Читать книгу Die Therapeutin und er - Gunther Dederichs - Страница 5

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Es sei gestern wunderschön gewesen. Überhaupt finde sie, dass es ihnen ganz gut gelingt, sich allmählich immer mehr anzunähern, und sie hoffe, dass das auch so weitergeht, auch wenn seine Noch-Frau dann wieder in der Nä­he ist und ihn womöglich bedrückt. Heute Morgen sei ihr im Halbschlaf die Idee gekommen, nach Weihnachten über Silvester eine Woche in den Süden zu fliegen, was hält er davon? Das müsste man sofort buchen, wenn es nicht schon zu spät ist. Die Kanaren sollen nicht wetterbeständig sein in der Zeit, gut wäre laut Kollegin Marokko. Was meint er überhaupt zu der Idee? Marokko – wie viele Menschen lassen all ihre Habse­ligkeiten zurück und zahlen bereitwillig eine für ihre ärmlichen Verhältnisse horrende Summe, um sich von eben diesem Land unter Lebensgefahr über das Mittel­meer nach Europa schippern zu lassen, zu einem Kontinent, von dem man mal eben mit der Billigfliege dorthin düst, um sich an den einschlägigen Stränden nachdunkeln zu lassen und mit gelangweilter, entspannter Neugier durch die dekorativen Idyllen des Elends zu schlendern. Okay, okay, Die Stimmen von Marrakesch, hat er ja auch irgendwann gelesen, so ist das nicht. Trotzdem! Etwas sonderbar, widersprüchlich ist das schon mit den so ganz und gar unvergleichbaren Umständen und Motivationen solcher in entgegengesetzte Richtungen verlaufenden Menschenströme. Hinzu kommt bei ihm in puncto Urlaubsreisen, dass er keine Ader für allzu Exotisches hat und entsprechend auch zu der aussterbenden Spezies gehört, die diesem Kontinent nie entfleucht sind und, schlimmer noch, es nicht einmal vorhaben. Er hält es da eher mit Arno Schmidt: Eine einmalige Pflichtreise, wenn es sein muss auch nach London – der Frau zuliebe und um des lieben Friedens willen –, ansonsten ein paar stille, besinnliche Tage am Dümmersee, das sollte genügen. Dass die wahren Abenteuer sich im Kopf abspielen, wie durch den besagten Schriftsteller in so eindrucksvoller, geradezu literaturnobelpreiswürdiger Weise be­wiesen, vorgelebt wurde, ist eben doch mehr als ein bloßes Pappteller-in-der-Hand-auf-Party-Bonmot. Zugegeben, manch ein braver römischer Landser war seinerzeit schon im wortwörtlichen Sinne weiter als er. Ob es zu irgendetwas nützlich war, und wenn ja, für wen oder was, sei dahingestellt. Er wolle kein Armenhaus besichtigen, begründete ihm gegenüber einst ein unverkennbar dem seiner­zeitigen linken politischen Mainstream angehörender Kommilitone, mit dem er sich – die Staubmaske vor dem Gesicht, mit dem Vorschlaghammer Decken und Wände einreißend, Bauschutt und Ziegel mit der Schubkarre von einem Platz zum anderen schaffend – zeitweilig auf Baustellen verdingte, dessen Weigerung, irgendwelche Drittweltländer zu bereisen. Zudem hegt er eine nicht geringe Sympathie für die Bemerkung eines Fernsehprominenten in einem seiner Bestseller, worin es, um kein Klischee aus[zu]­lassen, auf den wunden Punkt gebracht heißt: Je dümmer der Passagier, desto weiter das Reiseziel, wobei noch ein Schnelltest im Bekanntenkreis empfohlen wurde: Wer wandert im Donautal, wer fliegt auf die Malediven? Sehn Se! – eine jener ebenso kurzen wie pointierten Passagen, für die allein schon die Anschaffung des Buches lohnte. Sie hoffe, dass es nicht allzu lange dauert, bis er dies lesen kann. Schade, dass er nicht wie versprochen angerufen habe. Eigenartig, dass gerade jetzt, wo seine Noch-Frau wieder zurückkommt, ihre Kommunikation durch technische Probleme gestört wird. Ein Teil von ihr wolle sich in die altbekannten Verlustängste »stürzen«, aber merkwürdigerweise funktioniere es nicht. Der andere Teil, der sagt, »Bleib ruhig, alles kommt in Ordnung, du brauchst keine Angst zu haben« sei viel stärker angenehm. So warte sie ziemlich ruhig ab, wie sich die Dinge ent­wickeln werden und schicke ihm einfach einen lieben Gruß und etwas Kraft für nicht ganz einfache Situationen.Es tue ihr leid, dass sie gestern etwas »zickig« gewesen sei es sei das alte Muster zwischen Männern und Frauen gewesen. Da sie aber beide möchten, dass es weitergeht und da sie gestern, als er auf die Fotos seines Vaters geschaut habe, bei ihm ganz viel Liebe wahrgenommen (oder vielleicht besser: unterschwellig gespürt) habe, denke sie, dass es ein großes Potenzial zwischen ihnen gibt. Im Übrigen habe sie gedacht, es sei vielleicht doch keine so gute Idee, seine Mutter jetzt kennenlernen zu wollen. Wenn sie nur so kurz da sei, will sie ihn doch für sich haben, was sie verstehen könne, und nicht eine für sie fremde Frau treffen, von der sie noch gar nicht wissen kann, ob sich das überhaupt lohnt. Also stelle sie sich darauf ein, ihn erst am Sonntag (?) wieder zu sehen. Aber vielleicht könnten sie dafür öfter mailen und telefonieren?Beim Ausloten ihrer Tiefen fördere sie doch einen leichten Schmerz darüber zutage, dass er da mit einer Frau zusammen war, die offenbar völlig ungebrochen annehmen konnte, was er zu geben hat.Ob er denn nicht gern mit ihr zusammen sei? Oder habe er nur das Gefühl, die Zunge würde ihm abbrechen oder verdorren oder ähnlich Schreckliches, wenn er mal etwas darüber äußert? Sie sei anscheinend gefühlsmäßig etwas durcheinander, vermutlich durch das sich ihm Öffnen bei nicht ganz ausreichendem Geborgenheitsgefühl, denn ihr passieren dauernd Schusseligkeiten, ihr fallen Dinge aus der Hand, sie kippe Kokosmilch aus, schmeiße ein Glas runter und gestern Abend habe eine nette junge Frau sie angerufen, ob sie im Stadtbad gewesen sei, sie habe ihre Euroscheckkarte gefunden. Das nehme langsam bedenkliche Formen an. Aber sie habe beschlossen, wenigstens ihre Ängste über Bord zu werfen. Er mache das viel klüger. Er sage, »Was passiert, passiert sowieso, das kann ich nicht ändern und ich werde es in jedem Fall überleben«. Sehr gesund, so versuche sie es jetzt auch zu machen, gelinge ganz gut bis jetzt, sie müsse nur aufpassen, dass diese Haltung keine Distanz erzeugt. Für seine schöne und lustige Geschichte danke sie ihm. Zwar war sie weit davon entfernt, ausschließlich auf ihre Probleme fixiert zu sein, sie gehörte jedoch zu den Menschen, die immer wieder von neuem tatsächliche oder im Nachhinein entsprechend interpretierte Ereignisse der ersten Lebensjahre hervorkramen, mit denen sie offensichtlich keinen Frieden schließen können. Es verging kaum ein Tag, an dem nicht die eine oder andere Begebenheit aus einer Zeit, die inzwischen ein halbes Jahrhundert zurücklag, von neuem aufs Tapet gebracht wurde. Ihm war das alles nicht neu. Er war bereits zuvor in seiner Ehe mehr als zwei Jahrzehnte mit dieser Problematik konfrontiert worden, sodass er im Laufe der Jahre einen gewissen Überdruss gegenüber bestimmten Geschichten entwickelt hatte, der einige Male in seiner Bemerkung kulminiert war, er würde sich wohl selbst bei einer fiktiven, sich über etliche Jahrhunderte erstreckenden alttestamentlichen Lebenserwartung bestimmte Klagen bis zu seinem Ende anhören müssen. Abgesehen davon glaubt er ohnehin nicht an die heilende Wirkung beständigen Wiederholens immer derselben misslichen Ereignisse, schon gar nicht auf ihn selbst. In einer ihrer Geschichten ging es um ihre jüngeren Zwillingsgeschwister, deren Gesundheit in den ersten Monaten nach der Geburt sehr labil gewesen war, sodass sich Mutter und Großmutter intensiv um die beiden küm­mern mussten, wobei sie selbst, was Aufmerksamkeit und Zuwendung betraf, zu kurz kam und sich entsprechend vernachlässigt fühlte. Ein weiteres Problem in den ersten Lebensjahren war die vorübergehende Abwesenheit ihrer Eltern, während der sie bei der Großmutter lebte. Er fand es bisweilen fast amüsant, mit welcher Verve sie auf die akribische Aufteilung in allen möglichen Dingen achtete, was unter anderem finanzielle Ausgaben, gegenseitige Besuche und häusliche Arbeiten wie Kochen und Abwaschen betraf. Es war nicht so, dass ihn das störte, er sich in irgendeiner Weise eingeschränkt fühlte, dass er etwa vorgehabt hätte, sie auszunutzen oder zu übervorteilen. Auch er war auf Ausgewogenheit bedacht und hatte selbstverständlich darauf geachtet, zu allem angemessen beizutragen, hatte das im Zusammenleben mit anderen stets und unaufgefordert so gehalten und diesbezüglich auch nie Beschwerden zu hören bekommen. Dennoch befremdete ihn diese Angst, zu kurz zu kommen, nicht genug abzubekommen, diese Mentalität des kleinlichen Aufrechnens und Vergleichens, des Korinthenzählens, des eifersüchtigen Beobachtens, des misstrauischen Nachkontrollierens, ob das eigene Stück Kuchen nicht vielleicht doch etwas kleiner ist als die der anderen. Einmal berichtete er ihr von einer Bekannten seiner Mutter, die erzählt hatte, die Eltern hätten das Erbe lange vor deren Tod an sie und ihre Geschwister weitergegeben, wobei niemand daran dachte, nachzuprüfen, ob er auch um Gottes Willen nicht etwa weniger als die anderen bekommen hat. Er erwähnte diese Geschichte vor allem, um ihre Reaktion zu prüfen. Sie erwiderte auch prompt, dass sie an deren Stelle schon darauf geachtet hätte, genauso viel zu bekommen wie die anderen. Er hatte auch keine andere Antwort erwartet. Sie hatten zudem recht unterschiedliche Vorstellungen davon, was unter Neid und Missgunst zu verstehen ist. Ihm fiel auf, dass sie häufig den Begriff Neid verwendete, und zwar in Zusammenhängen, in denen er davon gesprochen hätte, dass man etwas, was ein anderer besitzt, auch gern hätte, während sie das, was er unter Neid verstand, als Missgunst bezeichnete. An den meisten Tagen während der Woche kam sie nach der Arbeit beziehungsweise nach den anschließenden Volkshochschulkursen, wovon sie nicht selten mehrere belegte, zu ihm, die Wochenenden verbrachten sie in der Regel bei ihr. Dass die Einrichtung einer Wohnung nicht nur den Geschmack, auch die Mentalität, die Grundstimmung, das Lebensgefühl des Bewohners widerspiegelt, ist eine banale Allerweltsweisheit. Eigentlich hätten ihre beiden Zimmer, die immerhin eine mindestens durchschnittliche Größe aufwiesen, für einen einzelnen Menschen bei weitem genügen müssen. In ihrem Fall lag das Problem des dennoch bestehenden Platzmangels darin, dass sie, als sie an ihrem vorherigen Wohnort mit ihrem damals noch heranwachsenden Sohn zusammen ein zweistöckiges Fachwerkhaus bewohnte, eine solche Menge an Mobiliar und anderen Gegenständen angesammelt hatte, dass der bei ihrem letzten Umzug nicht notgedrungen zurückgelassene Teil der Einrichtung in ihrer jetzigen Wohnung nur unter Ausnutzung praktisch jeder halbwegs geeigneten Fläche untergebracht werden konnte: Unter das Doppelbett, unter das sofaähnliche Möbel im Wohnzimmer und auf den Schlafzimmerschränken waren Kartons geschoben beziehungsweise gestapelt, die Fensterbank im Bad diente als Ablage für diverse größere und kleinere Fläschchen mit Sprays, Duftwässerchen und anderen exklusiven Verdunstungsartikeln, ohne die ein Großteil der Frauen allem Anschein nach kaum einen Tag überleben kann, vor dem Küchenfenster stand etwa ein halber laufender Meter Kochbücher. Wie viele Wochen würde sie wohl benötigen, fragte er sich, wenn sie Tag und Nacht ohne Unterbrechung – wäh­rend also gleichzeitig andere damit beschäftigt wären, die Zutaten heranzuschaffen – jedes der dort aufgeführten Gerichte auch nur ein einziges Mal zubereiten würde? Vor dem Schafzimmerfenster war ein Teil ihrer belletristischen Literatur gestapelt. Zwischen den Fensterflügeln im Wohnzimmer reihten sich farbenfrohe Vasen, was allerdings den Nachteil hatte, dass sie zum Lüften des Zimmers jedes Mal umständlich beiseitegeschoben werden mussten. Darüber hinaus hatte sich eine beachtliche Menge an Kleidungsstücken angesammelt. Da die beiden Schränke im Schlafzimmer bei weitem nicht genug Platz boten, wurde ihre Winter- beziehungsweise Som­merkollektion zu den entsprechenden Jahreszeiten in den Schränken kurzerhand ausgetauscht, das heißt, die momentan nicht für die Jahreszeit geeignete Garderobe vorübergehend in Kartons verstaut. Der Küchentisch war zu drei Vierteln mit einer mehrere Zentimeter dicken Schicht aus Zeitschriften (unter anderem den letzten Ausgaben des Stern, den sie regelmäßig las) sowie privaten und behördlichen Briefen bedeckt, sodass vor dem Essen die Papiermasse oft erst einmal zusammengeschoben werden musste beziehungsweise zu den Zeitschriftenstapeln auf der Holzbank gelegt wurde, die hinter dem Tisch neben dem Fenster stand und ohnehin nicht mehr ihrer ei­gentlichen Bestimmung entsprechend genutzt werden konnte sondern gewissermaßen zu einer kniehohen Ablage mit Rückenlehne mutiert war. Auch für zwei Kerzenständer gab es auf dem Küchentisch trotz allem noch Platz; so fand das Abendessen bei ihr fast immer bei Kerzenschein statt. Er empfand es als sehr angenehm und entspannend, in solch einer Atmosphäre zu essen, obwohl Mahlzeiten für ihn ansonsten eine eher prosaische Angelegenheit sind. Wenn er für sich allein kocht und isst, ist er meistens in Eile. Weder für Muße noch für das Zelebrieren kleiner Rituale noch für die Freude an Dekor besitzt er die innere Ruhe. Eigentlich hat er in jeder Minute etwas vor, irgendetwas zu lesen, aufzuschreiben oder zu erledigen. Er fand Gefallen an dem langsameren Rhythmus und der behaglichen Stimmung der gemeinsamen Mahlzeiten, aber das wirklich zu würdigen kam ihm leider nie in den Sinn. Vieles wusste er wohl nicht zu schätzen. Die Ausstattung ihrer Küche mit Kerzenständern war jedoch nichts verglichen mit der in ihrem Wohnzimmer. Deren genaue Zahl kann er aus seinem Gedächtnis nicht mehr abrufen. Der auffälligste darunter war ein direkt auf dem Fußboden stehendes, etwa hüft­hohes Stahlgestell, an dem allein etwa ein halbes Dutzend Kerzen steckten. Zudem wurden häufig sämtliche im Zimmer vorhandenen Kerzen angezündet, was nicht nur die elektrische Beleuchtung überflüssig machte, sondern eigentlich auch die Heizung zumindest teilweise hätte ersetzen können. Merkwürdigerweise aber war es bei ihr trotzdem meistens etwas zu kalt. Während es ihr nie hell genug sein konnte, war ihm wiederum so viel äußere Erleuchtung des Guten zu viel. Sie schiebt die Grenzen halt weiter hinaus, dacht er. Eine Obergrenze schien sie auch in der Hinsicht nicht zu kennen. Was gleichermaßen im Überfluss vorhanden war, waren Sofakissen, bei denen, wie bei den Handtüchern, Röcken, Kleidern, Blusen und dem selbstgefertigten Schmuck, farbliche Abstufungen von Hellblau, Hellgrün und Türkis vorherrschten. Was die Kissen anbelangt, so lagen sie mehr oder weniger übereinandergeworfen auf dieser Art Liege oder Sofa, zum Teil auch auf dem schräg davor stehenden Sessel. Anfangs hatte er sich einmal die Mühe gemacht, sie zu zählen – es mussten knapp zwanzig gewesen sein. Es war praktisch unmöglich, sich einfach spontan auf einer der beiden – eigentlich nur noch sogenannten – Sitzgelegenheiten niederzulassen. Erst einmal musste freigeräumt und umgestapelt werden. Für nichts gibt’s nichts! Ohne Fleiß kein Preis! Erst die Arbeit, dann das Vergnügen! Da einige der Kissenbezüge aus Seide waren, gestaltete sich deren Übereinanderstapeln nicht ganz unproblematisch, denn Haft- und Gleitreibung von Seide auf Seide lassen, wie er feststellen musste, einiges zu wünschen übrig. Schon eine leichte fahrige Bewegung gegen das Kissengebirge konnte dazu führen, dass gewissermaßen die ganze Ladung ins Rutschen kam und wegen der fehlenden Rückenlehne und Seitenlehnen bei dem sofaähnlichen Möbel etliche Kissen auf dem Holzfußboden beziehungsweise dem Teppich landeten. Ein ähnliches Problem ergab sich mit ihrer seidenen Bettwäsche. Lag man nicht genau in der Mitte unter der Decke, bedurfte es meist nur einer unbedachten Bewegung, schon rutschte sie nach einer Seite herunter und lag neben einem statt darüber, büßte damit ihre Funktion des Warmhaltens ein und wurde gewissermaßen zur Beilage. Trotz allem kam er mit den Kissen letztlich besser zurecht als mit den beiden Fernbedienungen ihres Fernsehers, zu dem noch ein weiteres Gerät gehörte, an dem unter anderem die Antenne angebracht war. Es mussten stets beide Geräte eingeschaltet werden. Die Fernbedienungen waren für verschiedene Funktionen zuständig, die er sich jedoch nie merken konnte, sodass er entweder das gesuchte Programm nicht fand oder erst gar nicht in der Lage war, überhaupt ein Programm einzuschalten oder aber die Programme plötzlich verschwanden und es ihm im günstigen Fall gelang, durch das Ausschalten und anschließende erneute Einschalten der Geräte den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen. Kurzum: Auch dieses Terrain barg eine Fülle an Unwägbarkeiten und unvorhersehbaren Überraschungen; jede unbedachte Aktion wurde stante pede sanktioniert, Komplikationen waren praktisch vorprogrammiert. Wie bei den Kerzen und Kissen gab es auch einen Überfluss an Gemälden und Fotos – im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, in der Küche. Es gab wohl niemanden in ihrer Familie und im Freundeskreis, der nicht zugleich auf mehreren Abbildungen zu sehen war. Auch von ihm hingen bald einige Aufnahmen an der Wand – rechts neben dem Küchentisch, wo noch ein wenig Platz frei war, direkt über dem Radio, das auf einem schmalen, etwas wackeligen Tischchen stand. Später kamen noch Fotografien von Engelskulpturen hinzu, die sie in der Stadt aufgenommen hatte. Die Motive hatte sie zum größten Teil auf Friedhöfen entdeckt. Inspiriert dazu wurde sie durch eine Ausstellung, in der unter anderem Großaufnahmen solcher Engel zu sehen waren, nur – wie sie beide übereinstimmend fan­den – leider in Farbe statt schwarz-weiß, was die of­fensichtlich angestrebte erhabene Atmosphäre eher be­ein­trächtigte, den dargestellten Objekten seiner Meinung nach sogar eine leichte Tendenz ins Profane und Triviale gab. Ihre eigenen Aufnahmen waren dann auch schwarz-weiß, was ihnen beiden besser gefiel und den Motiven offensichtlich angemessener war. Der Fülle an Gegenständen, die sie im Laufe der Zeit angesammelt hatte und mit denen sie sich umgab, entsprachen ihre weitgestreuten Interessen und Aktivitäten, darunter auch eine, wovon er zuvor nie gehört hatte, nämlich Glasschmelzen, wofür sie an der Volkshochschule entsprechende Kurse besucht hatte. Sogar eine Fachzeitschrift hatte sie abonniert um sich daraus inspirieren zu lassen. In einem dafür vorgesehenen Schmelzofen legte sie Glasstücke zu Mustern zusammen und ließ sie so weit erhitzen, bis die Teile weich genug waren, sich miteinander zu verbinden, in entsprechende darunter liegende Hohlformen hineinsanken und so die gewünschte Form annah­men. Auf diese Weise stellte sie unter anderem Schmuck und kleine Gefäße her, auch das in größeren Mengen und in ihren Lieblingsfarben Türkis sowie verschiedenen Abstufungen von Grün und Blau. Die Kommode neben dem Bett war bereits vollständig belegt mit kleinen gläsernen Objekten, die sie im Laufe der Zeit angefertigt hatte. Dass der Schmelzofen im Schlafzimmer stand, hatte ihn anfangs zwar etwas beunruhigt, da ihm der Gedan­ke, eventuellen bösen Überraschungen schutzlos ausgeliefert zu sein, während er kaum zwei Meter entfernt von einer bis zu sechshundert Grad heißen Wärmequelle schlief, nicht geheuer war, allmählich aber gewöhnte er sich daran, indem er sich – wie Menschen es gemeinhin tun – damit beruhigte, dass, wenn bis jetzt nichts passiert ist, es wohl auch weiterhin gut gehen wird. Was den Schmelzofen betraf, wurde seine Hoffnung nie enttäuscht. Wenigstens der explodierte nicht. Ihr Geschick für handwerkliche Arbeiten stand jedoch in deutlichem Kontrast zu ihrem nicht sehr ausgeprägten Sinn für die praktische Handhabung der alltäglichen Dinge. So lag ihr aus irgendeinem Grund anscheinend nichts daran, einen Abfalleimer für die Küche anzuschaffen – vielleicht aber auch nur deshalb, weil es eigentlich keinen geeigneten Platz mehr dafür gab, denn alles, was an Einrichtungsgegenständen, an welchem Platz auch immer, eventuell noch hinzugekommen wäre, hätte in jedem Fall zuerst und vor allem im Weg gestanden. Der diesbezügliche Sättigungsgrad in ihrer Wohnung war seit langem, wahrscheinlich schon mit ihrem Einzug, erreicht. Statt eines Abfalleimers hingen als Ersatz ausrangierte Plastiktüten, wovon sich im Schränkchen unter der Spüle ein beständig anwachsender, schier unerschöpflicher Vorrat staute, an einem vorspringenden Abzweig eines Wasserrohres, der auf diese Weise als eine Art Haken umgenutzt wurde – allerdings mehr schlecht als recht, denn die Griffe, an denen die Tüten aufgehängt waren, glitten mit einer gewissen Regelmäßigkeit vom Abzweig ab, sodass sie auf das darunter stehende, mit Weinflaschen bestückte Drahtgestell fielen, wobei sich dann jedes Mal ein Teil des Abfalls auf dem Küchenboden verteilte. Abgesehen davon tropfte es nicht selten aus den Tüten heraus – meistens handelte es sich um Flüssigkeitsreste im allzu rasch und ungeduldig weggeschütteten, noch tropfnassen Kaffeesatz –, sodass der Steinfußboden unter dem Gestell mit der Zeit eine dunkle Färbung angenommen hatte, dem noch dadurch Vorschub geleistet wurde, dass sich die Motivation, zu jedem gegebenen Anlass die Ecke umständlich freizuräumen, um den Boden zu säubern, verständlicherweise im engen Rahmen hielt. Als er ihr irgendwann vorschlug, den – so lange er sich entsinnen konnte, ständig verstopften – Ausguss in Ordnung zu bringen, musste er, um an die Problemzone zu gelangen, erst einmal den Platz davor und darunter von dem Wust an Plastiktüten befreien, mit dem der Spülschrank bis unter das Spülbecken zugemüllt war. Nach der eigentlichen Arbeit hatte er auch gleich noch die Tüten zusammengefaltet und damit immerhin an einer – wenn auch letztendlich unerheblichen – Stelle ein Stück zumindest äußere Ordnung und Übersichtlichkeit hergestellt, wofür sie sich sogar ausdrücklich bedankt hatte. Eigentlich aber hatte er das vor allem für sich getan. Im Grunde nämlich wünscht er sich kaum etwas so sehr wie Ordnung, Übersicht und Berechenbarkeit. Allein das Nebeneinander, oder besser: Gegeneinander, dutzender Krankenkassen und Stromanbieter wirkt auf ihn irritierend, nicht minder die beinahe hysterische Konkurrenz der geradezu inflationär aus dem Boden schießenden Telefontarifanbieter, last, but not least der schier unüberschaubare Wust an Kundenkarten, die einem seit einiger Zeit bei jeder Gelegenheit aufgedrängt werden und die er in den entsprechenden Situationen natürlich nie dabei hat. Haben Sie eine Kundenkarte? Ja, zu Hause. Manchmal stellt er sich ein Land mit einer durch und durch nördlichen, herbstlichen Atmosphäre vor, in dem Anstand und Redlichkeit ganz oben auf der Agen­da stehen, in dem alles wohlgeordnet und überschaubar ist. Alles Ungeordnete, Unsystematische, Unstrukturierte, Improvisierte, Vorläufige, alles Verquatschte, Verquirlte, Verkramte, alles Raffinierte, Indirekte, Von-hinten-durch-die-Brust-ins-Auge-Artige ist ihm zutiefst wesensfremd, ist seine Sache nicht und wird es niemals sein. Er ist nicht geschaffen für Karneval in Rio, Köln, Venedig oder wo auch immer. Ihre Gewohnheit, an jedem sich anbietende Platz irgend­ein Tandwerk anzuhäufen, machte auch vor ihrem neuen Auto nicht halt. In kurzer Zeit schon waren Kofferraum, Handschuhfach, Ablageflächen und Sitze wieder in gewohnter Weise von allen möglichen Sachen in Beschlag genommen. Sie war Kaffeetrinkerin, im Gegensatz zu ihm. Er hatte sich jedoch vorgenommen, sich auf ihre »Trinkgewohnheiten« einzulassen, begann sogar, mit ihrem Espressokocher zu hantieren, was anfangs auch einigermaßen erfolgreich, ohne größere Zwischenfälle verlief – bis er eines Morgens, als er das Gerät wie immer nach dem Einfüllen des Kaffees auf die Gasflamme stellte, irrtümlicherweise der Meinung war, bereits Wasser hineingefüllt zu haben. Als schließlich auch geraume Zeit nachdem er die Flamme größer gestellt hatte, das nichtvorhandene Wasser keine Anstalten machte zu kochen, das vertraute Brodelgeräusch immer länger auf sich warten ließ, entgegen den bisherigen Gepflogenheiten partout kein Wasserdampf der Öffnung entweichen wollte und er sich endlich, viel zu spät, dazu entschloss, nach der Ursache zu forschen, war der Rubikon bereits überschritten. Das Ergebnis seiner Fehlleistung waren geschmorte Dichtungsringe und die verkrustete Innenfläche des unteren Teils, der allem Anschein nach zudem noch leicht in sich zusammengesunken war. Da es sich – wie sie wiederholt betont hatte – nicht um irgendeinen gewöhnlichen Espressokocher handelte, sondern um einen von ihr aus dem Italienurlaub mitgebrachten, schien ihm der Schaden nicht ohne weiteres reparabel. So gingen etliche Wochen ins Land, bis er die Eingebung hatte, dass es eventuell auch Dichtungsringe gesondert zu kaufen gibt und ein neuer Kocher nicht mühsam über die Alpen herbeigeschafft werden muss. Bis dahin jedoch bereitete sie sich ihren Kaffee geduldig und ohne ein Wort der Klage auf konventionelle Art. Dass sie ihm sein Missgeschick nicht verübelte, rechnete er ihr hoch an. Was sie ihm stattdessen übel nahm, war unter anderem eine beim ersten Anlauf zu Unzärtliche, zugegebenermaßen von seiner Seite etwas zu flüchtig und nachlässig vorgenommene Verabschiedung, nachdem sie ihn eines Morgens wieder auf dem Weg zu ihrer Praxis mit dem Auto zu seiner Wohnung gefahren hatte. »Kriege ich keinen Kuss?« war ihre geradezu konsternierte Reaktion, woraufhin er sich beeilte, ihrem Wunsch nachzukommen und diesmal darauf achtete, sich keine Ungeduld anmerken zu lassen. Natürlich war ihre Reaktion nur allzu berechtigt. Vor seinem inneren Auge erschien in dem Moment eine aus irgendeinem Film memorierte stereotype Verabschiedungsszene nach dem morgendlichen Frühstück, worin der durch den Alltag hetzende aufstrebende Ehemann, den letzten Bissen soeben hastig hinuntergeschlungen, sich noch während des Kauens vom Tisch erhebt, in einer Hand die notdürftig wieder zusammengefaltete Zeitung, mit der anderen die Kaffee­tasse zum Mund führend und, nachdem er noch schnell einen Schluck daraus genommen hat (dabei den Oberkör­per vorgebeugt, den Kopf im Nacken und das Kinn vor­ge­schoben, um das blütenweiße neue Hemd nicht noch im letzten Moment zu bekleckern – allein die senkrecht herunterhängende Krawatte befindet sich noch in der Gefahrenzone), seiner sich längst mit dem Faktischen, der Omnipräsenz des Prosaischen abfindenden Gattin einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückt, eilig irgendeinen seit langem vorhersehbaren, standardisierten, knapp gehaltenen Satz gedankenlos daherredet, irgendetwas mit Liebling / Schatzi / Mäuschen und Bis heute Abend / Ich komme heute etwas später / Es kann etwas später werden, um – sich auf dem Weg zur Haustür im Vorübergehen hastig den Mantel überstreifend – hinaus ins feindliche Leben zu entschwinden und dem anstehenden Tagwerk energischen Schrittes entgegenzueilen. Zeit ist Geld. Ist er vielleicht auch so einer, ohne dass ihm das bisher bewusst war? Es wäre schade – für sie beide. Nicht lange nachdem sie sich kennengelernt hatten, belegte sie einen Goldschmiedekurs, wofür sie sich neben dem nötigen Material auch das entsprechende Werkzeug beschaffte, sodass sie die Arbeiten auch zu Haus weiterführen konnte. Wenn sie von ihrem neuen Hobby erzählte, sprach sie zumeist davon, dass eine der Teilnehmerinnen ihr praktisch aus dem Weg gehe und es vorziehe, sich mit anderen zu unterhalten. Einmal aber berichtete sie ihm voller Freude, jene Frau sei auf sie zugekommen, um sie in irgendeiner Angelegenheit um Rat zu fragen, was sie als Vertrauensbeweis interpretierte und in ihr Hoffnungen auf ein zukünftig erfreulicheres Verhältnis weckte. Später erzählte sie ihm, dass sich ihre Erwartungen leider nicht erfüllt hatten. Weil sie noch immer eine starke emotionale Bindung zu Russland hatte, ihrer Heimat während der ersten Lebensjahre, als sie in einem Dorf nahe der Wolga aufwuchs, besuchte sie seit längerem einen Russischkurs und hatte bereits etliche Reisen in das Land unternommen. Ein Zeugnis ihrer Hinneigung zu ihrem Geburtsland waren auch die zahlreichen Ikonen in ihrer Wohnung. Es lag auf der Hand, dass ihre erste, schon bald nach ihrem Kennenlernen von ihr geplante, am Ende aber nicht zustande gekommene gemeinsame Reise sie in Richtung Osten führen sollte. Anvisiert waren als erste Etappe Bekannte von ihr in Sankt Petersburg, anschließend wollte sie mit ihm noch kurz in der Ukraine vorbeischauen. Da sie zudem eine begeisterte Tänzerin war, besuchte sie regelmäßig eine Diskothek, die sich seit längerem zu einem beliebten und über die Stadt hinaus bekannten Treffpunkt russischer Einwanderer entwickelt hatte. Dass der aus Russland immigrierte Schriftsteller Wladimir Kaminer zu den von ihr favorisierten Autoren gehörte, war nur eine logische Konsequenz. Zu ihrem Goldschmiedekurs kam einige Monate später noch Papierschöpfen hinzu, eine Sache, wovon er überhaupt erst durch sie erfuhr. Das Ergebnis ihrer neuen Leidenschaft war unter anderem eine Reihe hübscher Lesezeichen. Ihr Interesse für Malerei hatte sich bereits in ihrer ersten Unterhaltung offenbart. Sie hatte unter anderem den ihm unbekannten holländischen Maler Jan Vermeer erwähnt, wobei sie seine Ignoranz auf dem Gebiet sogleich als Bildungslücke diagnostizierte. So war dann auch ihr erstes Geschenk für ihn ein Poster des Gemäldes De keukenmeid, das von da an die ansonsten eher sterile Wand seiner Küche schmückte. Ihre Vorliebe für die Romane Maarten t’Harts schien ihm widersprüchlich, da sie aus ihrer starken Abneigung gegen düstere, melancholische Stimmungsbilder, gegen beengende, bedrückende Milieus, wie sie in dessen Texten vorherrschen, nie einen Hehl machte. Als sie noch mit ihrem Sohn in der Kleinstadt – oder war es eher ein größeres Dorf? – wohnte, hatte sie in einer be­nachbarten Stadt in einem Chor gesungen. Dass sie ihn mit ihrem Umzug aufgeben musste, bedauerte sie noch immer. Seitdem war sie auf der Suche nach einem neuen, fand aber lange Zeit keinen, der ihrer Meinung nach ihrem ehemaligen Chor gleichwertig war. In dem einzigen, der schließlich ihren Vorstellungen entsprach, wurde sie zu ihrer großen Enttäuschung nicht aufgenommen. Sie war jedoch nicht bereit, ihre Ambitionen, dort eines Tages doch noch akzeptiert zu werden, aufzugeben und nahm sich vor, zu gegebener Zeit einen neuen Versuch zu unternehmen. Vorerst aber ließ sie die Sache auf sich beruhen, äußerte nur hin und wieder einige Worte des Bedauerns über die Vergeblichkeit ihrer Bemühung. Darüber hinaus war sie eine passionierte Pilzesammlerin. Er hingegen fand daran keinen besonderen Gefallen, war jedoch bereit, seinen solidarischen Beitrag zu leisten, unter anderem auch, sogenannte Krause Glucken, so gut es eben ging, von Tannennadeln, Erde, kleinen Steinen, lebendem und totem Ungeziefer zu befreien. Auch von solchen Gewächsen, deren Entdeckung für sie jedes Mal ein Highlight, ein Anlass zu besonderer Freude war, hatte er zuvor noch nie gehört, geschweige denn gegessen. Zum Glück gehört Pilzesammeln nicht zu den ganzjährigen Beschäftigungen. Außerdem hatte er gegen ein wenig frische Luft nichts einzuwenden, wenn ihm andererseits auch flotte, zielstrebige Spaziergänge lieber waren, als verhaltenen Schrittes, leicht gebückt und gesenkten Blickes mäandernd über den Waldboden zu schlurfen wie ein streunender Hund im Zeitlupentempo. Auch ihre Begeisterung für das Kino konnte er so nicht teilen, obwohl auch er einige quasi persönliche Kultfilme hat, die er sich hin und wieder mit gleichbleibender Begeisterung anschaut. Letztlich aber profitierte er von ihren diversen Interessen. Das Leben mit ihr wurde zweifellos interessanter und ereignisreicher, wurde durch die raschere Abfolge äußerer Ereignisse in gewisser Weise verdichtet, entmonotonisiert. So planten sie unter anderem regelmäßig an den Wochenenden gemeinsame Unternehmungen, besuchten Kabaretts, Off-Theater, Lesungen, Museen – was er ausnahmslos als interessante und willkommene Abwechselung empfand, sofern ihn das nicht zu lange von eigenen Vorhaben abhielt. Ihr hingegen waren solche Unternehmungen offenbar weit wichtiger. Sie sei mehr als glücklich, ihn gefunden zu haben In der ersten Zeit schlossen sie sich drei miteinander befreundeten Leuten an, die jede Woche an ihrem jour fix gemeinsam ins Kino gingen und anschließend meistens noch in ein Restaurant. Sie blieben jedoch nicht lange dabei, zum einen weil er eben doch kein so begeisterter Kineast ist, zum anderen weil sie sich durch die Frau in der Gruppe abgelehnt fühlte, was ihm selbst zwar nicht aufgefallen war, andererseits wiederum nichts besagen muss. Offenbar gibt es vieles, was ihm nicht auffällt, und mit dieser Meinung steht er keineswegs allein da. Entsprechende Bemerkungen hat er des Öfteren zu hören bekommen, nicht nur von ihr. Diese Unternehmungen waren allerdings auch nicht ganz undelikat, da die Bekannte eine ehemalige, wenn auch nur kurz­zeitige, Freundin seiner Frau war. In der Hinsicht scheint er, im Gegensatz zu vielen, sich diesbezüglich offensichtlich schwerer tuenden, eher zur Betretenheit neigenden, nicht nur mit einer gewissen Unbedarftheit gesegnet zu sein, mehr noch, er findet an solchen Kon­stellationen, Grenzsituationen des gerade noch Akzeptablen, durchaus einen gewissen Gefallen. So mochte er es sich zum Beispiel auch nicht versagen, sich bei Helmut, einem ehemaligen Kommilitonen, im Beisein von dessen Frau und der Mutter beim gemütlichen Kaffeetrinken in der guten Stube nach dessen ehemaliger Freundin zu erkundigen. Er konnte – und wollte! – es einfach nicht lassen. (Man gönnt sich ja sonst nichts.) Schlingel, er! Als sie eines Abends an einem Wochenende – sie kannten sich noch nicht lange – das Haus verließen, um in die Stadt zu fahren, bot sie ihm an, ihm einen Schlüssel zu ihrer Wohnung zu geben, was er jedoch als nicht unbedingt notwendig betrachtete, da er ohnehin nicht vorhatte, in ihrer Abwesenheit in ihre Wohnung zu gehen. Während der Autofahrt sprach sie so gut wie kein Wort mit ihm, was er zwar recht ungewöhnlich fand, worüber er sich aber – wie es halt seine Art ist – andererseits keine großen Gedanken machte. Nachdem sie an ihrem Ziel angekommen und ausgestiegen waren sagte sie, für ihn völlig überraschend, er solle aufpassen, zwischen ihnen nicht alles kaputt zu machen. Sie hatten während der Fahrt kurz eine kontroverse Diskussion über das korrekte Verhalten in einer bestimmten Verkehrssituation gehabt, darum vermutete er den Grund ihrer ungehaltenen Reaktion darin, dass sie ihm die Meinungsverschiedenheit nachtrug und machte eine entsprechende Bemerkung. Daraufhin erst erfuhr er, dass der abgelehnte – in ihren Augen sicher verschmähte – Wohnungsschlüssel die Ursache ihres Unmuts war. Natürlich hätte er sich den Grund ihrer ungehaltenen Reaktion denken können – ebenso wie die Wirkung, die das Zurückweisen des Schlüssels auf sie haben musste. In manchen Situationen jedoch reagiert er bar jeder Intuition, gefangen wie ein homo faber im ausschließlichen Nützlichkeitskalkül, eine Sache allein unter dem Aspekt der Zweckdienlichkeit, der Praktikabilität betrachtend. Er war nicht in der Lage, den symbolischen Gehalt ihres Angebots zu erkennen. Das Ablehnen ihrer Offerte bedeutete ihm in dem Moment nicht mehr als etwa den Verzicht auf ein Werkzeug für eine Arbeit, die er ebenso gut mit bloßen Händen verrichten kann. Ihr Angebot schon allein aus Freundlichkeit nicht abzulehnen, darauf kam er nicht. Für ihn war der Schlüssel in dem Moment nur ein Gegenstand, den er nicht unbedingt benötigte. Wie dem auch sei, das Gesprächsthema an dem Abend war damit vorprogrammiert. Zudem fand sie die Artikulation und Gestik der rus­sischen Sängerin, deretwegen sie eigentlich gekom­men waren, stark übertrieben, gekünstelt, affektiert, vermutete schließlich sogar im Drogenkonsum die Ursache für deren Gebaren. Seine Ablehnung ihres Vorschlages, sich ebenfalls ein Mobiltelefon anzuschaffen, hatte zum Glück eine unvergleichlich weniger starke Reaktion zur Folge. Dass kurz nachdem sie ihn zu überreden versuchte, sich ein Fahrrad zuzulegen, ihres gestohlen wurde, sah sie als Zeichen, dass er keinen Wert darauf legt. Sie sei sehr glücklich mit ihrer Beziehung, nur wenn sie fehlinterpretiere, dass irgendwelche nicht vorhandenen Details seines Verhaltens auf Desinteresse hindeuten könnten, bekomme sie Verlustangst. Deshalb tue es ihr natürlich gut, wenn er ihr Nettigkeiten sage, er solle sich aber nicht unter Druck setzen. Er dachte darüber nach, wie es um seine Nettigkeiten ihr gegenüber bestellt war und musste zugeben, dass sie sich in recht engen Grenzen hielten, er sie andererseits aber auch kaum kritisierte. Im Vergleich zu ihr waren seine Äußerungen moderat. Neither a borrower nor a lender be. Im Gegensatz zu ihm brachte sie praktisch jeden Gedanken unmittelbar und ungefiltert zum Ausdruck, was einerseits ehrlich war, andererseits zum Teil auch befremdend. Ohne Zweifel hatte sie etwas von einer femme sans gêne! Ob sein Verhalten ihrem vorzuziehen ist, dafür würde er allerdings seine Hand lieber nicht ins Feuer legen.

Die Therapeutin und er

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