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3. Einheit in der Vielfalt: Kultur als Klammer

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Idee der „Bürgerlichen Gesellschaft“

Gemeinsam verstanden sich Bildungs- und Wirtschaftsbürger als Trägerschichten der als Leistungsgesellschaft konzipierten „bürgerlichen Gesellschaft“. Mit gutem Grund: Schließlich waren sie es, die neben dem Prinzip der individuellen Leistung auch andere Vorstellungen dieses neuen, in den Studierstuben aufklärerisch gesinnter Meisterdenker erdachten Gesellschaftsmodells aufgriffen, für sich annahmen und verbreiteten. Ständische Ungleichheit und absolutistische Staatsgewalt waren die Hauptangriffspunkte. Vordenker war der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724–1804). Er forderte, ganz im Geiste der Urväter des Gedankens, eine Gemeinschaft freier und formal gleicher Bürger, denen der „Ausgang“ aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gelungen war.

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Wahlspruch der Aufklärung

Aus: Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: Berlinische Monatsschrift 1783, S. 481–494, S. 481 u. 484.

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. … Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.

Vor allem die anti-adlige, anti-absolutistische Stoßrichtung, die hier mitschwang, stieß auf ein bürgerliches Echo, verkündete sie doch den Abschied von geburtsständischen Privilegien, obrigkeitsstaatlicher Gängelung und klerikalem Deutungsmonopol. Dagegen setzte das Bürgertum die Vision einer von Vernunft, Individualität und Humanität bestimmten Gesellschaftsordnung, in der die staatliche Macht im Sinne des liberalen Rechts- und Verfassungsstaats einerseits begrenzt und andererseits über Öffentlichkeit, Wahlen und Repräsentationsorgane den Einflüssen des mündigen Bürgers unterstand. Ein neues Verhältnis zum Gestern, Heute und Morgen setzte sich durch. Bislang bindende Traditionen wurden überdacht, gewendet, gebrochen und verworfen. Nicht mehr das „Schicksal“ bestimmte in den Augen des Bürgertums seine Gegenwart und Zukunft; allein persönliche Tatkraft machte den Bürger zum Herrn seiner selbst.

Und zum Herrn seiner Gesellschaft. 1851 schrieb der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) in seinem mehrfach aufgelegten Bestseller „Die bürgerliche Gesellschaft“: „Viele nehmen Bürgertum und moderne Gesellschaft für gleichbedeutend. Sie betrachten den Bürgerstand als die Regel, die anderen Stände nur noch als Ausnahmen, als Trümmer der alten Gesellschaft, die noch so beiläufig an der modernen hängen geblieben sind.“ Dieser Bürgerstolz beseelte viele seiner Zeitgenossen. Was in Augustinus Gottesstaat schon angeklungen war, sollte, so erwartete es auch der schottische Historiker Adam Ferguson (1723–1816), in der bürgerlichen Gesellschaft Vollendung finden.

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Bürgerliche Gesellschaft

aus: Adam Ferguson: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, hg. u. eingeleitet von Zwi Batscha u. Hans Medick, Frankfurt a. M. 1986, S. 172 (1. Aufl., Edinburgh 1767).

Der Mensch ist von Natur aus Glied einer Gemeinschaft. Betrachtet man das Individuum in dieser Eigenschaft, dann scheint es nicht mehr für sich selbst geschaffen zu sein. Es muß auf sein Glück und seine Freiheit verzichten, wo diese dem Wohl der Gesellschaft widersprechen. … Wenn also das öffentliche Wohl Hauptzweck der Individuen ist, so ist doch in gleicher Weise wahr, daß das Glück der einzelnen der große Endzweck der bürgerlichen Gesellschaft ist: denn in welchem Sinne kann eine Öffentlichkeit irgendein Gut genießen, wenn ihre Glieder, einzeln betrachtet, unglücklich sind? Allerdings sind die Interessen der Gesellschaft und die ihrer Glieder leicht zu versöhnen. Wenn das Individuum der Öffentlichkeit jede nur mögliche Rücksichtnahme schuldet, so wird es, indem es diese Rücksichtnahme erweist, auch des größten Glücks teilhaftig, dessen es seiner Natur nach fähig ist. Die größte Wohltat, welche die Öffentlichkeit ihrerseits ihren Mitgliedern erweisen kann, besteht darin, sie mit sich verbunden zu halten. Derjenige Staat ist der glücklichste, der von seinen Untertanen am meisten geliebt wird, und die glücklichsten Menschen sind die, deren Herzen sich für eine Gemeinschaft engagieren, in der sie jeden Antrieb zu Großmut und Eifer finden und einen Spielraum zur Betätigung jedes ihrer Talente und jeder ihrer tugendhaften Anlagen.

Großherzig und großspurig zugleich war die Vorstellung, dass der eigene Wertehimmel und Gesellschaftsentwurf über die Grenzen der eigenen sozialen Schicht ausstrahlen sollte, dass auf Dauer alle, unabhängig von Stand und Geschlecht, an den Wohltaten der „bürgerlichen Gesellschaft“ partizipieren sollten. Selbstbewusst verhehlten die bürgerlichen Architekten dieses Programms aber auch nicht, dass sie in dieser Gesellschaft die Führung beanspruchen.

Es war ein neues, weit weniger starres Weltbild als das des Ancien Régime, das diese Ideen überwölbte. Und es war ein durch und durch optimistisches Programm – mit zweifellos utopischem Anstrich. Dennoch drang der Kern des Ideals bis ins Alltagsleben des Bürgertums vor und geriet zur Klammer dieser in vielen Bereichen so zerfaserten Gesellschaftsformation. Es erwuchs daraus ein Ensemble von den Lebensstil prägenden und die Wirklichkeit deutenden Werten und Vorstellungen, mit anderen Worten: eine spezifische „bürgerliche Kultur“, die die Welt eines Hamburger Kaufmanns, eines Berliner Bankiers, eines Oldenburger Rechtsanwalts und eines Heidelberger Professors im Innersten zusammenhielt.

bürgerliche Kultur

Zu den Mosaiksteinen dieser „bürgerlichen Kultur“ gehörte eine positive Grundhaltung gegenüber selbstbestimmter, eigenverantwortlicher, regelmäßiger Arbeit und – damit eng verbunden – Tugenden wie Fleiß und Sorgfalt, die Pflichterfüllung im beruflichen und privaten Alltag, die Neigung zur durchdachten Lebensführung, zum Tagesrhythmus nach dem Stundenplan, die Betonung von Erziehung und Bildung, eine empathisch-emphatische Beziehung zur Welt der Kunst, Respekt vor der Wissenschaft und nicht zuletzt die Konzeption und weitgehende Realisation eines spezifischen Familienideals. Auf Neigung gegründet und durch Liebe verbunden, in Absetzung von Wirtschaft und Politik, sollte die Familie danach eine Gegen- und Komplementärwelt bilden, einen durch auskömmliches Einkommen des männlichen Familienoberhauptes und Dienstboten freigesetzten Raum der Muße für Frau und Kinder, einen Ruhehafen im rastlosen Getriebe der bürgerlichen Leistungsgesellschaft, die sie selbst durch die Erziehung der kleinen Bürgerinnen und Bürger immer aufs Neue herzustellen half. Eine dort erworbene „gute Kinderstube“ im Rücken rüstete, neben dem gesicherten finanziellen Hintergrund, für das erfolgreiche Mitwirken auf der bürgerlichen Bühne, versorgte mit den notwendigen Spielregeln und Requisiten, die sich in einer bunten Palette symbolischer Formen äußerten: in Tischmanieren und Begrüßungsritualen, in Anredeformen und Konversationsregeln, in Konsumpraktiken und Kleiderordnungen.

Die Familie war einer der Hauptschauplätze, an denen die „bürgerliche Kultur“ geprägt und gepflegt, gefördert und befördert wurde. Hinzu kam ein vielfältiges Vereins- und Assoziationswesen, das dem Bürgertum Wegweiser zur Wirklichkeitsorientierung und Sinnstiftung bot. Das galt auch für die regelmäßigen Besuche von Kultstätten und Kulturinszenierungen. Auf dem sonntäglichen Spaziergang zu Nationaldenkmälern, im Konzert, Theater oder im Museum traf das Bürgertum auf seinesgleichen, die durch Hutlüften, Handschlag und dezentes Kopfnicken gewürdigt wurden. Und nicht zuletzt dienten die vielfältigen Erzeugnisse der Presse als Foren bürgerlicher Selbstverständigung. In der Flut von neu aus der Taufe gehobenen Zeitungen, Zeitschriften und Journalen wurden die kulturellen, politischen und sozialen Normen der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt, verkündet und zur Diskussion gestellt.

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