fritz Schenk, damals Mitarbeiter der staatlichen Planungskommission der Deutschen Demokratischen Republik. Sein damaliger Parteigenosse Gustav Just, Mitglied im Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, gibt ihm Recht. »Sein Wort war für uns doch heilig gewesen. Wir wussten einfach nicht, was jetzt geschehen würde!«
Mit dem, was drei Monate später geschehen sollte, rechnete im März des Jahres 1953 niemand. Weder die Politiker diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs noch die Drahtzieher auf diplomatischem Parkett, nicht die Geheimdienstler und am wenigsten wohl die Beteiligten selbst. Kaum dass sich der Klammergriff des Stalinismus für einen kurzen Augenblick lockerte, erschütterte ein Volksaufstand die DDR, den seitdem sein schlichtes Kalenderdatum bezeichnet: Der 17. Juni 1953.
Ausgerechnet die Deutschen! Ausgerechnet jenes Volk, über das Lenin einst gelästert hatte, wenn es in einer Revolution einen Bahnsteig stürme, löse es zuvor noch eine Bahnsteigkarte, nahm sein eigenes Schicksal mutig in die Hand. Binnen achtundvierzig Stunden hoben die Bürger das Herrschaftsgefüge der DDR aus den Angeln. Zu Hunderttausenden gingen sie auf die Straßen und schrien heraus, was sie von der Wirklichkeit des »Arbeiter- und Bauernparadieses« hielten. Was an jenem 17. Juni 1953 in Berlin geschah, war kein von langer Hand geplanter Aufstand. Er hatte keinen zupackenden Anführer, wie ihn etwa 1980 die Arbeiter auf der Danziger Lenin-Werft in Lech Walesa besaßen. Dieser Tag hatte keinen politischen Kopf, wie ihn 1989 die Tschechen in Václav Havel fanden. Der Aufruhr hatte kein Zentrum und keine Schaltstelle, er wurde nur durch die Wut und den Mut von Tausenden angetrieben. Und allein diese Kraft der Massen verlieh dem 17. Juni eine Wucht, die zuvor und auch danach wohl kein vergleichbares historisches Ereignis erreicht hat.
Die Bürger der DDR sagten am 17. Juni 1953 »Nein« zu den sozialistische Glückseligkeit verheißenden Propagandasprüchen. Sie wollten nicht länger die Erhöhung des Stahlproduktionsvolumens bejubeln, während ihnen zu Hause die Butter auf dem Brot fehlte. Sie sagten »Nein« zu den kruden Zukunftsvisionen Walter Ulbrichts, dessen ideale DDR nur auf den Seiten des Parteiorgans »Neues Deutschland« existierte. Und sie wollten nicht tatenlos bleiben, während allen Einheitsbekundungen zum Trotz die Weichen immer deutlicher auf die Teilung Deutschlands gestellt wurden.
Geschichte ist allzu oft die Geschichte der Sieger. Eben das waren die Frauen und Männer des 17. Juni nicht, zumindest nicht auf den ersten Blick. Und so gehörte der Aufstand in der DDR lange Zeit zu den vergessenen Kapiteln der deutschen Geschichte. Die Namen der Toten des Aufstands sind noch immer vielfach unbekannt. Bis heute steht nicht einmal fest, wie viele es genau waren, die an diesem und den folgenden Tagen in der DDR ihr Leben verloren. Auch die Namen und Gesichter jener Menschen, die am 17. Juni 1953 über sich selbst hinauswuchsen und für einen Augenblick Helden waren, kennt man kaum. Etwa Ralph Schoenhofer, der die rote Fahne vom Brandenburger Tor riss. Oder Erika Sarre, die in einem symbolischen Akt ihre FDJ-Jacke in die Versammlung vor dem Haus der Ministerien warf. Oder die Gesichter all der Namenlosen, die sich, nur mit Steinen bewaffnet, mutig den sowjetischen Panzern entgegenstellten. Für viele von ihnen hat sich am 9. November 1989, als die Mauer fiel, ein Traum erfüllt, der sechsunddreißig Jahre zuvor seinen Anfang genommen hatte. »Der 17. Juni 1953 hatte für mich immer eine ganz besondere Bedeutung«, sagt Hanns Peter Herz, der damals als Redakteur beim Berliner RIAS arbeitete. »Er hat mich darin bestärkt, dass wir alles dafür tun mussten, die deutsche Einheit eines Tages wiederherzustellen und die Menschen drüben nicht zu vergessen.«
»Nun, jetzt ist er tot«, klagte der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower am 6. März 1953 in einer Kabinettsitzung, »und sie können die Dossiers von innen nach außen kehren, sie werden nichts finden.« Trotz des hohen Alters des roten Diktators hatten es die westlichen Geheimdienste offenbar versäumt, sich auf den Tag seines Ablebens ausreichend vorzubereiten. »Wir haben einfach keine Pläne«, beschwerte sich der Präsident, »wir wissen schlichtweg nicht, ob sein Tod einen Unterschied macht.«
In Moskau freilich hatten sich die potenziellen Nachfolger des Verstorbenen beizeiten Gedanken gemacht, was nun geschehen sollte. Gerade Lawrentij Berija, von Stalin bereits angezählt, wusste, dass der Tod des Diktators seine große Chance war, die Herrschaft im Kreml zu erringen. Durch sein bestimmtes Auftreten am Sterbebett hatte er keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er die Macht wollte und bereit war, viel dafür zu riskieren. Doch kampflos würden seine Rivalen Georgij Malenkow und Nikita Chruschtschow nicht das Feld räumen. »Das Ringen um die Herrschaft im Kreml war bitter«, erinnert sich Sergej Kondraschow, der damals Mitarbeiter im sowjetischen Geheimdienst war. »Man konnte keine wirklichen Koalitionen ausmachen. Die Zugehörigkeiten wechselten hin und her. Eigentlich kämpfte jeder nur für sich allein.«
Bis zum Sommer war kein weißer Rauch über den Mauern des Kreml auszumachen. Keinem der Diadochen gelang es, alleiniger Nachfolger zu werden. Lawrentij Berija übernahm die Innenpolitik und den Sicherheitsbereich, Georgij Malenkow wurde Ministerratsvorsitzender. Als seine Stellvertreter fungierten Berija, Bulganin und Außenminister Wjatscheslaw Molotow. Generalsekretär der KPdSU war nun Nikita Chruschtschow. Zwar hatte jeder der Kontrahenten viele Befugnisse, aber wer hatte das letzte Wort? Aus westlicher Sicht waren die Vorgänge in der sowjetischen Führung zu einem Mysterium geworden. Selbst die Geheimdienste besaßen nur spärliche Informationen. War es ein gutes Zeichen, dass in Moskau kein neuer Staatschef die Machtfülle Stalins erreichen konnte? War dies das Ende des Despotismus? »Wir waren voller Hoffnung, dass nun nach der langen Zeit stalinistischer Brutalität etwas Neues in der kommunistischen Welt geschehen konnte«, erinnert sich Klaus Bölling, der damals als Redakteur beim Berliner RIAS arbeitete, »wir hofften, dass die Zeit der schrankenlosen Willkür nun endlich vorbei war.«
Unter den zahlreichen Staatsmännern des Ostblocks, die am Tag der Beerdigung mit erstarrter Miene an Stalins Leiche vorbeidefilierten, war einer, für den dieser Tag der Auftakt zur schwersten Krise seines politischen Lebens werden sollte. »Sein Werk jedoch lebt und wird der fortschrittlichen Menschheit noch in Jahrhunderten wegweisend sein«, hatte Walter Ulbricht in seiner offiziellen Trauerrede prophezeit, die am 8. März im »Neuen Deutschland« erschien. Unter den »Minipotentaten« der sowjetischen Satellitenstaaten war er gewiss der strebsamste. Ulbricht, Stalins Vasall auf seinem westlichsten Außenposten, agierte als eine Art ergebene Marionette, die getreulich den Willen des Moskauer Despoten in die Tat umsetzte.
Den Sachsen hatte seine Zeit in der Sowjetunion geprägt. 1933 emigriert, war er einer der Mitbegründer des »Nationalkomitees Freies Deutschland« gewesen. Er war mit der Roten Armee nach Berlin zurückgekehrt und hatte in der sowjetischen Besatzungszone mit dem Aufbau der DDR zu einem sozialistischen Staat begonnen. Die stalinistische Sowjetunion war für ihn dabei nicht nur der Rückhalt gewesen, sie war seine Lebensader. Wenn Ulbricht vom sowjetischen Diktator als dem »weisen Vater der Menschheit« oder dem »Führer der Völker« sprach, dann war ihm das eine Herzensangelegenheit. »Er hat versucht, eine preußische Art von Stalinismus in der DDR aufzubauen«, berichtet Valentin Falin, der sich damals im sowjetischen Außenministerium als Deutschlandspezialist profilierte. »Wenn etwas von uns befohlen wurde, bedeutete das für ihn, dass das für die DDR unbedingt richtig sein musste.«
Alle entscheidenden Schritte in Richtung Staatsbildung wurden vorher von der Sowjetführung abgesegnet. Ulbricht ließ sich für die Bildung der SED ebenso instruieren wie für die Staatsgründung oder die Abschottung der Grenzen nach Westdeutschland, die der Mauer fast ein Jahrzehnt vorausging. »Ulbricht war ein Arbeitstier, hellwach und zäh«, charakterisiert ihn Fritz Schenk, der damals Bürochef in der staatlichen Planungskommission der DDR war.
„Über Ulbricht haben wir uns immer lustig gemacht. Wir haben immer gesagt, die Sachsen seien die fünfte Besatzungsmacht.“
Dietrich Hunder, damals Schüler in Westberlin
Geliebt haben ihn die weitaus meisten Bürger der DDR wohl nie – und nur die wenigsten haben ihn auch nur respektiert. Wegen seines starken sächsischen Dialektes und der hohen Fistelstimme bot Ulbricht eine ideale Zielscheibe für Spötteleien aller Art, obwohl er keineswegs jener naive Tölpel war, zu dem ihn der Volksmund vielfach degradierte. SED-Mitglied Wolfgang Hartmann erlebte ihn als »Prototyp einer autoritären Persönlichkeit«. Auch die Russen kannten Ulbricht als »harten Knochen«. Semjon Logatschow, politischer Berater im sowjetischen Hochkommissariat in Ostberlin, erinnert sich: »Er konnte endlos auf seinen Positionen beharren. Und er hat nicht gerade viel auf Moral gegeben.«
Bislang hatte Ulbricht als Stalins Lakai seine Position behaupten können. Doch der Lehnsherr war tot. Was sollte nun werden? Dem SED-Chef wurde im März 1953 schlagartig klar, dass er mit Stalin seinen einzigen Rückhalt in Moskau verloren hatte. Nennenswerte Kontakte zu Chruschtschow bestanden nicht. Geheimdienstchef Lawrentij Berija sah in Ulbricht, wie er offen bekannte, den »größten Idioten, den er je getroffen hatte«. Sergej Kondraschow, damals stellvertretender Chef der deutschen Abteilung des sowjetischen Geheimdienstes, sagt heute: »Es war der allgemeine Tenor, dass Ulbricht abgewirtschaftet hatte und für die neue Situation in Deutschland nicht mehr die geeignete Person war.« Gleichsam über Nacht war aus Stalins Musterschüler eine persona non grata geworden. Der Generalsekretär stand völlig allein in einer Situation, in der die DDR mehr denn je auf Unterstützung angewiesen war. Denn nur vier Jahre nach ihrer Gründung stand die Deutsche Demokratische Republik im Frühjahr 1953 bereits am Rande des Abgrunds.
»Genosse Major, ich möchte ausreisen«, sagt ein Volkspolizist in einem weit verbreiteten Witz zu seinem Major.
»Sind Sie denn verrückt? Wohin wollen Sie denn ausreisen?«, entgegnet dieser.
»In die DDR«, sagt der Vopo.
»Sie sind doch in der DDR, in welche wollen Sie denn?«
»Na, in die, die in der Zeitung steht.«
Tatsächlich – nach den Zeilen des Parteiorgans »Neues Deutschland« lebten die Bürger der DDR wie die Maden im Speck. Die Wirklichkeit aber sah trostlos aus. »Die Versorgungslage war eine einzige Katastrophe«, erinnert sich Herbert Buley, der damals als Maschinenarbeiter im Kabelwerk Köpenick arbeitete. Acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die meisten Lebensmittel in der DDR noch immer per Karte zugeteilt. »Fleisch, Wurst, Butter, Margarine, alles gab’s nur auf Marken«, erzählt Bauarbeiter Heinz Pahl. Gemeinsam mit seiner jungen Ehefrau lebte er in einer bescheidenen Behausung am Prenzlauer Berg. »Unsere Wohnung war vorher ein Lagerraum gewesen«, erinnert sich Pahl schaudernd. »Parterre, kein Strahl Sonne, Außentoilette. Das war eigentlich eine Zumutung.« Trotz der geringen Miete blieb beim Ehepaar Pahl am Monatsende kaum etwas übrig, um sich mal etwas außer der Reihe leisten zu können. Die neu eröffneten HO-Geschäfte, in denen man ohne Lebensmittelkarte einkaufen konnte, waren für sie – wie für die meisten Normalbürger – vollkommen unerschwinglich. »Da wurden Milchbrötchen für fünf Mark das Stück verkauft«, erinnert sich Pahl, »und die Leute haben trotzdem angestanden, um mal irgendwas außerhalb der Zuteilung zu bekommen.«
Kurt Bluhm, damals 18 Jahre alt, stand an der Baustelle Weberwiese am Presslufthammer. Der Brigadier erinnert sich, dass er bisweilen sogar Probleme hatte, satt zu werden. »Dieser Hammer wog 120 Pfund«, berichtet Bluhm. »Und wenn man als junger Mann so hart arbeitet, dann braucht man doch was zu beißen.« Im Vergleich zu den Vorkriegsjahren standen den DDR-Bürgern lediglich die Hälfte an Fleisch und Fett zur Verfügung. Obst und Gemüse waren Mangelware, und für das Wenige, was zu haben war, standen die Hausfrauen stundenlang Schlange.
„Meine damals vierjährige Tochter konnte nicht einmal eine Bockwurst von einer Banane unterscheiden.“
Werner Herbig, Techniker, Görlitz
Gerade einmal 2000 Kalorien Tagesverbrauch lagen deutlich unter den 2600 Kalorien, die im Versorgungsplan eigentlich schon für 1950 angestrebt worden waren. »Wenn man mal ein besseres Stück Fleisch haben wollte«, erzählt Werner Hofmann, der damals Lehrling war, »dann musste man schon persönlich mit dem Metzger bekannt sein, damit der einem was zurücklegte.«
Das Deutschland des Jahres 1953 glich einer Waage mit ungleicher Lastenverteilung. Während die drei Westzonen Deutschlands nicht zuletzt dank der Finanzspritzen des Marshall-Planes schon bald die Krisen der unmittelbaren Nachkriegszeit überwunden hatten, hinkte der Osten immer deutlicher hinterher. Ein Grund dafür war, dass sich die künstliche Trennung der Wirtschaftswege durch die deutsche Teilung im Osten stärker bemerkbar machte als im Westen. Im Handel der DDR kam schlichtweg nichts mehr an – es sei denn aus den anderen sowjetischen Satellitenstaaten. Und in denen sah es wirtschaftlich zum Teil noch finsterer aus als in der DDR selbst.
Vor allem aber hatte die Übertragung des stalinistischen Wirtschaftsmodells fatale Folgen. Ohne Wenn und Aber hatte die staatliche Planungskommission der DDR jeden verfügbaren Pfennig in die Schwerindustrie gepumpt und die Fertigung von allem, was den Alltag erträglicher machte – »Konsumgüter«, im DDR-Jargon –, sträflich vernachlässigt. Die Bürger der DDR registrierten kopfschüttelnd, dass Parteiorgane die vielprozentige Steigerung der Stahlproduktion bejubelten, während ihnen zu Hause die Schnürsenkel fehlten. Zudem hielten sich noch immer die sowjetischen Besatzer am Land des ehemaligen Aggressors gütlich. »Die Russen haben uns doch alles weggenommen. Die haben uns doch hinten und vorne ausgebeutet«, ereifert sich der frühere Bauarbeiter Kurt Bluhm noch heute.
„Drüben hatten sie Apfelsinen, wir hatten nichts. Die konnten schöne Reisen machen, wir nicht. Die ganze Bevölkerung war unzufrieden.“
Otto Pfeng, Oberbauleiter, Stalinallee
Noch 1953 wanderte mehr als ein Viertel der Inlandsproduktion der DDR gen Osten. Und zu allem Überfluss verfügten die Russen unter eifrig zustimmendem Nicken der DDR-Führung eine milliardenschwere Aufrüstung gegen die »westlichen Aggressoren«, die die bescheidenen Mittel der DDR auffraß. Bis Mitte 1953 pumpte die Staatsführung umgerechnet zwei Milliarden Mark in Kasernen, Waffen und Ausbildung.
1952 hatten die staatlichen Planer bereits Alarm geschlagen: Der Staat war schlichtweg pleite. Einschneidungen, die fraglos nötig waren, verfügte die SED-Führung ausgerechnet in Bereichen, in denen sie die Bevölkerung am empfindlichsten trafen. So wurde der monatliche Haushaltstag für alleinstehende berufstätige Frauen gestrichen. Und Erschwerniszuschläge für besonders belastende Arbeit? Ab jetzt Fehlanzeige. Abstriche mussten die DDR-Bürger auch in der Gesundheitversorgung hinnehmen. Für Kuren – so sie denn genehmigt würden – musste der Arbeitnehmer nun seinen Urlaub investieren. Das Allheilmittel gegen die leeren Staatskassen schien vor allem die Normenerhöhung zu sein. In regelmäßigen Abständen bejubelten die Parteiorgane, diese oder jene Baustelle oder Fabrikation habe »freiwillig« ihre Produktionsnormen erhöht. Fröhliche Arbeiter lächelten dazu von Wandplakaten und freuten sich, dass sie für ihren besonderen Einsatz beim Aufbau des Sozialismus belobigt worden waren.
Die Freiwilligkeit der Normenerhöhung bestand allerdings in der Regel in einer schriftlichen Zustimmung, nachdem die neue Normhöhe vom örtlichen SED-Funktionär verkündet worden war. Die meisten Arbeiter lebten von den Zuschlägen, die für das Übertreffen der Norm, der Maßeinheit der zu leistenden Arbeit, gezahlt wurden. Vom »normalen« Lohn hätte kaum einer seine Familie satt bekommen. Wurde die Norm erhöht, hieß das: gleicher Lohn für mehr Arbeit!
Bauarbeiter Bernhard Adamski konnte ein Lied davon singen. Er hatte 1953 ohnehin bereits eine 48-Stunden-Woche. »Und wenn es hieß, eine Decke muss angeschüttet werden, durften wir sogar noch eine Sonderschicht einlegen«, erinnert er sich. Da er außerhalb Berlins wohnte, bedeuteten diese Arbeitszeiten, dass sein Tag um fünf Uhr früh begann und erst am Abend endete. »Freizeit gab’s eigentlich nie«, berichtet er. »Nur am Wochenende haben wir mal mit der Dorfmannschaft ein bisschen gekickt. Aber selbst dann war früh Schluss, weil jeder wusste, wann morgens wieder der Wecker klingelte.« Er war dennoch froh, einen Arbeitsplatz zu haben, und dort, wo seine Brigade schaffte, war noch viel zu tun.
In der Stadt lagen acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer ganze Straßenzüge in Trümmern. Nach vier Jahren alliierten Bombenhagels und dem mehrwöchigen Endkampf des Dritten Reiches war die Stadt zu fast 70 Prozent zerstört. Der Wiederaufbau Berlins war eine Sache von Prestige, denn an der Hauptstadt wurde der Zustand der DDR gemessen. Wie ein Seismograph registrierten hier die Beobachter an den Sektorengrenzen, wie es um den »Aufbau des Sozialismus« stand. Im Herzen Ostberlins stampften die Baubrigaden ein Projekt aus den Trümmern, das im Mittelpunkt der Propagandaschlacht um den Wiederaufbau stand: die Stalinallee.
Als »erste sozialistische Straße der Hauptstadt Deutschlands« zog sie sich von Alexanderplatz über den Strausberger Platz in Richtung Osten. Besonders verdiente Parteigenossen und Arbeiter sollten hier mit ihren Familien ein Heim in gigantischen Wohnblocks im monotonen Sowjetstil finden. Kaum ein halbes Jahr zuvor, rechtzeitig zu Stalins Geburtstag am 21. Dezember 1952, waren die ersten Wohnungen fertiggestellt und ihre Übergabe in den höchsten Tönen gefeiert worden. Über tausend Arbeiter waren bei der Errichtung der Prachtmeile beschäftigt gewesen. Die Maurer, Putzer, Schlosser und Zimmerleute der Stalinallee verstanden sich als eine Art Elitetruppe. Immer wieder wurden sie im »Neuen Deutschland« hervorgehoben, als vorbildlich in Engagement und Fleiß.
Dennoch – auch auf der Stalinallee machte sich die Mängelwirtschaft im Jahr 1953 empfindlich bemerkbar. Kurt Bluhm war schon mit 18 Jahren Jungbrigadier geworden. Aber wie seine Kollegen ärgerte er sich jeden Tag aufs Neue über die missratene Planung der obersten Wirtschaftslenker. »Es fehlte doch an allem«, berichtet er. »Es gab weder ausreichend Schippen noch Picken, es gab ja noch nicht einmal richtige Arbeitskleidung. Viele von uns mussten in Holzpantinen zur Arbeit gehen.«
Die Arbeiter erkannten ganz richtig, dass die rigide Normbemessung ein eisernes Korsett war. Oft lag es gar nicht in ihren Händen, ob sie die Norm erfüllen konnten oder nicht. Immer wieder stand die Arbeit still, weil der Nachschub nicht funktionierte, oder aber eine Maschine konnte über Tage nicht eingesetzt werden, da ein benötigtes Ersatzteil einfach nicht zu beschaffen war. »Wenn kein Material kam, haben wir eben über Tage nichts verdient«, ereifert sich Helmut Mücka, der wie Kurt Bluhm als Bauarbeiter auf der Stalinallee arbeitete. Normenerhöhung bedeutete auf der Stalinallee wie überall in der Deutschen Demokratischen Republik schlichtweg, dass die Lohntüte schmaler wurde.
Die Wirtschaftsmisere betraf die ganze DDR – doch am schmerzlichsten empfanden sie die Berliner, in deren Stadt das Wohlstandsgefälle am krassesten zu Tage trat. »Wir hatten doch jeden Tag vor Augen, wie es im Westteil der Stadt aussah«, erinnert sich der damalige Maurerlehrling Günter Mentzel. »Dort gab’s für’n Groschen eine Banane, die war bei uns nie zu sehen. Bei denen kostete die Schokolade 50 Pfennig, bei uns acht Mark. Und Apfelsinen gab’s vielleicht mal zu Weihnachten.«
Volle Schaufenster und die ersten Glanzlichter des beginnenden »Wirtschaftswunders« ließen die dünne Kartoffelsuppe für die Ostberliner umso erbärmlicher erscheinen. Hildegard Nikodemski, die als Stenotypistin bei der Bauleitung der Stalinallee arbeitete, erinnert sich: »Jedes Mal, wenn wir über die Brücke in den Westen gingen, haben wir uns gefragt: Wie ist das möglich? Die haben alles, und wir gucken in die Röhre. Ich musste ein halbes Jahr arbeiten, um mir im Westen ein paar Schuhe kaufen zu können. Bei uns gab’s doch nichts Vernünftiges.«
Und es war nicht nur das kümmerliche Warenangebot, das viele Ostberliner zunehmend frustrierte. Kurt Bluhm ging mit seinen Freunden oft nach Westberlin ins Kino. Direkt hinter dem Grenzübergang Oberbaumbrücke lagen gleich mehrere Kinos hintereinander, die 1953 immer eine Anzahl Cowboy -und Revuestreifen präsentierten. Im Osten dagegen war das Unterhaltungsangebot begrenzt, die biederen Tanzveranstaltungen der Freien Deutschen Jugend waren nicht jedermanns Sache. »Die Buben und Mädchen fein säuberlich auseinander halten, das war das oberste Gebot der FDJ«, erinnert sich die damals siebzehnjährige Erika Sarre. »Das gab’s einfach nicht, dass sich da mal welche in den Arm nahmen oder verliebt zeigten. Saubere Beziehungen, das hatte sich die FDJ aufs Banner geschrieben.« Nicht nur Erika Sarre und Kurt Bluhm fühlten sich zu jung, um sich in das Korsett der Parteiseligkeit pressen zu lassen.
Immer mehr DDR-Bürger entschieden sich dafür, das selbst ernannte Arbeiter- und Bauernparadies zu verlassen und ihren Pass gegen einen bundesdeutschen einzutauschen. Waren es im ersten Halbjahr 1952 noch etwa 70000 gewesen, die der DDR den Rücken kehrten, gingen im zweiten Halbjahr bereits 110000 Menschen. Und den weitaus meisten fiel die Flucht nicht gerade leicht. Neben Hab und Gut ließen viele ihre Freunde, Familien und eine Heimat zurück, von der sie nicht wussten, ob sie sie je wiedersehen würden.
Zu gehen hieß für immer gehen, denn im Mai 1952 machte die SED-Führung die Schotten dicht. Die innerdeutsche Grenze mutierte binnen weniger Monate zur bestbefestigten Staatsbegrenzung Europas. Die Schlagbäume wichen einer fünf Kilometer tiefen Sperrzone, und die Bewohner der Grenzdörfer erfuhren gleichsam über Nacht, dass sie heimatlos geworden waren. Aus der eigentlichen Grenze wurde ein schwer bewachter Kontrollstreifen, den nicht einmal mitteldeutsche Füchse und Hasen unbemerkt passieren konnten. Wie eine hässliche Narbe zog sich die Grenze von Nord nach Süd, teilte das Land, kappte Wirtschaftsbeziehungen und Eisenbahnverbindungen, trennte Familien und Freunde.
Dass dieser Zustand ein dauerhafter werden sollte, befürchteten zwar einige, doch so recht glauben wollte daran niemand. Zu absurd war die Vorstellung, ein Volk wegen unterschiedlicher politischer Konzepte auseinander zu reißen und ihm die freie Entscheidung über diesen Zustand schlichtweg zu verweigern. Der SED-Führung hingegen war klar, wohin der Weg führen sollte. Auf der Sitzung der Ersten Sekretäre der SED am 4. Juni 1952 verkündete Walter Ulbricht unmissverständlich: »Wer sich in diesem Sperrgebiet aufhält, der wird beschossen. Der Grenzpolizist, der sich irgendwie von einer Banditengruppe zurückzieht, wird streng bestraft werden.« Und drohend fuhr der Generalsekretär fort: »Hier in Berlin ist es schon so gewesen, dass eine Gruppe unsere Grenzschutzleute angegriffen hatte. Dafür ist der Betreffende erschossen worden, und wir werden dafür sorgen, dass der betreffende Grenzpolizist extra ausgezeichnet wird, weil er getroffen hat.« Das Protokoll vermerkte: »Beifall«. Da zeitgleich mit dem Grenzausbau der bundesdeutsche Kanzler Konrad Adenauer die Einbindung der Bundesrepublik in den westlichen Machtblock vorantrieb und deren angestrebter Beitritt in die Europäische Verteidigungsgemeinschaft bevorstand, fiel es den Ostberliner Propagandakriegern nicht schwer zu behaupten, die »Spalter« säßen in Bonn. Der »Generalkriegsvertrag«, wie der EVG-Vertrag im SED-Jargon hieß, besiegele mit der Unterschrift Adenauers die endgültige Trennung. Außerdem – war es nicht der Westen, der die ausgestreckten Hände der Ostblockführer ausschlug, der sich taub stellte gegen die Sirenengesänge aus dem Kreml? Immerhin hatte Stalin im Frühjahr ’52 doch eine scheinbar generöse Offerte gemacht.
„Stalin trieb eine Doppelpolitik. Auf der einen Seite hat er 1952 die Welt aufhorchen lassen mit seiner berühmten Note zur Deutschlandpolitik, die die Hoffnung weckte, es könnte eine Einigung in der Deutschlandfrage geben. Auf der anderen Seite fuhr er innenpolitisch einen ganz harten Kurs, und dazu gehörte eben die forcierte Entwicklung hin zum Sozialismus“
Fritz Schenk, DDR-Planungskommission
Die so genannte Erste Stalinnote vom 10. März hatte angeboten, einen Friedensvertrag mit Deutschland zu schließen und eine gesamtdeutsche Regierung bilden zu lassen. Freie Wahlen und die Wiedervereinigung Deutschlands – ein verlockendes Angebot! Die Sache hatte nur einen Haken: Im Gegenzug für dieses generöse Entgegenkommen der Sowjetunion sollte sich Deutschland keinem Militärbündnis anschließen und politisch neutral bleiben. War dies die letzte Möglichkeit, die sich zementierende Spaltung Deutschlands zu verhindern, oder spielte der Diktator im Kreml ein falsches Spiel?
Ob und – wenn ja – wie ernst Stalins Angebot wirklich gemeint war, ist bis heute unter Historikern umstritten. Die bundesdeutsche Regierung unter Kanzler Adenauer jedenfalls hat die Offerte wohl nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Zu sehr war der Zug in Richtung Westintegration bereits ins Rollen gekommen, und der westdeutschen Regierung war zu wenig Handlungsspielraum verblieben. Selbst wenn Adenauer und seine Mannschaft hätten verhandeln wollen – die Amerikaner und wohl auch die Briten wollten dies zu diesem Zeitpunkt nicht, und damit war die Sache erledigt.
„Stalins Angebot vom 10. März 1952 war kein Bluff. Das war ein seriöser Vorschlag. Und das wussten die Westmächte.“
Valentin Falin, sowjetisches Außenministerium
»Der Kreml wünscht, dass der gesamte deutsche Raum ein Vakuum sei, in dem die Sowjets dann dank ihrer geographischen Nähe und ihrer Machtmittel den entscheidenden Einfluss ausüben könnten«, konterte Konrad Adenauer schon einen Tag nach Eingang der »Stalinnote«. Als Antwort boten die Westmächte an, eine UN-Kommission zu entsenden, um die Möglichkeit freier Wahlen in der DDR zu überprüfen. Für alle Beteiligten war klar, dass die Russen eine derartige Überprüfung auf DDR-Gebiet nie zulassen würden.
„Stalin ist im Prinzip bereit gewesen, die DDR zur Disposition zu stellen. Es gibt auch Anzeichen dafür, dass Ulbricht das verstanden und sehr nervös reagiert hat. Ich halte es nach wie vor für ein Versäumnis Adenauers, nicht auf Stalins Angebot eingegangen zu sein.“
Egon Bahr in seiner Einschätzung der Stalinnote von 1952
Auch die zweite sowjetische Note wurde von Bundesregierung und Westmächten negativ beantwortet. Die Entscheidung zur Ablehnung – getroffen auf der Ebene der hohen Diplomatie – stieß innerhalb der Bevölkerung Westdeutschlands teilweise auf Unverständnis. Adenauer habe eine einmalige Chance vertan, schimpfte der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« bezichtigte Adenauer der »Amerikahörigkeit«. Auch in den eigenen Reihen wurde zunächst nicht mit Kritik gespart. Dann aber wich die harsche Kritik der Resignation und schließlich der Zustimmung: Der »Alte« hatte sich der Realität gebeugt, und die bestand in diesen Jahren nun einmal aus dem Willen der westlichen Alliierten.
Nach allem, was die sowjetischen Archive bis heute hergegeben haben, verdichtet sich der Verdacht, dass Stalins »Noten« vor allem eine Propagandaaktion waren, um die Westintegration der Bundesrepublik zu behindern und die Bevölkerung gegen den Kanzler aufzubringen. Stalin selbst ließ durchblicken, dass er gar nicht ernsthaft an eine positive Reaktion aus dem Westen glaubte. Noch während der Verhandlungen wies er die SED-Führung an, die Militarisierung Ostdeutschlands voranzutreiben. Ein Gesamtdeutschland – auch ein neutrales – wäre für die Sowjetunion immer ein Unsicherheitsfaktor an der westlichen Flanke geblieben, und es ist nur schwer vorstellbar, dass Stalin dies zugelassen hätte. Der Westen, so die deutliche Sprache der Offerten, sollte den schwarzen Peter zugeschoben bekommen, die Wiedervereinigung auf dem Altar der Eigeninteressen geopfert zu haben.
Heute sind sich die Historiker weitgehend einig, dass in der Wirklichkeit des Kalten Krieges ein neutrales Deutschland zwischen den Blöcken schon aufgrund seiner Größe – und wegen der NS-Vergangenheit – für keine Weltmacht akzeptabel war. Doch Adenauers Ablehnung der Stalinnoten bot SED-Chef Ulbricht vortreffliches Propagandafutter. »Volksarmee schaffen – ohne Geschrei – pazifistische Periode ist vorbei«, tönte es nun aus Ostberlin. Die Demarkationslinie zu Westdeutschland sei eine »gefährliche Grenze«, die gegen »westliche Aggressoren« abgesichert werden müsse.
„Stalin wollte damit nur die Wachsamkeit des Westens einschläfern, damit er ungestört an der Entwicklung der Wasserstoffbombe und an Raketen arbeiten konnte. Auch der Aufbau des Kommunismus in der DDR diente den Vorbereitungen des Krieges. Das gab Stalin im Beisein meines Vaters zu.“
Sergo Berija, Sohn von Lawrentij Berija
Für all jene, die die »gefährliche Grenze« wegsperrte, zog sich der Klammergriff der Diktatur immer stärker zusammen. Nur wenige Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Tyrannei wurden Meinungsfreiheit und politische Willensbekundung erneut aufgehoben. Ausgerechnet der Staat, der sich den Antifaschismus als höchstes Gut auf die Fahnen geschrieben hatte, verfolgte Andersdenkende mit Methoden, die den in einem Obrigkeitsstaat aufgewachsenen DDR-Bürgern noch allzu gut im Gedächtnis waren.
Seit 1950 »bewahrte« das »Ministerium für Staatssicherheit« die DDR-Bevölkerung vor dem schädlichen Tun »westlicher Saboteure« und »Spione«. Dem Vorbild der sowjetischen Geheimpolizei nachempfunden, bespitzelte das MfS zunächst die wenigen verbliebenen Mitglieder der Blockparteien, um schließlich zu einem Instrument der lückenlosen Überwachung und Kontrolle zu werden. Eine der letzten Untaten Stalins war es gewesen, in allen Satellitenstaaten für einen verschärften Kampf gegen den »inneren Feind« zu sorgen. Im Klartext hieß das, dass die Bevölkerung ausdrücklich zu Spitzelei und Denunziation aufgefordert wurde.
Die Folge war ein Grundgefühl von Misstrauen und Angst vor Verrat, das die DDR-Gesellschaft bis 1989 prägen sollte. Banale Kleinigkeiten konnten vom Nachbarn zum Anlass genommen werden, den Einzelnen in größte Schwierigkeiten zu bringen. Die damalige Rundfunktechnikerin Edith Reglin erinnert sich, dass eine Nachrichtensprecherin bei ihrer Einstellung nicht angegeben hatte, dass ihr Verlobter in Westdeutschland lebte. Ein Kollege bekam es heraus und zeigte sie umgehend an. »Er hatte nicht das Geringste mit ihr zu tun«, empört sich Reglin noch heute, »und er hat trotzdem dafür gesorgt, dass sie entlassen wurde«. Das MfS war das Auge der Regierung auf ein Volk, das seiner eigenen Meinungsäußerung nach und nach entmündigt wurde.
Zwar sah die DDR-Verfassung unmittelbare und geheime Wahlen auf der Basis des Verhältniswahlrechts vor, doch war diese Formulierung reine Makulatur. Die Sitzverteilung im Parlament wurde bereits vor einer Wahl festgelegt und sicherte wenig überraschend der SED die absolute Mehrheit. Angebliche 99 Prozent der Bevölkerung würden bis zum Ende der DDR der »Sozialistischen Einheitspartei« ihre Stimme geben. Valentin Falin vom sowjetischen Außenministerium berichtet heute: »Nach unseren internen Analysen gab es in der DDR nie eine Mehrheit für die SED. Es waren nie mehr als 30 oder 40 Prozent, die wirklich hinter der Partei standen.«
Selbst unter den Mitgliedern der SED waren viele, die ihr Abzeichen nicht unbedingt mit Begeisterung trugen. Erika Sarre, ein siebzehnjährges Mädchen aus Eberswalde, war 1950 der »Freien Deutschen Jugend«, der FDJ, beigetreten. Für sie war die FDJ-Kleidung, wie sie heute unumwunden zugibt, nicht mehr als ein Mittel zum Zweck. »Diese Treffs der FDJ waren eine wunderbare Ausrede, um mal von zu Hause weg zu dürfen«, erinnert sie sich schmunzelnd. Zwar guckte die Mutter nach wie vor streng auf die Uhr, wenn Erika nach Hause kam, aber immerhin war sie ein paar Stunden ohne elterliche Aufsicht. Was bei den FDJ-Treffen tatsächlich besprochen wurde, ist ihr heute kaum noch in Erinnerung. »Man saß da zusammen und hat mal ein Lagerfeuerchen gemacht«, erzählt Erika Sarre, »da wurden dann irgendwelche Problemchen besprochen, und wer da ein praktischer Mensch war – wie ich es sicherlich war –, der wurde dann schwupps Organisationsleiter.« Aber die junge Frau stellte auch fest, dass ihr die Bluse der FDJ eine gewisse Sicherheit verlieh, die sie schon bald nicht mehr missen wollte. »Das war wie eine Art Schutzmantel. Wenn ich in der Bluse irgendwo hinkam, wurde ich schon respektvoller behandelt.«
Gerhard Gleich sah das Ganze ähnlich pragmatisch. Der junge Verkehrspolizist war in die SED eingetreten, weil er befördert werden wollte. »Bei den unteren Dienstgraden kam man noch so durch«, erinnert er sich, »aber ab dem Polizeimeisterrang ging’s nicht weiter, wenn man nicht in der Partei war.«
Im Parteiorgan »Neues Deutschland«, das Tag für Tag kräftig »Volkes Stimme« zitierte, klang alles ganz anders. Jeden Morgen konnten die staunenden Bürger da lesen, wie begeistert sie angeblich am Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft mitbauten und wie erfolgreich sie beim Kampf gegen die wenigen verbliebenen »Saboteure« und »Provokateure« waren. »So ist die Deutsche Demokratische Republik heute ein von stürmischem Leben erfüllter Bauplatz, dessen Entwicklung immer beschleunigter voranschreitet«, schmetterte das Parteiblatt am 9. Juli 1952, »die freigelegte Schöpferkraft unserer neuen Menschen verlangt klare Perspektiven. Sie sind die Baumeister ihres neuen Lebens -sie wollen wissen, wie ihr Haus, an dem sie bauen, aussieht, welcher Geist und Inhalt ihm innewohnen wird.«
An diesem Tag schlug die große Stunde des Generalsekretärs Walter Ulbricht. Auf der II. Parteikonferenz der SED hielt er eine Grundsatzrede, die den Kurs für die kommende Parteilinie vorgeben sollte – und dies auf fatale Art und Weise auch tat. »Wir werden siegen, weil uns der große Stalin führt«, rief er seinem Publikum in der Werner-Seelenbinder-Halle etwas heiser zu. Nach einem schier endlosen Manuskript von zweihundert Seiten, vorgetragen im monoton näselnden Singsang des Sachsen, war seine Rede endlich zu einem Ende gekommen. »Lang lebe unser weiser Lehrmeister, der Bannerträger des Friedens und Fortschritts in der ganzen Welt«, schloss er theatralisch. Er hatte soeben das Programm verkündet, das für ihn das Ziel seines politischen Lebens darstellte: den Aufbau des Sozialismus in der DDR.
Zwar war Walter Ulbricht als Redner alles andere als ein mitreißender Demagoge, diesmal aber sprang der Funke über. »Die Stimmung war unbeschreiblich«, erinnert sich Fritz Schenk, der unter den Zuhörern war. »Dort waren die Funktionäre versammelt, deren Lebenstraum ebendieser Sozialismus war. Jetzt sollte es endlich Wirklichkeit werden.«
Die II. Parteikonferenz und die Verkündung des »Aufbaus des Sozialismus« bestätigte offiziell den Kurs, den die SED schon seit langem gefahren hatte: die Errichtung einer »Westentaschen-Sowjetunion« auf deutschem Boden. Ohne zu hinterfragen, ob das stalinistische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ohne Weiteres übertragbar war, sollten auf deutschem Gebiet »Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften« aus dem Boden schießen, die kümmerlichen Reste der Privatwirtschaft endgültig verstaatlicht und alle verfügbaren Ressourcen auf die Schwerindustrie verlagert werden.
Um die neuen Verfügungen durchzusetzen, wurde zunächst die »Staatsmacht« gefestigt. Ab dem 23. Juli gehörten die »Länder« in der DDR der Vergangenheit an. Brandenburg, Mecklenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen verschwanden von der politischen Landkarte und wichen vierzehn neu festgelegten Bezirken. Landtage und Landesregierungen waren passe. Eine Flut von Verordnungen, Bestimmungen und Einschränkungen prasselte in den folgenden Wochen auf die DDR-Bürger ein. Und wer sich nicht unter das Joch von Zwangskollektivierung und SED-Glückseligkeit zwingen lassen wollte, sah sich mit einer unberechenbaren Rechtsprechung konfrontiert.
Im Sommer 1953 saßen mit über 60 000 Menschen doppelt so viele DDR-Bürger hinter Gittern wie noch ein Jahr zuvor – im Verhältnis zur Einwohnerzahl des Staates eine absurd hohe Menge. Schauprozesse gegen »Saboteure« und »Agenten« schreckten ab und schürten ein beständiges Klima der Angst. »Ulbricht war der Meinung, dass der Sozialismus überhaupt nur totalitär zu errichten und zu erhalten war«, sagt Fritz Schenk heute. »Sozialismus und Freiheit ließen sich nicht vereinbaren. Ohne Diktatur wäre der Sozialismus auseinander gefallen.«
Besonders betroffen waren diejenigen, die in den Augen der SED-Führung ein schädliches Überbleibsel des kapitalistischen Systems darstellten: Kleinunternehmer und Landwirte, die den »freiwilligen Eintritt« in die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die LPG, verweigert hatten. Innerhalb weniger Monate stampften die Behörden in der zweiten Hälfte des Jahres 1952 über zweitausend Genossenschaften nach dem sowjetischen Kolchosprinzip aus dem Boden. Doch die Partei hatte ihre Rechnung ohne den sprichwörtlichen Sturkopf der Bauern gemacht, denen die freie Bewirtschaftung des Hofes, der oftmals schon seit Generationen in Familienbesitz war, viel bedeutete.
„Ulbricht wollte in der DDR ›nach dem Vorbild der KPdSU und der Sowjetunion‹ vorgehen. Die DDR war aber wirtschaftlich und kulturell höher entwickelt als die Sowjetunion. Unsere Erfahrungen einfach zu kopieren, war nicht angebracht, was die Ereignisse des 17. Juni 1953 später auch bewiesen.“
Wladimir Semjonow, sowjetischer Hochkommissar, in seinen Erinnerungen
Willy Jebautzke war während dieser Zeit Referent im Landwirtschaftsministerium der DDR. Wie viele seiner Kollegen wurde er 1952 immer wieder aufs Land geschickt, um den Bauern gut zuzureden und sie von den vermeintlichen Vorteilen der LPG zu überzeugen. »Wir konnten erzählen, was wir wollten«, erinnert er sich, »die haben uns einfach nicht geglaubt. Und wenn wir zu unserem Auto zurückkamen, war die Luft aus den Reifen gelassen worden.«
Zwar hatte der Generalsekretär auf der II. Parteikonferenz die »Unzulässigkeit der Anwendung irgendeines Zwangs gegenüber den Bauern« betont, die Realität sah jedoch anders aus. Wer als Bauer keiner LPG beitrat, erhielt nicht mehr ausreichend Dünger und Saatgut, auch Maschinen standen nicht mehr zur Verfügung. Verhagelte ein Sturm die Ernte oder erfror die Saat im Boden – die Abgabetermine waren trotzdem einzuhalten. Und wenn ein unabhängiger Bauer ein Darlehen beantragte, lautete die Antwort immer häufiger: nicht kreditwürdig. Eine bizarre Rechtsprechung tat ihr Übriges, um den widerspenstigen Landwirten das Leben zu erschweren. So wurde der Fall eines Bauern in Prenzlau dokumentiert, der für fünf Jahre ins Zuchthaus wanderte, weil er aus Krankheitsgründen sein Ablieferungssoll nicht einhalten konnte.
Auch die wenigen verbliebenen Privatunternehmen und Handwerker gerieten nun in die Mühlen des »freiwilligen« Aufbaus des Sozialismus. Der Schriftsteller Erich Loest erinnert sich, dass sein Vater hilflos aufbrauste, als er die Auswirkungen dieses »Aufbaus« am eigenen Leib zu spüren bekam. Vater Loest unterhielt in Chemnitz ein kleines Reinigungsunternehmen und wurde dafür mit dem Entzug der Lebensmittelkarten bestraft. »Wer heute noch für diese Art des Kommunismus ist«, sagte er zu seinem Sohn, »ist entweder ein Verbrecher oder ein Idiot.«
Wie Erich Loests Familie erging es fast zwei Millionen DDR-Bürgern, die ihre Lebensmittel nun zu horrenden Preisen in den Handelsorganisationsgeschäften – kurz HO – kaufen sollten. »Kapitalistische Elemente«, so hieß es am 9. April 1953, hätten kein Recht auf eine Lebensmittelkarte. Änderungen im Steuerrecht trieben überdies zahlreiche Handwerker in den Bankrott.
Es ging aber nicht nur um eine neue Wirtschaftsordnung. Der »neue Mensch«, der der SED-Führung vorschwebte, sollte auch geistig gereinigt sein. Eine Überzeugung, die nach Karl Marx nichts weiter als »Opium des Volkes« war, hatte in der Welt des Sozialismus nichts zu suchen. Nun gerieten Mitglieder und Verantwortliche der christlichen Kirchen ins Schussfeld der Parteiideologen. Die Kirchen in der DDR lehnten die Wiederbewaffnung strikt ab und sträubten sich gegen die materialistische Weltanschauung, die ihrer Meinung nach von SED und Regierung zur Schau getragen wurde. Nun wurde den Kirchen, die bis dahin immer mit staatlichen Zuschüssen hatten rechnen können, der Geldhahn zugedreht. Bücher und Zeitschriften christlichen Inhalts verschwanden aus den Druckereien und Geschäften. Schüler, die sich zu christlichen Jugendgruppen bekannten, mussten ihre Schulen verlassen, Geistliche wurden wegen »Boykotthetze« verhaftet.
Am stärksten sahen sich die Mitglieder der evangelischen »Jungen Gemeinde« der Verfolgung durch die Staatssicherheit ausgesetzt. Im April 1953 erklärte das Innenministerium die »Junge Gemeinde« zur »illegalen Organisation«. Mit den Kirchen sollte in der DDR die letzte nennenswerte Opposition von der Bildfläche verschwinden. Die Diktatur der Partei schien zu triumphieren.
Doch wirtschaftlich wurde die Lage immer brenzliger. Nach den auf der II. Parteikonferenz beschlossenen Änderungen in der Wirtschaftspolitik beschleunigte sich der Niedergang der DDR zu einem erschreckenden Strudel. Der Staat schleuderte der Pleite entgegen. Verzweifelt suchten Ulbricht und seine Genossen nach Wegen, den Niedergang zu stoppen. Allheilmittel schien die Erhöhung der Arbeitsnorm zu sein. Höhere Arbeitsleistung bei gleichem Lohn – das klang logisch in den Ohren der obersten Wirtschaftsplaner der DDR.
Allerdings hatten sie ihre Rechnung ohne die Arbeiter gemacht. Die Appelle zu »freiwilligen« Normenerhöhungen zeigten zunehmend weniger Wirkung. Daher, tönte der Generalsekretär am 14. Mai 1953 auf der 13. Tagung des Zentralkomitees der SED, seien nun »alle erforderlichen Maßnahmen zur Beseitigung des schlechten Zustandes in der Arbeitsnorm« einzuleiten. Und so segnete das Zentralkomitee eine zehnprozentige Anhebung der Arbeitsnormen für die Produktion ab. Der Termin für diese Erhöhung war für viele Arbeiter ein Schlag ins Gesicht. Ausgerechnet zum sechzigsten Geburtstag von Walter Ulbricht am 30. Juni 1953 würden sie die zweifelhafte Ehre haben, dem Generalsekretär die Normenerhöhung zum Geschenk zu machen. Mit der Erhöhung der Normen bewies die SED-Führung in erschreckender Instinktlosigkeit, dass sie jegliche Tuchfühlung mit der Stimmung der Bevölkerung verloren hatte. Bereits im April war es an verschiedenen Orten der DDR zu Arbeitsniederlegungen gekommen. So waren etwa die Jenaer Zeiss-Werke und die Kupferhütte »Wilhelm Pieck« zeitweise in Ausstand getreten. Im Mai hatten die Arbeiter der Werkzeugmaschinenfabrik Berlin sowie die Kumpel im Mansfelder Kupferbergbau gestreikt. Zwar hatte man die erbosten Arbeiter beruhigen können, doch waren die Drohungen deutlich: Wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht besserten, würde man energischer vorgehen. Was die Parteiführung nun aber in stalinistischem Starrsinn verordnete, war eine erneute Verschlechterung.
„Walter Ulbricht schlug alle warnenden und mahnenden Worte in den Wind. Er verhinderte Aussprachen im Politbüro und im Sekretariat. Er wollte die wirklich gefährliche Lage und die Ursachen für diese kritische Entwicklung nicht wahrhaben. Er betrieb geradezu ein Hasardeurspiel. Er wollte keine Korrektur.“
Karl Schirdewan, ZK der SED und »rechte Hand« Ulbrichts, in seinen Erinnerungen
Otto Pfeng, dem Bauleiter auf der Stalinallee, war klar, dass diesmal das erträgliche Maß überschritten war. »Diese Normen waren ausgeknautscht«, sagt er, »die konnten nicht einfach durch fleißigeres Arbeiten gesteigert werden.« Die Baustellen waren wie geschaffen dafür, den Funken der Unzufriedenheit aufglimmen zu lassen und weiterzutragen. Die Bauarbeiter waren selbstbewusst und kannten ihren Wert in Zeiten von Arbeitskräftemangel und Trümmerbergen. Und weil sie wegen oftmals widriger Witterungen für den Winter vorsorgen mussten, waren sie empfindlicher, wenn es ihnen an den Geldbeutel ging. Während sich Industriearbeiter vielfach über ihren Betrieb identifizierten, wechselten die Bauarbeiter ständig ihren Einsatzort. Sie fühlten sich ihrem Beruf und den Kollegen verbunden, waren alle zusammen eben »vom Bau«.
Die DDR-Propaganda hatte das ihrige dazu beigetragen, das Selbstbewusstsein der Maurer, Zimmerleute und Putzer zu stärken. Sie waren es, deren Arbeit im Mittelpunkt der Kampagnen für den Wiederaufbau stand. Auf Plakaten, die fatal an die nationalsozialistischen Aufforderungen für den Reichsarbeitsdienst erinnerten, lächelte dem Betrachter stets ein gut gelaunter Bauarbeiter entgegen und forderte zu freiwilligen Arbeitseinsätzen oder Sonderschichten beim »Nationalen Aufbauprogramm« auf. Wohl gerade deshalb war hier die Enttäuschung darüber, dass die Regierung die Normenschraube noch stärker anziehen wollte, besonders groß. Real würde das Einkommen vieler Arbeiter mit der Normenerhöhung um bis zu 30 Prozent sinken. Ex-Bauleiter Otto Pfeng ist heute der Meinung, dass die Normenerhöhungen nichts anderes waren als eine Verlegenheitslösung des Staates, getreu dem Motto: »Geräte haben wir nicht, Geld haben wir nicht, also verpflichten wir die, höhere Normen zu erfüllen. Womit, das war denen doch völlig wurscht!« Der frühere Bauarbeiter Helmut Mücka pflichtet ihm bei. »Man hat uns behandelt wie Maschinen. Wir sollten mehr arbeiten, mehr arbeiten und noch mehr arbeiten.«
Im ersten Halbjahr 1953 stiegen die Flüchtlingszahlen der DDR in astronomische Höhen. Bis zum Juli sollten mehr als eine Viertelmillion Menschen im Westen um Aufnahme ersucht haben. Auch die zusehends dichter werdenden Bollwerke an der innerdeutschen Grenze konnten das Ausbluten der DDR nicht verhindern, denn noch war ein Schlupfloch frei geblieben: Berlin – die Vier-Sektoren-Stadt im Herzen der DDR. Zwar war seit der Blockade im Jahr 1948 das Telefon- und Straßenbahnnetz zwischen Ost- und Westberlin unterbrochen, doch zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Pkw waren die Sektorengrenzen problemlos zu passieren. Nur gelegentlich kontrollierten Ostberliner Polizisten oder Zollbeamte den Personen- und Warenverkehr zwischen den Ost- und West-Sektoren. Tausende arbeiteten im Westen, wohnten aber im Osten -und umgekehrt. In vielen Portemonnaies steckten West- und Ostmark und wurden je nach Bedarf herausgeholt. Die Grenze zwischen den Blöcken in Berlin bestand im Jahre 1953 in Berlin aus einer lediglich künstlich gezogenen, virtuell gebliebenen Linie, die tagtäglich von Hunderttausenden passiert wurde.
Der Imageschaden für die DDR war immens. Und indem sie gingen, verstärkten die Auswanderer den wirtschaftlichen Niedergang. »Zuerst waren nur die alten Kapitalisten gegangen«, erinnert sich der damalige SED-Funktionär Fritz Schenk, »das war ja von der SED auch so beabsichtigt gewesen. Aber dann gingen die Jüngeren, die eine gute Ausbildung hatten.« Fast die Hälfte derer, die die DDR verließen, war unter 25 Jahre alt und damit für die Wirtschaft des Landes unerlässlich. Etwa 13 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche lag gegen Mitte des Jahres 1953 brach, weil schlichtweg kein Bauer mehr da war, der die Felder bestellte. Die DDR blutete aus – wenn es in diesem Tempo weitergegangen wäre, wäre es nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis die Partei einen Staat ohne Volk verwaltet hätte.
„Das war eine sehr große Enttäuschung für die sowjetische Seele. Nach der Gründung der DDR haben wir gehofft, dass diese neue Republik eine Anziehungskraft ausüben würde auf die Deutschen im Westen. Das war aber nicht der Fall. Die Massenflucht beunruhigte uns zutiefst.“
Sergej Kondraschow, sowjetischer Geheimdienst
Was die SED-Führung nicht sehen wollte, blieb dem »Großen Bruder« nicht verborgen. »Wir haben Ulbricht mehr als einmal darauf hingewiesen«, sagt Geheimdienst-Offizier Sergej Kondraschow. »Wir haben ihm immer wieder gesagt, dass die Unzufriedenheit der ostdeutschen Bevölkerung zu Komplikationen führen würde.« Vitalij Tschernjawskij und seine Kollegen vom Geheimdienst beobachteten mit wachsender Besorgnis, wie das Stimmungsbarometer im »Arbeiter- und Bauernparadies« täglich sank. »Diese Unzufriedenheit der Massen mit der Politik ihrer Regierung wurde immer gefährlicher«, erinnert er sich, »das war wie eine Eiterbeule, die früher oder später platzen musste.«