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2. Zwei Segmente: Bildungsbürgertum und Wirtschaftsbürgertum

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neues Bürgertum

Anders dachten und lebten zwei neu aufkommende Schichten, die schon die Zeitgenossen ebenfalls zum Bürgertum zählten: das Bildungsbürgertum und das Wirtschaftsbürgertum. In dem Maße, in dem sich die ständische Ordnung des Alten Reiches im Laufe des 18. Jahrhunderts verflüchtigte, drängte dieses Bürgertum das überkommende und eher rückwärtsgewandte Stadtbürgertum immer mehr an den Rand. Als fast kometenhaft emporgekommende Aufsteiger zeigte sich das neue Bürgertum höchst dynamisch, brennend vor Ehrgeiz und beflügelt von Selbstvertrauen. Zwar waren auch zuvor schon vereinzelte Vertreter dieser Schicht in Erscheinung getreten, doch erst im ausgehenden 18. Jahrhundert wuchs ihre Zahl und vor allen ihr Einfluss.

Woher kamen sie? Zum Teil entstammten sie durchaus dem alten Stadtbürgertum, vielfach waren sie mit ihm durch Heirat verflochten. Andere kamen von außerhalb. Alle waren sie die Nutznießer evolutionärer Prozesse der neuzeitlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen. Sie waren die Gewinner des Aufschwungs und der Ausdehnung des kapitalistischen Wirtschaftsbereichs ebenso wie der sich durchsetzenden Bürokratisierung mit ihrer zunehmenden Betonung von wissenschaftlicher Ausbildung. Anfangs ergänzten, später verdrängten sie die alte Honoratiorenschicht.

Ungeachtet aller Unterschiede teilten das alte Stadtbürgertum und die Vertreter des neuen Wirtschafts- und Bildungsbürgertums zunächst ihre städtische Verortung und Orientierung, den gemeinsamen Status des „Dritten Standes“ oder auch „Mittelstandes“ im System der überlokalen, ständischen Repräsentation und, damit verbunden, ein Selbstbewusstsein, zu wem man nicht gehörte, nämlich zum Adel, zum katholischen Klerus, zu den Bauern und zu den Unterschichten.

Bildungsbürgertum

Nicht zuletzt aufgrund der zumindest im westeuropäischen Vergleich verzögerten Industrialisierung in Deutschland stand das Wirtschaftsbürgertum lange im Schatten des Bildungsbürgertums, das in den ersten Jahrzehnten des „bürgerlichen Jahrhunderts“ auf deutschsprachigem Territorium den Ton angab. Zum Bildungsbürgertum formierte sich eine Elite mit Universitätsabschluss, die sich aus Beamten und Professoren, Hauslehrern und Gymnasiallehrern, Anwälten und Notaren, Ärzten und Apothekern, Künstlern und Journalisten zusammensetzte. Diese akademisch Gebildeten und unter ihnen besonders die schnell wachsende Zahl der fürstlichen Diener und Staatsbeamten waren „eximiert“, das heißt durch landesherrliches oder staatliches Recht, dem sie direkt unterstanden, von den Gesetzen und Regeln der Städte ausgenommen.

Diese zunächst schmale Schicht der Bildungsbürger entwickelte sich zu einem langsam doch stetig wachsenden Verband, dessen Mitglieder alle ein hochspezialisiertes Leistungswissen mitbrachten. Auf dieser Basis beanspruchten sie die Kompetenz, den entstehenden Aufgaben einer komplexen Modernisierung Herr werden zu können. Schließlich stand eine Fülle von Aufgaben ins Haus: eine Neuordnung des Finanz- und Steuerwesens, die Administration des Heeres, die staatliche Rechtsprechung, die Verbesserung des Schulwesens. Spätestens am Ende des 18. Jahrhunderts beanspruchten Vertreter des Bildungsbürgertums, vor allem im deutschsprachigen Europa, ein zumindest gleichrangiges wenn nicht gar höheres Prestige als das alte Stadtbürgertum und das Wirtschaftsbürgertum. Anders als diese verfügten Angehörige des gebildeten Bürgertums als Teil der bürokratischen Machtelite über direkten politischen Einfluss, halfen mit, politische Entscheidungen vorzubereiten, durchzuführen oder auch zu verhindern. Ihre Karrieren machten sie zunächst in öffentlichen, landesherrlichen, städtischen, landständischen, kirchlichen oder grundherrlichen Diensten; als Staatsbürger kamen sie im Laufe des 19. Jahrhunderts in ein staatsunmittelbares Verhältnis. Sie bezogen relativ hohe Gehälter, genossen Privilegien im Gerichtswesen, im Militärdienst und im Steuerrecht. Als Gegenleistung zu diesen Vorrechten erwartete man von ihrer Seite eine besondere Loyalität, die „Beamtentreue“.

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Beamtentreue

aus: Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung, Nr. 124, 31. Mai 1863.

Unterthänigkeit, Treue und Gehorsam von Beamten ihrem Könige und Herrn eidlich gelobt, ist keine leere Phrase. Die Königlichen Diener haben, außer den jedem Unterthanen obliegenden Pflichten gegen den Landesvater, noch besondere Verpflichtungen gegen Se. Maj. den König freiwillig übernommen. … Auf Grund der versprochenen Treue wird ihnen das Ansehen und die Macht anvertraut, welche der König an der ihnen verliehenen Stelle in seinem Namen ausgeübt wissen will.

Namentlich in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts konzentrierte sich das Bildungsbürgertum auf die staatlich-öffentliche Laufbahn: in der Bürokratie, der Kirche, dem Medizinalwesen, den Universitäten und den höheren Schulen. Unter der Federführung hoher Beamter, allen voran dem Freiherrn vom und zum Stein (1757–1831) und dem Fürsten Hardenberg (1750–1822) wurden zwischen 1807 und 1820 umwälzende Reformen auf Agrar-, Gewerbe-, Bildungs-, Kommunal- und Heeressektor durchgesetzt, die einen wachsenden Beamtenstab notwendig machten.

Seit den 1840er Jahren kamen zu den bürokratischen auch die so genannten „freien“ akademischen Berufe zum Bildungsbürgertum hinzu. Ihren Vertretern und den sich schnell etablierenden Interessenverbänden ging es darum, sowohl verbindliche Richtlinien für die Berufsqualifikation zu verankern als auch den Arbeitsmarkt zu lenken und zu kontrollieren. Das beamtete Bildungsbürgertum schuf und beherrschte die Zugangsschleusen der Gymnasial- und Universitätsausbildung und bestimmte die Leistungskriterien der Universitätsprüfungen und späteren Examina. Es verwundert von daher kaum, dass sich der akademisch gebildete Nachwuchs vor allem aus den eigenen Reihen rekrutierte.

Dass dieses Bildungsbürgertum vor allem in Deutschland innerhalb des Bürgertums so lange die Vormachtstellung beanspruchen konnte, gründete nicht nur in der wirtschaftlichen Rückständigkeit, sondern auch in der herausragenden Bedeutung, die hier der Bildung zugemessen wurde. Dieser besonders erfolgreiche Siegeszug des Bildungsgedankens war auf Engste mit dem Neuhumanismus verknüpft, verbunden mit einer Aufwertung der Antike und der Hinwendung zu ihrer Kultur. Während im Zuge genereller Säkularisierungserscheinungen die Bedeutung von Religion zwar nicht gänzlich schwand, doch verblasste, übernahm Bildung für weite Teile des Bürgertums eine quasi-religiöse Ersatzfunktion.

Vorstellungen, wie diese Bildung hervorgebracht und weitergegeben werden sollte, wurden zum Kernthema der Diskurse der Zeit. Zum bildungsbürgerlichen Credo wurde die Einheit von wissenschaftlicher Forschung und Lehre, ja die gegenseitige Befruchtung und Bereicherung, die Wilhelm von Humboldt (1767–1835) im Rahmen seiner Vorschläge für die Gründung einer Berliner Universität zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschwor:

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Einheit von Forschung und Lehre

aus: Wilhelm von Humboldt: Ueber die innere und äußere Ordnung der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, 1810.

Die Wissenschaften sind gewiss ebenso sehr und in Deutschland mehr durch die Universitätslehrer, als durch die Akademiker erweitert worden, und diese Männer sind gerade durch ihr Lehramt zu diesen Fortschritten in ihren Fächern gekommen. Denn der freie mündliche Vortrag vor Zuhörern, unter denen doch immer eine bedeutende Zahl selbst mitdenkender Köpfe ist, feuert denjenigen, der einmal an diese Art des Studiums gewöhnt ist, sicherlich ebenso sehr an, als die einsame Musse des Schriftstellerlebens oder die lose Verbindung einer akademischen Genossenschaft. Der Gang der Wissenschaft ist offenbar auf einer Universität, wo sie immerfort in einer grossen Menge und zwar kräftiger, rüstiger und jugendlicher Köpfe herumgewälzt wird, rascher und lebendiger. Ueberhaupt lässt sich die Wissenschaft als Wissenschaft nicht wahrhaft vortragen, ohne sie jedesmal wieder selbstthätig aufzufassen, und es wäre unbegreiflich, wenn man nicht hier, sogar oft, auf Entdeckungen stossen sollte.

Bildung geriet zum Kampfbegriff gegen die auf geburtsständische Privilegien pochende Aristokratie, wurde zum vollwertigen und zeitweilig gar höherwertigen Äquivalent zu Adelsprädikat und Kapitalvermögen.

Auf politischem Gebiet zeichnete sich europaweit die Tendenz einer stärkeren Zentralisierung ab. Durch bürokratische und parlamentarische Instanzen wurde Herrschaft zunehmend kontrolliert und damit weniger „absolut“. Das Ziel des Verfassungs- und Rechtsstaats rückte zum Teil sehr nah oder fand zumindest als anzustrebende Zukunftsvision wachsenden Zuspruch. Angestoßen wurden diese Wandlungen vornehmlich vom gebildeten Bürgertum – entweder im Verein mit dem Adel oder auch gegen ihn. Doch unabhängig davon, wie stark die Trägergruppe dieser Aufbruchsbewegung des 19. Jahrhunderts auch mit anderen sozialen Schichten durchsetzt war, trug sie überall eine unverkennbar bürgerliche Handschrift.

Im Laufe des Jahrhunderts nahm die Zahl der Bildungsbürger zwar immer weiter zu, der gesamtgesellschaftliche Einfluss jedoch ging zurück. Auch wenn das Bürgertum als Ganzes am zunehmenden Wohlstand der Gesellschaft des Kaiserreichs partizipierte, ging die innerbürgerliche Schere zwischen Wohlhabenheit und bloßer Saturiertheit immer weiter zuungunsten des Bildungsbürgertums auseinander. Doch auch dieses verlor nicht völlig seine Macht, sondern fächerte sich im Gefolge schnell vordringender und effektiver Professionalisierung weiter nach Berufsgruppen auf. Die staatliche Beamtenschaft gewann an Stärke und Zusammenhalt. Das Schulwesen wurde weiter reformiert und ausgebaut, Universitäten eröffneten einen immer wichtigeren Aufstiegsweg ins Bürgertum. Eben ihre Erziehung und Ausbildung führten Beamte und Akademiker ins Feld, um neue Ansprüche und Forderungen durchzusetzen.

Wirtschaftsbürgertum

Über sein Kapitalvermögen hingegen definierte sich das zweite Segment des Bürgertums, das Wirtschaftsbürgertum. Es umfasste zunächst die Besitzer und Direktoren großer Wirtschaftsunternehmen, der Verlage, Manufakturen und Bergwerke, der Groß- und Fernhandelshäuser, der Transport- und Bankunternehmen und der frühen Fabriken. Häufig waren sie, vor allem in Mitteleuropa besonders aber in Osteuropa, als Gründer oder Leiter der neuen Unternehmen durch Eingriffe der Regierung, durch fürstliches oder königliches Privileg von den Vorschriften der zünftig geregelten städtischen Wirtschaft ausgenommen. Zwar verdienten auch sie ihren Lebensunterhalt wie die Mehrheit des alten Stadtbürgertums durch Handel und Gewerbe, doch die Dimensionen ihrer Unternehmungen reichten weit über dessen Möglichkeiten und Vorhaben hinaus. Entsprechend aufwändiger zeigte sich ihr Lebensstil, entsprechend hochfliegender waren ihre Zukunftsträume. Wollten sie im Wirtschaftswettbewerb bestehen, mussten sie über den Tellerrand der städtischen Kleinwelt mit ihrem traditionellen Ordnungsdreieck von Zunft, Brauch und Moral hinausblicken.

Auch wenn dieses neue Wirtschaftsbürgertum europaweit in Erscheinung trat, zeigte es sich doch örtlich, je nach Stand und Fortschrittstempo der Industrialisierung, unterschiedlich stark verankert. Kreise dieser häufig auch als Bourgeoisie bezeichneten Schicht, die in London, Liverpool, Paris, Lyon, Bordeaux oder Amsterdam aufgrund der dort früher in Gang gekommenen Industrialisierung bereits im ausklingenden 18. Jahrhundert fest etabliert waren, ließen sich mit Beginn des 19. Jahrhunderts nun auch in Hamburg, Leipzig, Breslau, Frankfurt, Danzig, Bremen oder Augsburg nieder, ohne dass sie dort vor der Jahrhundertmitte eine vergleichbare Macht beanspruchen konnten.

Doch im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts mit dem Durchbruch des industriellen Kapitalismus wendete sich das Blatt. Leistungsfähigkeit und Risikobereitschaft der Unternehmer trugen erheblich dazu bei, dass das Kaiserreich zur stärksten Industriemacht auf dem europäischen Kontinent werden konnte. Hinzu kam, dass diese erfolgreichen Unternehmer jetzt in der Regel ein höheres Bildungsniveau aufwiesen als ihre Kollegen noch einige Dekaden zuvor. Ein Großteil der Unternehmersöhne hatte das Gymnasium durchlaufen und viele noch dazu ein Hochschulstudium absolviert. Bildungsbürgerlicher Dünkel gegenüber den ungebildeten Parvenüs war nun häufig fehl am Platz.

Die Unternehmer in dieser Zeit waren jetzt nicht mehr Einzelkämpfer, sondern in weiten Teilen bereits international agierende networker, einige gar frühe global player. Häufig organisiert in einflussreichen Interessenverbänden übten sie zunehmend Einfluss auf Verwaltung und Politik. Einige, frisch nobilitiert, gingen sogar bei Hofe ein und aus, gehörten zum inneren Zirkel der obersten Macht im Kaiserreich.

Zwischen Bildungsbürgertum und Wirtschaftsbürgertum lässt sich demnach eine Bedeutungsverschiebung im Laufe des 19. Jahrhunderts beobachten: Zeigten sich zu Beginn eindeutig die Bildungsbürger federführend, verloren sie in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht nur das Bildungsmonopol, sondern auch gesellschaftlichen und politischen Einfluss.

Blütezeit des Bürgertums

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