Читать книгу Der 884. Montag - Gunter Preuß - Страница 8

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Ich ritt durch die Stadt in Richtung Stall. Alle Leute, wenn sie nicht gera-de in einem Stau steckten, jagten mit der gleichen Geschwindigkeit heimwärts, mit der sie früh zur Arbeit hetzen. Da war nun mein neunhundertsechsunddreißigster Montag, der ja mein 884. Montag hatte bleiben sollen, bald über die Bühne gegangen und hatte nach Fisch gestunken. Von nun an würde es wohl endgültig jeden Tag Montag bleiben, und ich müsste meine Tage mit Rotstift an der weißen Tapete in Olgas guter Stube anstreichen. Ich brauchte ja nur noch aushalten und mich anpassen, wie es meine Frau Mutter und alle Welt von mir verlangten.

Anpassen, wenn ich das verdammte Wort schon höre! Ich will mich nicht anpassen oder aushalten oder mithalten, ich will rein halten, mit vollem Rohr, und es muss was losgehen dabei, ich meine, es muss was passieren, nicht nur, dass ein Spruch nach dem anderen losgelassen wird. Aber ich glaube, man muss ganz oben sitzen, um was in Bewegung setzen zu können. Doch ehe man sich hochgetreten hat, ist vergessen, was man in Bewegung setzen wollte. Die meisten wollen mit ihrem Schimpansenbacken nicht vom Stuhl hoch, den sie anderen weggezogen haben. Sie haben Angst, mal einen eigenen Schritt zu wagen. Es geht genauso weiter wie im Sozialismus, wo jeder meinte, die Seligkeit wäre auf einem ausgelatschten Trampelpfad zu erreichen, immer dem rötesten Breitarsch hinterher, denn die anderen wer-den es schon richtig und aus allem Dreck Milch und Honig machen. Und Entschuldigungssprüche fürs Zugucken gibt es viele: Mir geht's doch gut so weit. - Was willst du denn, ich habe Frau und Kinder. - Ich habe genug auf dem Buckel, Mann! - Ich? Ich bin krank, Mann, krank bin ich!

Na, ich kann den Scheiß nicht mehr hören über das Leben, das so lebens-gefährlich ist. Die meisten seilen sich an, als wollten sie den Mount Everest besteigen, wenn sie nur eine Bockleiter hoch wollen. Wir hatten an der Schule einen großartigen Pauker. Ich nannte ihn Prinzip Hoffnung, dieses Lichtlein in der allgemeinen Finsternis. Er hätte ebenso gut Seemann oder Flieger sein können. Er wäre überall einsame Spitze gewesen, weil er keine Sprüche machte und zuhören konnte, egal, was man auch von sich gab. Da-bei war er spätes Mittelalter, aber nur biologisch gesehen, sonst hätte ich ihm nicht mehr als achtzehn Sommer gegeben. Er wusste eine Menge, was er aber nie ausnutzte. Er war einfach ein Kumpel. Aber nach der Wende musste er abtreten, weil er Mitglied der SED gewesen war, was von den Schülern keinen gestört hatte. Jetzt zieht er mit seinem Zelt von Markttag zu Markttag und versucht, künstliche Blumen unter die Leute zu bringen. Auch rote Mainelken sind in seinem Angebot, nur dass die keiner nicht einmal mehr geschenkt haben will.

Er sagte uns oft: "Es mussten Millionen Jahre vergehen, und der Mensch wäre nie zum Menschen geworden, wenn die Hand nicht den Daumen entwickelt hätte, um den Pinzettengriff ausüben zu können zur Herstellung von Werkzeugen und zur Durchführung komplizierter Arbeiten. Seht euch immer erst mal euren Daumen an, ehe ihr eine wichtige Entscheidung trefft, bevor ihr Ja oder Nein zu etwas sagt. Und gebraucht eure Hände, lasst den Daumen nicht verkümmern, wehrt euch, wenn euch einer den Daumen ab-schneiden will."

Also, es war noch nichts Richtiges losgegangen, seit ich im Leben stand. Noch keiner hatte mir gezeigt, wo ich wirklich gebraucht werde.

Als ich heute bei Olga ankam, roch es nach Kaffee und Kuchen. Ich erinnerte mich, dass ich ja Geburtstag hatte und noch allerhand überstehen musste. Olga hatte mindestens zehn Pfund Tortenpamps angefahren, der nach Kabeljau und Sprotten schmeckte. Sie zerriss sich um mich, als wäre ich gerade vom Scheintod erwacht. Die Frau nannte mich Säckel und Bruni. Ich ließ sie gewähren, weil ich mir noch immer die drei Affen vor Augen hielt.

Sie hatte mir ein weißes Hemd und zwei Binder geschenkt. Als ob sie nicht genau wüsste, dass ich ein weißes Hemd nicht einmal anhaben möchte, wenn man mich in die ewigen Jagdgründe singt. Und dass ich so einen Binder nur dazu gebrauchen würde, um mich aufzuhängen. Aber erst, wenn ich den kaukasischen Opa überlebt habe, der mit seinen hundertfünfzig Sommern die einsame Spitze hält.

Klock sechs kamen Tante Resi und Onkel Hagen und vertilgten mindestens acht Pfund Tortenpamps und schluckten drei Kannen Kaffee. Sie sehen aus, als wären sie soeben einem oberbayrischen Heimatfilm entstiegen. Regelmäßig jeden Freitag veranstalten sie bei uns eine Haussuchung mit anschließendem Kreuzverhör. Ich habe beide so lieb, dass ich ihnen mal was antun werde. Sie sind nach der Ost-Revolution, wie sie das nennen, aus dem Westen in unsere Stadt gezogen, um zu helfen, nun auch den Osten zu vergolden und um sich meiner Erziehung zu widmen.

Tante Resi ist die Schwester meiner Mutter, nur tausend Jahre älter. Sie stinkt hundertmal mehr nach grünen Heringen, obwohl sie keinen verdammten Fisch verkaufen muss. Sie wiegt drei Zentner oder mehr, und sie bringt sich noch einmal selbst zum Platzen. Ich halte nichts von dürren Frauen, die fassen sich an wie ein Sack Hirschgeweihe. Aber fette Weiber sind wie Hefeteig, in dem der Finger stecken bleibt, wenn man ihn rein-steckt.

Onkel Hagen ist so ein unverwüstlicher, aus Eisendraht und Stahlnägeln gebauter Krieger. Er war schon im Dreißigjährigen Krieg Offizier. Inzwischen hat er so das Zipperlein gekriegt, dass er den Rest seiner Jahre opfern müsste, sollte er einen Faden durch ein Nadelöhr fädeln. Als er in Rente ging, hoffte ich, jetzt schmeißt er die Flinte ins Korn. Aber Onkel Hagen wurde Mitglied eines Jagdvereins. Er legt alles um, was Fell und einen Schwanz hat. In der Abschussliste für streunende Hunde und Katzen steht er unangefochten an erster Stelle. Er hat schon immer alles mitgenommen, was ihm vor die Flinte kam. Ich hätte es auch getan, wenn ich mir Tante Resi so ansehe.

Tante Resi fühlt sich für uns verantwortlich, seit mein letzter Vater tot ist. Sie hat verdammt viel mehr Sprüche drauf als Olga in ihren besten Zeiten. Aus mir will sie einen ordentlichen Staatsbürger machen, auf den die Familie stolz sein kann.

Sie saß schwitzend, mit geblähtem Kropf auf zwei Stühlen, kaute und käute gleichzeitig wieder und sagte: "Wie schmeckt denn die neue Arbeit, Bruno? Wirst du es denn diesmal aushalten?"

"Kann sein."

"Kann sein, was soll denn das heißen? Willst du dich nicht endlich zusammenreißen, Junge. Du bist doch ein erwachsener Mensch. Oder willst du nie erwachsen werden?"

"Kann sein."

"Bei uns muss man was darstellen, Bruno. Du musst begreifen, dass es in der Freiheit nicht mehr so ist, wie ehemals in eurem kommunistischen Konzentrationslager, wo eins war wie das andere. Ich werde dir jetzt sagen, wie aus dir was wird."

Onkel Hagen hatte rülpsend auf seinen Einsatz gewartet und übernahm nun die zweite Stimme im Singspiel "Das Einmaleins des Kapitals" von Krupp und Thyssen. Er warf sich in die Brust, dass sein Gerippe krachte, knallte die Hacken zusammen und schnarrte: "Du musst darstellen, dass du was bist."

"Dass du Erfolg hast, musst du darstellen", trillerte Tante Resi ihren Part.

"Und wenn du was darstellst, hast du auch Erfolg", orgelte Onkel Hagen das Intermezzo.

Tante Resi griff nun schräg in die Tasten ihrer gewaltigen Klaviatur: "Und wenn du Erfolg hast, dann bist du auch dabei."

Onkel Hagen bereitete sich auf den Höhepunkt vor, und seine Stimme wechselte vom Heldentenor in den Sopran: "Und wenn du einmal dabei bist, dann bist du immer dabei."

"Wenn du nicht vergisst, was das Wichtigste ist", ließ Tante Resi noch einmal das Anfangsmotiv anklingen. Und beide vereinigten sich zu einem orgastischen Finale: "Das Wichtigste ist: etwas darzustellen!"

Als der letzte Triller verklungen war, hatte ich meinen Auftritt, der viel zu schlapp war, als dass er auch nur eine Stubenfliege von einem Stück Käse vertrieben hätte. Ich sagte nur: "Ihr sagt es. Und ich glaube euch sogar, dass es so funktioniert. Jawohl, ihr sagt es."

Tante Resi hatte wohl stürmischen Applaus für eine Zugabe, oder zumindest einen lungenkranken Jauchzer erwartet. Sie sagte voller Abscheu für einen diktaturgeprägten Ostler, der nun mal keine große künstlerische Leistung einer Demokratie würdigen kann: "Also wenn unsere heutigen jungen Menschen alle so wären wie du, Junge, da stände uns ein trauriges Kapitel Geschichte bevor. Hast du denn überhaupt kein Ehrgefühl im Leib, Bruno?"

"Kann sein."

Onkel Hagen fingerte in seinem Steinbruch nach Essenresten. Er passte auf, dass seiner alten Fregatte nicht der Wind aus den Segeln kam: "Hast du denn überhaupt kein Rückgrat, Mann? Kann sein - was soll denn das? Es gibt nur Ja oder Nein. Dir fehlt Courage, ein bisschen Schliff, Haltung, mein Junge, Haltung braucht der Mann. Na, ich verspreche mir einiges, wenn du bald zum Militärdienst eingezogen wirst, davon verspreche ich mir sehr viel, mein Junge. Beim Militär bekommt man immer noch am ehesten und auf die einfachste Weise den Kopf gerade gerückt."

Onkel Hagen ritt auf seinem abgeklapperten Schlachtross, das er seit dem 2. Punischen Krieg, als er unter Hannibal die Alpen überquerte und in Italien eindrang, gesattelt hielt. Er hätte mich unter die Hufe genommen, wenn ich nicht augenblicklich einen taktischen Rückzug angetreten hätte.



Der 884. Montag

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