Читать книгу Der 884. Montag - Gunter Preuß - Страница 6
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ОглавлениеIch verlor kein Wort, dachte, hältst es wie die Drei Affen, Olga zuliebe. Irgendwo musst du es auch mal durchstehen und wenn du totgehst dabei. Schon lange vor meinem Abgang vom Gymnasium sah ich einfach kein Land mehr. Als ich dann den Schulmief hinter mir hatte, dachte ich, jetzt geht es richtig los, jetzt liegt aber was an, Junge, jetzt kippst du die Welt aus den Angeln und hängst sie wieder richtig ein.
Meine Mutter wollte unbedingt, dass ich mein Abi mache und Pauker werde wie mein zweiter Vater. Aber ich hielt es keinen Tag länger in diesem Bildungsgefängnis aus. Die Lehrer wären den Unruhestifter mit pathologischem Widerspruchsgeist gern losgeworden. Doch blöderweise fabrizierte ich nur Einsen, ohne die grauen Zellchen in Aufregung zu versetzen. Und Olga drohte mit einem spektakulären Suizid und vor allem mit Sperrung jeglichen Taschengeldes, wenn ich freiwillig die Schule aufgeben würde. Also musste ich mir was einfallen lassen, wenn ich nicht von einem Schulknast in den anderen kommen wollte. Obwohl einige Pauker an unserer Schule ehemals stramme Rote waren, sahen sie sich jetzt als Widerstandskämpfer gegen die rote Barbarei. Schlimmer als jede Messerstecherei bestraften sie Verstöße gegen Grundgesetz und Demokratie, die sie Hausfrieden nannten. Wenn sie jemals ein Rückgrat besessen hatten, war es ihnen nun endgültig gebrochen worden. Um im Schuldienst bleiben zu dürfen, hatten sie sich tausendmal durchleuchten lassen. Ihr Über-Ich hieß jetzt nicht mehr Lenin, sondern Herrgott, und ihr höchster Vorgesetzter saß nicht mehr im Kreml, sondern im Vatikan.
Ich hing mir also ein ehemaliges Reklameschild für irgendeinen Fleckentferner, das einmal eine Hauswand bedeckt hatte, vor den Bauch. Darauf hatte ich in roten Glanzbuchstaben ein paar Worte aus dem Kommunistischen Manifest von den Opas Marx und Engels geklebt: Die Kommunisten erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnungen. Mögen die herrschen-den Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!
Aus der Schule, vor ein paar Jahren noch eine sozialistische Erweiterte Oberschule, ist inzwischen ein katholisches Gymnasium geworden. Eine Seltenheit im evangelischen Sachsen. Wo vorher die Riesenbirnen von Marx und Lenin gestanden hatten, waren jetzt die Jungfrau Maria und der gekreuzigte Jesus aufgebaut. Innerhalb einer Woche war ich gefeuert. Es hatten jede Menge Verhöre im Direktorenzimmer stattgefunden, die sie freundschaftliche Gespräche nannten. Der Oberschlappsack, der sich Schuldirektor nannte, und ein nikotingelber Onkel, den ich noch nie gesehen hatte, wollten wissen, welcher extremen kommunistischen Organisation, die den Umsturz plant, ich angehören würde. Ich erzählte ihnen großartige Storys, Material für eine dreizehnteilige Thrillerserie. Bestimmt marschiert ihnen heute noch ein Tausendfüßler übers Kreuz. In jedem Fall, so meinten sie, würde meine aggressive Weltanschauung nicht in das friedlich geprägte Weltbild ihres Gymnasiums passen. Es stände mir ja frei, meine Ausbildung an einer anderen Schule zu beenden.
Die härteste Strafe waren nicht die Pauker, obwohl sie keinen zu Begeisterungsstürmen hinrissen und von Geburt an schon auf die Rente warteten. Am übelsten waren die Schüler. Allesamt Ableger von verdammten Ehrgeizlingen. Für eine gute Zensur hätten die meisten ihre Großmutter auf dem Trödelmarkt verkauft.
Nach meiner Entlassung heulte ich weder aus Freude noch aus Trauer. Mir war einfach nur knochenkalt. Zuerst saß ich zu Hause im Wohnzimmer vor der flimmernden Bildröhre und konnte nichts mit mir anfangen. Dann transportierte ich aus einer Bibliothek jede Menge Wälzer in mein Zimmer. Ich aß Kartoffelchips und ähnliche Fettmacher, trank Cola und las mich durch Hermann Hesses Bibliothek der Weltliteratur.
Ich dachte tatsächlich, dass ich mein Dasein mit Lesen, Kauen und Schlucken verbringen könnte. Dann aber rieselte mir der Kalk aus den Gebeinen in den Denkapparat. Ich wusste nicht mehr, was ich lese, wer wo hingehört und wo was passiert ist. Die Jahrhunderte quirlten durcheinander. Ich fühlte mich abwechselnd als Don Quichotte, Hans Castorp, Madame Bovary, Grüner Heinrich, Gretchen und wie sie alle heißen. Ständig musste ich die Gefühle wechseln. Und ob Männlein oder Weiblein, sie alle hatten wenig Grund zum Lachen und dafür jede Menge Ärger am Hals.
Ich keuchte schon, wenn ich mich von der Liege zur Toilette und zurück-schleppte. Meine Rettung war, dass Olga mich gewaltig mit Vorwürfen nervte. Immer wieder hielt sie mir meinen Paukervater als leuchtendes Beispiel eines braven Mannes vor Augen.
Von den Typen, die sich Väter nannten, hatte ich drei. Dabei hätte mir ein Richtiger schon genügt. Den Ersten, der an meiner Fabrikation beteiligt war - ich nenne ihn Jack, den Seemann - kenne ich nur von einer Fotografie. Sie ist leider so verwischt, dass sie alle Deutungen vom Missionar bis zum Massenmörder offenlässt. Bei Olgas Sprüchen kommt Jack ziemlich schlecht weg, ohne dass sie was Konkretes verrät. Ich kann mir nur zusammenreimen, er hat sich am Sozialistischen Friedenswall seinen Kopf verbeult. Und als er den Makrelengestank nicht mehr aushalten konnte, ist er über die Ostsee nach Dänemark gepaddelt. Von dort aus hat der alte Wikinger die Weltmeere befahren und ab und zu mal Landluft geschnuppert. Es gibt eine Ansichtskarte vom Hafen in Rio. Darauf fragt er bei Olga an, warum sie denn nicht auf seinen Brief antwortet und was sie zu seinem Vorschlag sagt? Ich denke, Jack hätte es gern gesehen, dass Olga und ich über die Grenze segeln und zu ihm kommen. Aber Olga wollte wohl nicht. Sie war in der Partei und hätte den Kommunismus nie verraten, wie sie heute noch sagt. Und jetzt verrät Olga den Kapitalismus nicht, denn sie glaubt an das Gute. Gut ist für sie, was sie ihr erzählen, dass es gut sei.
Mein zweiter Vater war Pauker. Er lehrte mich, den Mund aufzumachen, bevor es in die Hose ging. Der Mann war Spezialist in Geburts- und Todestagen von berühmten Leuten. Er roch nach Kreide und war so ein Pykniker mit durchgesessenen Hosen. Der Dritte schließlich war Buchhalter. Er hatte ein Heft, das er mit verklemmten Witzen vollkleisterte. Wenn er bei einer Familienfeier randvoll war, las er daraus vor. Olga hat die letzten zwei ordnungsgemäß unter die Erde gebracht. Beide auf einem Fleck. Platz hat sie noch für zwei, drei mehr gelassen.
Am liebsten ist mir Jack der Seemann. Wenn ich manchmal sein Bild an-sehe, schmecke ich das Salz des Meeres, spüre einen frischen Wind um meine Nase wehen und rieche geteerte Decksplanken. Der Seemann ist verschollen. Keiner spricht mehr von ihm. Auch Olga ist kein Sterbenswörtchen zu entlocken. Ab und zu trinken Jack und ich ein Glas Grog zusammen. Wenn bei mir der Pegel auf Null steht. Er ist ein verdammt feiner Kerl. Nur ist er wie alle feinen Kerle ein Gespenst, das einem zwar oft im Kopf herumspukt, aber nie lebendig werden will. Das muss doch einen Grund haben.
Da es mit der christlichen Seefahrt bei mir nichts wurde - wegen meiner Pumpe eben -, ist mir Schwachstromer schon lieber als Pauker. Heraussuchen konnte ich mir die Lehrstelle nicht. Nach tausend Bewerbungen hätte ich höchstens noch Verkäufer werden können. Aber ich will am großen Beschiss nicht teilhaben und all den teuren Müll unter die Leute bringen. Als Friseurlehrling hätte es wohl auch noch geklappt, das Strohgeschäft fährt jede Menge Kies ein. Denn wer nichts im Denkapparat hat, will wenigstens einen schnurgeraden Scheitel oder Locken darauf haben.
Bevor ich in der Pathologie bei den Technikfreaks gestrandet bin, fuhr ich auf dem Güterboden Kisten in die Waggons und andere raus. Ich hätte es dort bestimmt eine Woche länger ausgehalten. Doch so ein granitalter Gehirnamputierter, der als Nachtwächter engagiert war, erzählte uns immer wieder aus dem Krieg, wie er sich durch ganz Frankreich gebumst und nur von verdammtem Champagner gelebt hätte. Und wie sich die heutige Jugend in die Hosen scheißen würde, wenn es mal plauzen täte. Ich konnte keinen Tag länger bleiben, sonst wäre was passiert, wofür es keine Bewährung gibt.
Danach ging ich zum Theater. Dort habe ich fleißig Kulissen geschoben und mir jeden Abend die vermotteten Arien von einem knödelnden Othello und einer runtergebrannten Desdemona anhören müssen. Hier hat es mir am meisten gestunken. Die Leute haben den ganzen Tag großmäulig von Mitsprache bei Besetzungsfragen gesäuselt. Doch in Wirklichkeit hatten sie mächtige Angst vorm Intendanten. Sie sanken schon auf die Knie, wenn nur sein Name genannt wurde. Den Rest aber gaben mir ein paar schwule Freddys vom Ballett gegeben, die nach Veilchenseife und Kölnischwasser mieften und einander Eifersuchtsszenen machten. Das alles fand ich noch ganz in Ordnung. Aber als dann einer hinter mir her war, wie ich noch nie hinter einem Mädchen, nahm ich meinen Abschied.
Nun war ich also in diesem Kellerloch auf Grund gelaufen. Ich hörte von weither Schiffssirenen rufen und Möwen schreien. Ich wollte gerade eine exakte Kehrtwende vollziehen, da drückte mir Kauer eine Werkzeugtasche in die Hand und sagte: "Na denn, Mutzelkopp, wollen wir mal."
Mutzelkopp - ich hieß schon Säckel, Bruni, im Paukklub Einstein, in meiner Punkerzeit Grüne Wolke, bei den Neo-Glatzköppen Göbbels, und die Gruftis riefen mich Schneller Tod. Aber niemals hieß ich Mutzelkopp. Das schmeckte mir doch verdammt fischig. Ich hätte dafür Kauers pomadisierten Skalp von seinem Schädel ziehen sollen.
Doch ich gab den anderen ordentlich Pfötchen und machte vor jedem einen Knicks. Sie hatten allesamt einen Blick drauf, als wüssten sie nicht, in welche Schublade sie mich stecken sollten. Aus der Neuzeit war von ihnen keiner mehr. Sie waren alle Mittelalter bis finsterstes Tertiär. Schimmel hatte jeder schon angesetzt in diesem Verlies.
An der Tür stieß ich mit Firat zusammen. Meine blaue Feder rutschte hinters Ohr, was ich sofort korrigierte. Ich habe keinen Schimmer, ob der Terz beabsichtigt war. Aber er sah mich an, als sollte ich eine stilreine Entschuldigung loslassen. Ihm war eine Zange aus der Werkzeugtasche gefallen. Er machte keine Anstalten, sich zu bücken. Alle standen an der Tür und guckten auf die Zange und auf mich. Schließlich krümmte sich Kauer und steckte das Werkzeug in Firats Tasche zurück.