Читать книгу Der Soldat, den niemand haben wollte - Gunnar Walter Richter Johansen - Страница 6

Kapitel 2

Оглавление

Am nächsten Tag gab es genauso viele Gerüchte wie Soldaten. Die Diskussion am Tisch war sehr erregt. Ein Mann aus Elsass-Lothringen meinte, er würde wohl als nächster nach Hause geschickt werden, da er Bergmann sei. Denn er hatte gehört, dass die Kohlegruben als Erstes wieder in Gang gesetzt werden sollten. Außerdem war er – genau wie der Rucksackkumpel – kein Deutscher. Andere wussten zu berichten, dass sie von nun an wohl mit denselben Rationen auskommen mussten, die die russischen Gefangenen bekommen hatten. Und sie stopften ihre Rucksäcke voll mit Feldrationen und anderem Essbarem, das sie zur Seite geschafft hatten.

Als die Scheinwerferstellung Nr. 6 zum letzten Mal bei Steinan antrat, gab es auch nicht sehr viel mehr Informationen. Der Kapitänleutnant gab mit lauter Stimme seine Befehle. Die Scheinwerferspezialisten der Abteilung sollten zur Demontage der Anlage noch zurückbleiben, alle anderen hingegen sollten sich als Gruppe zum Hafen in Trondheim begeben. Von dort sollte sie ein Schiff ein Stück in Richtung Orkanger bringen, wo die Abteilung interniert werden sollte. Sämtliche Soldaten sollten ihre Gewehre behalten. Außerdem sollte die Abteilung ein Maschinengewehr mit 100 Schuss mitführen.

Walter hatte ein paar Konservendosen Schweinefleisch und eine Dose Kunsthonig. Diese packte er ganz unten in seinen Rucksack. Nach den vier Jahren des Soldatendaseins kamen diese Dosen fast Gegenständen persönlichen Eigentums nahe. Abgesehen von Gerds Foto besaß er nichts, was nicht der Marine gehört hatte. Das sollte jetzt vielleicht bald anders werden. Obwohl er kein Bergmann war, würde auch er eines Tages nach Hause kommen. Zum Glück gab es noch mehr Frauen als Gerd. Lotte war stolz gewesen auf ihre Jungfräulichkeit in jenem Sommer 1943, als er zu seinem einzigen Heimaturlaub in Schwarzheide war. Zusammen waren sie zum Fluss hinunter gegangen und hatten sich in der Sonne geaalt. Eine Art Nest hatten sie sich gebaut in dem hohen Schilf, aber obwohl niemand sie sehen konnte und Walter alle Register gezogen hatte, hatte Lotte ihre Jungfräulichkeit bewahrt. „Warte, bis du nach Hause kommst, Walter“, sagte sie und knöpfte ihre Bluse zu. Ja, nun sollte er sich bald auf den Heimweg machen.

Die Scheinwerferstellung Nr. 6 marschierte in Reih und Glied hinunter nach Trondheim. Die stählernen Schuhbeschläge scharrten über den Schotterweg im Steindalsveien und die Rucksäcke baumelten seitlich von den grauen Soldatenrücken herunter. Walter musterte die Stiefelhacken seines Vordermanns: oben blank geputzt, unten dreckig. Wie weit konnte ein Soldat eigentlich zu Fuß marschieren? Falls seine Eltern, der Großvater und nicht zuletzt Lotte zu Hause in Schwarzheide gewartet hatten, könnte er es dann schaffen, bis dorthin zu Fuß zu gehen?

Der Helm wurde immer schwerer. Jedes Mal, wenn der Kinnriemen verrutschte, löste sich der Helm und schlug leicht gegen den Kopf. Das ärgerte Walter zunehmend. Er hatte richtig Lust, den Helm abzureißen und ihn ganz weit weg zu schleudern, so wie er es mit den Magazinen kurz vor dem Abmarsch getan hatte. Immer musste man etwas schleppen. Maschinengewehre, Munitionskisten, Benzinkanister. Falls jemand einmal fragen würde, was er im Krieg gemacht hatte, würde er antworten: Ich habe geschleppt. Auf keinen Fall jedoch würde er den verdammten Helm weiterhin schleppen Er schob das Kinn vor, löste den Riemen, zögerte einen Augenblick und warf den Helm in hohem Bogen in den Straßengraben. Alle hatten es gesehen, aber niemand sagte etwas. Nicht einmal Hack, der ganz hinten ging. „Alle deutschen Einheiten haben heute kapituliert, das gesamte deutsche Kommando steht unter alliiertem Oberkommando.“ Auch ihm war es nun scheißegal. Der Krieg war wirklich zu Ende. Nun nahm einer nach dem anderen seinen Helm ab und warf ihn fort. Ein Bild tauchte in Walters Erinnerung auf. In der dritten Klasse saßen seine Mitschüler und er mit Lehmklumpen in der Hand in der „Weltlichen Schule“ und drückten sie mit ihren Händen wie einen Schneeball zusammen, ohne zu wissen, was sie daraus formen sollten. Plötzlich begann einer der Schüler, daraus einen flachen, runden Kuchen zu machen. Dann drückte er eine Vertiefung hinein und zeigte allen das Ergebnis – einen Aschenbecher sollte das darstellen. Die anderen taten es ihm gleich.

Als sie in die Nähe von Singsaker kamen, waren immer mehr Menschen zu sehen. Vor allem neugierige Kinder. Etliche Fahrradfahrer verweilten kurz, stützten das eine Bein auf den Rahmen und betrachteten dabei die vorbeimarschierenden Soldaten. Walter schaute auf die Häuser zu beiden Seiten der Straße. Hinter den Lattenzäunen wurde jeder Quadratmeter Erde zum Anbau von irgendetwas genutzt. Was für Menschen wohnten in diesen Häusern? In einem solchen Haus hatten auch die Eltern von Reidun und Anne gewohnt. Walter und Hans waren dort mehrmals zum Essen eingeladen gewesen. Reidun war Frontschwester und sprach perfekt Deutsch. Ihr Vater war eifriger Quisling-Anhänger und hielt während des Essens politische Vorträge, während Walter an den richtigen Stellen Ja sagte und Reidun unter dem Tisch leicht an der Wade berührte. Mit Reidun war es nie etwas geworden, ohne, dass er eigentlich wusste, warum. Vielleicht hatte ihm die Schwester besser gefallen? Der Vater hatte heute – im Gegensatz zum Rest der Stadt – nicht geflaggt. Nun ja. Walter und Hans hatten dort auf jeden Fall viel gutes Essen bekommen.

Walter hoffte, es würde keine Auseinandersetzung mit den bewaffneten, Armbinden tragenden Norwegern geben, die an den Ecken standen. Ihm schien, dass sie sich etwas zurückzogen, und war froh. Sie konnten ja gerne sein Maschinengewehr und die leeren Magazine bekommen, wenn er dafür nur schnell nach Hause käme. Unten am Kai im Strandveien lagen mehrere deutsche Frachter, von denen einer die für das Internierungslager in Orkanger vorgesehenen Soldaten aufnehmen sollte. Erst spät am Abend war das Schiff beladen, und es galt, einen Schlafplatz zu finden. Walter kroch hinunter in den Laderaum und fand eine Ecke, in der Schiffssäcke gefüllt mit Kleidung lagen. Er öffnete einen der Säcke und fand Hunderte zusammengepresste Matrosenschals. Der einzige Nutzen, den sie für einen deutschen Soldaten noch hatten, war der einer Schlafunterlage.

Walter wachte erst am nächsten Tag auf, hatte weder das Auslaufen aus Trondheim noch das Festmachen in Thamshamn mitbekommen. Am Kai wartete ein LKW, der einen Teil der Feldausrüstung mitnahm. Die Soldaten durften weiterhin ihre Gewehre tragen, als sie antraten, um zum Marsch nach Orkanger aufzubrechen.

Nach einigen Stunden Fußmarsch, kamen sie im Internierungslager Orkanger an. Eigentlich waren es zwei Lager, die zwischen Fluss und Straße in ca. 100 Meter Entfernung voneinander lagen. Jedes Lager hatte einen Sportplatz mit vier Baracken darum. Jedes fasste knapp 300 Mann und war schon voll besetzt, als die Scheinwerferstellung Nr. 6 ankam. Walter und seine Kameraden mussten also ihre Zelte aufbauen, auf einem frühlingsgrünen Rasen, genau neben der vorbeibrausenden Orkla. Hack leitete die Arbeit mit genau derselben lauten Stimme wie in alten Tagen. Als es an das Austeilen der Päckchen mit Seife, Rasierklingen, Zahnpasta, Schuhcreme und Bürste ging, stellte sich heraus, dass für die 13 Soldaten nur 12 Pakete da waren. Hack übersprang Walter und teilte ihn obendrein zum Postendienst für die erste Nacht ein. Was sollte er dazu noch sagen? Man konnte den Bogen auch überspannen. Aber man wusste nicht, wo der Leiter des Internierungslagers zu finden war, ein über Nacht zum Leutnant ernannter Fähnrich.

Nach den ersten Nächten im Zelt gab es für die Scheinwerferabteilung Nr. 6 Platz in einer der Baracken in Lager I. Die Verpflegung während der Tage im Zelt war recht gut, denn alle kramten ihre verborgenen Leckerbissen hervor. Mit dem Umzug in die Baracke war es dann im Grunde auch vorbei mit den Leckerbissen, man war wieder bei der unverwüstlichen Nudelsuppe und bei Kommissbrot. Jeden Morgen bekam Walter seine Ration, die aus 20 bis 30 Gramm Schweinefleisch, 1 Liter Nudelsuppe und Kaffee-Ersatz bestand. Dazu gab es ein Kommissbrot, das man sich mit acht Mann teilen musste. Walter schlief mit weiteren 20 Mann in einem Raum. Die Männer in den acht Kojen, die längs der Wand standen, teilten sich ein Brot. Für das Aufteilen war Hans verantwortlich. Jede Scheibe Brot sollte möglichst genau 2,5 cm messen, Hans selbst bekam der Gerechtigkeit halber die letzte Scheibe.

Walter konnte selbst bestimmen, wann und wo er essen wollte. Oft stellte er sich seine Mutter mit dem Brotbrett zu Hause in Schwarzheide vor. Die guten Jahre vor dem Ausbruch des Krieges, als es an nichts gefehlt hatte. Die Brotscheiben waren damals dick und groß, beschmiert mit reichlich geronnenem Fett, mit Salz und Pfeffer obendrauf. Es kam auch vor, dass Otto zur Sahneschüssel schlich, nachdem Frida schon im Bett lag, und sich ein paar Mundvoll genehmigte. Das Sahneschlürfen seines Vaters und die Brotscheiben waren im Grunde sein Symbol des Wohlstandes. Jetzt hätte Walter gern zwei bis drei von diesen Brotscheiben zum Frühstück gehabt. Stattdessen saß er oft mit 20 Mann im Nebenzimmer der Küche, wo sie ein sogenanntes „Athletenfrühstück“ einnahmen: eine Tasse Muckefuck und ein paar Zigaretten.

Die Soldaten bewachten das Lager selbst, ausgerüstet mit zehn K98-Karabinern und zehn Schuss für jedes Gewehr. Diese fast symbolische Bewaffnung war ein letzter Überrest des Krieges. An die Stelle des Exerzierens trat nicht minder langweilige Arbeit. Der Leutnant hatte entschieden, dass das Gelände zwischen den Baracken aufgeräumt und zu einem besseren Sportplatz umgestaltet werden sollte. Alle Soldaten bekamen Hacken und Spaten und sollten arbeiten. Die Arbeitslust war nicht gerade überwältigend und Walter arbeitete sich zusammen mit ein paar anderen langsam um die Ecke. Nach einer Viertelstunde waren nur etwa fünf bis sechs der eher Vorsichtigen zurück am Arbeitsplatz. Als der Leutnant das mitbekam, brüllte er: „Antreten!“ Die Soldaten hasteten aus den merkwürdigsten Verstecken hervor. Nach alter Gewohnheit stellten sich alle fein säuberlich in Reih und Glied auf. Der Leutnant schaltete seine Donnerstimme ein und wetterte los, als ob es ihre Schuld gewesen sei, dass Deutschland den Krieg verloren hatte. „Rechts um, im Laufschritt marsch!!“ Alle drehten sich um und machten ein paar Laufschritte, dann verfielen die vordersten ins Schritt-Tempo und blieben schließlich ganz stehen. Plötzlich begannen sie, laut zu pfeifen und zu buhen. Ermutigt von dem spontanen und unorganisierten Protest, brüllte eine gut in der Menge verborgene Stimme: „Jetzt ist aber Schluss, verdammt noch mal! Scher dich zur Hölle mit deinem Drill!“ Walter konnte den Rufer nicht ausmachen, freute sich aber, dass einer den Mut aufgebracht hatte. Das war wie ein anonymer Brief, in dem man dem Empfänger eine unangenehme Wahrheit mitteilte. Und der Rufer konnte sich in der Menge hinter einem breiten, grauen Soldatenrücken wohl recht sicher fühlen. Der Leutnant wurde knallrot im Gesicht. Im ersten Augenblick wollte er wohl etwas sagen, schluckte es dann aber buchstäblich hinunter und stampfte ins Büro zurück. Der Platz wurde dann zwar doch aufgeräumt, aber nur, weil die Soldaten Fußball spielen wollten. Mit irgendetwas mussten sie ja die Zeit rumkriegen. Und wer wusste, wie lange sie hier bleiben würden.

Die Tage im Lager glichen sich mit der Zeit immer mehr. Walter schickte einen Brief nach Hause – über einen Kameraden, der Ende August entlassen wurde. Das Heimweh nagte an ihm. Über seinem Bett machte er für jeden Tag ein Kreuz und konnte lange vor den Reihen mit den Kreuzchen sitzen und sich über alle bereits verstrichenen Tage freuen. Irgendwann würden es genug Kreuzchen sein, so dass er nach Hause fahren konnte. Die Kreuzchen waren direkt mit seiner Freiheit verknüpft. Käme er nach Hause, wäre Schluss mit der Ungewissheit. Er wusste ja einiges, und manches konnte er sich denken. Er wusste, dass vieles zerbombt und zerstört war. Aber was sollten sie ausgerechnet in Schwarzheide zerbomben? Die Brikettfabrik?

Als er an einem schönen Sommerabend des Jahres 1943 mit der Fähre von Warnemünde nach Trelleborg gefahren war, stand auf dem Achterdeck ein Soldat. Plötzlich, erinnerte sich Walter, begann dieser Soldat laut und herzzerreißend zu weinen. Walter sah den kräftigen Jüngling noch deutlich vor sich, wie er den Kopf beugte mit zitternden Schultern. Da kam ein Offizier hochgelaufen und rief: „Bringt den Mann unter Deck!“ Der Soldat richtete sich auf, schaute an dem Offizier vorbei und sagte leise: „Verzeihen Sie, ich musste gerade an meine Eltern denken. Sie sind vor kurzem bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Verzeihen Sie mir.“ Nun war es wenig wahrscheinlich, dass Schwarzheide bombardiert worden war, aber schließlich hatte er zwei Brüder im Krieg. Wie war es ihnen ergangen? Oder den Schwestern? Gitta war ja erst sieben Jahre alt, sie würde wohl jetzt zur Schule gehen. Hatte die Familie die kleinen Pakete erhalten, die er nach Hause geschickt hatte? Sogar ein kleines Fässchen Heringe hatte er geschickt. Es würde vielleicht noch fünf oder gar zehn Reihen mit Kreuzchen dauern, bis er etwas von zu Hause hören würde. Die Rückkehr nach Hause wirkte fern. Sehr fern.

Die Scheinwerferstellung Nr. 6 ging nun in der Menge der anderen Soldaten unter, und am meisten Freude bereitete es Walter, wenn sie in kleinen Grüppchen vor der Baracke saßen und einfach nur erzählten. In der Regel wurden Episoden und unglaubliche Geschichten erzählt. Einige davon konnten unmöglich wahr sein, aber das machte nichts. Es machte trotzdem Spaß zuzuhören. Einmal hatte Hans den Kameraden einen Bären aufgebunden und beim Frühstückstisch behauptet, dass alle Soldaten kahl geschoren werden sollten. Das sei eine Verordnung der Alliierten, von der Hans über einen Mitarbeiter des Leutnants zufällig Wind bekommen habe. Um den Tisch herum wurde es still und ein Bayer fuhr sich unwillkürlich mit den Fingern durchs Haar. Walter musste sich darauf konzentrieren, nicht zu lachen. Keiner konnte mit so einer Überzeugungskraft schwindeln wie Hans.

Als einer der Jüngsten hielt Walter sich etwas im Hintergrund. Erstens hatte er nicht so viel zu erzählen, zweitens gab es genug andere, die sich produzieren wollten. Walter zog es mehr auf den Fußballplatz. Er genoss es, an der Informationstafel seinen Namen unter den elf Spielern der Lager-Auswahl zu finden. Neben der winzigen lokalen Ehre, bedeutete der Platz in der Auswahl auch eine extra Portion Nudelsuppe. Und die konnte er gut gebrauchen. Eine Zeit lang war es unsicher, ob die Fußballspiele weitergehen konnten. Wenn Lager I gegen Lager II spielte, standen ungefähr 100 Zuschauer am Spielfeldrand, die jedoch einen Lärm für 1000 machten. Das freie Rufen und Anfeuern war ein neues und herrliches Gefühl. Es war nicht einmal der Enthusiasmus für eine der Mannschaften – nein, das laute Brüllen rührte ganz einfach von der vagen Erwartung einer besseren Zukunft her, von der Erleichterung, dass man daran teilhaben durfte. Nicht einmal ein großer Aushang im Lager vermochte es, dem Fußballlärm Einhalt zu gebieten. Einmal konnte man lesen, dass der Lärm die Einwohner des Ortes störte, und die Zuschauer wurden aufgefordert, sich zu beruhigen. Was zum Teufel hatten die Deutschen zu bejubeln? Darüber stand zwar nichts auf dem Aushang, man spürte es dennoch deutlich.


Fußballspiel in Orkanger

Das Varietétheater am Samstagabend war der absolute Höhepunkt der Woche. Für eine kleine Weile fühlte man sich dem Lager entrückt. In einer der Baracken hatte man eine Bühne aufgestellt und Platz geschaffen, so dass der Großteil der Soldaten in den Raum hineinpasste. Einige besonders Geschickte von ihnen hatten sich mit der Ausgestaltung der Bühne große Mühe gegeben. Vom Querbehang über der Bühne bis zu seitlichen Bühnenvorhängen, war an alles gedacht. An die Wand hatte man zwischen Klavier und Schlagzeug die ersten Strophen des Liedes „Zwischen Shanghai und St. Pauli“ geschrieben.


Bühne des Varietétheaters

Um einen guten Platz zu bekommen, musste man früh da sein. Wenn die Kapelle „Heimat, deine Sterne“ oder „Sing, Nachtigall, sing“ intonierte, legte Walter den Kopf hintenüber, schloss die Augen und stimmte mit all den anderen ein. Der Gesang bedeutete ein eigenartiges Zusammengehörigkeitsgefühl, besonders, wenn regionale Lieder angestimmt wurden. Die Jungs aus Schlesien etwa bekamen feuchte Augen, wenn sie sich erhoben und „Hohe Tannen weisen die Sterne“ sangen.

Großen Applaus ernteten sowohl der Witzemacher, der Tänzer, der aufreizend wie eine Frau tanzte, als auch der Zauberer mit den Seilen. Die Stimmung änderte sich dann gegen Ende des Abends, wenn der stattliche Obermaat aus Saarbrücken folgendes Lied zu Gehör brachte:

„Schenk mir doch ein kleines bisschen Liebe,

Liebe sei doch ein bisschen nett zu mir.

Fühlst du nicht die inniglichen Triebe,

wie mein Herz verlangt nach dir.“

Dieses Lied kam stets gegen Ende der Vorführung, ehe ein Leutnant mit seiner Violine den letzten Schlusspunkt setzte. Abgesehen von vereinzeltem Stuhlbeinscharren war es ganz still im Saal, wenn der Leutnant die Violine ansetzte und die ersten Töne des „Ave Maria“ anstimmte. Walter studierte die Hingabe in seinem Gesicht. Der Leutnant war einer der Vorgesetzten gewesen, einer, der einem Soldaten das Leben versauern konnte und dies sicher auch getan hatte. Einer von denen, die ihre Privilegien hatten. Keinen Postendienst. Nie gefroren. Nie geschleppt. Weit weg war dieser Leutnant gewesen, jetzt kam er plötzlich ganz nah heran. Und Walter meinte, ihn fast zu mögen. Was er mit seiner Geige gab, konnte nur er geben. Die Musik schuf Wärme, eine Art Freude und Hoffnung. Dieser vorher ferne und gefährliche Vorgesetzte mit der Entscheidungsgewalt über Leben und Tod saß jetzt da und spendete großzügig Freude. Walter schloss die Augen und gab sich diesem Gefühl hin. Merkwürdig war das. Und phantastisch. Das Gefährliche war in etwas Gutes umgewandelt worden. Jetzt konnte er sich zusammen mit dem Leutnant sehnen. Etwas Sinnvolles verband sie. Eines Tages im Oktober kam Hans Rotmeier und erzählte, dass im Hafen von Trondheim ein Arbeitskommando von zehn Mann benötigt wurde. Sollten sie sich melden? Walter war unsicher. Ging es ihm doch ganz gut hier in Orkanger, auch wenn die Eintönigkeit des Lageralltags ihn zuweilen belastete. Er hackte oft Holz und verfluchte die allgegenwärtigen Flöhe, die überall hinkrochen. Selbst seinen pelzbesetzten Wintermantel hatte er wegwerfen müssen. Ansonsten vertrieben sie sich die Zeit mit Reden und Skatspielen. Und die Kreuzchen über dem Bett vermehrten sich nur langsam. Wo hatte man die größten Chancen, möglichst bald nach Hause geschickt zu werden? Warum bloß war er kein Bergmann? Etliche von denen waren schon nach Hause gefahren, obwohl es Gerüchte gab, dass sie in französische Bergwerke geschickt wurden. Ob das stimmte, wusste Walter nicht. „Die Möglichkeit, etwas anderes als diese ewige Nudelsuppe zu essen und vielleicht sogar einmal eine Frau zu Gesicht zu bekommen, ist wohl Grund genug, sich zu melden?“, fragte Hans. Eine Frau? Walter dachte an Lotte, sie war plötzlich so hoffnungslos weit weg, fast wie in einer anderen Welt. Da war der Trondheimer Hafen viel näher dran und hatte vielleicht mehr zu bieten. „Gut, wir melden uns“, sagte Walter.

Der Soldat, den niemand haben wollte

Подняться наверх