Читать книгу Die Therapeutin und er - Gunther Dederichs - Страница 7

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Sie hatten sich entschieden, eine gemeinsame Wohnung zu suchen, in der – zum einen aus praktischen und finanziellen Gründen, zum anderen wegen des nicht allzu guten Verhältnisses zu ihren beiden Kolleginnen – auch Platz für eine eigene Praxis sein sollte.

Einige Tage nach dem ersten diesbezüglichen Gespräch schrieb sie ihm ihre Überlegungen zu der anvisierten gemeinsamen Wohnung.

Sie stellte sich eine Villa mit großen Räumen vor, mit einem Zimmer für jeden, einem großen Gemeinschaftsraum, einer großen Wohnküche und einem gemeinsamen Kreativraum. Seine Mutter [sie sprach zu der Zeit von seiner Mutter noch in liebevoller Weise als von seiner Mama] könne auch dort wohnen, schließlich auch ihre Mutter nach dem Tod des Vaters. Vielleicht könnte man ein paar junge Leute für das Projekt gewinnen, ihren Sohn, seine ältere Tochter, die Tochter einer Freundin zusammen mit ihrem Freund. Zudem könne sich ihr Bruder, der wegen seiner günstigen Miete und der Kinderlosigkeit immer das Problem habe, sein Geld unterbringen zu müssen, beim Kauf des entsprechenden Hauses beteiligen; auch die Freundin, die einiges Geld habe, wenn deren Mutter demnächst sterbe. Auch eine große Einweihungsfete mit einem leckeren Buffet habe sie sich schon ausgemalt. Es war die Art von Vorschlägen zu denen ihm stets nur die Verlegenheitsantwort einfällt, es handele sich zugegebenermaßen um einen interessanten Gedanken. Zwar hatte auch er schon von der zweifelsohne gut gemeinten Empfehlung Think big! gehört und im Prinzip nichts dagegen einzuwenden, nichtsdestoweniger hielt er ihre Ideen nicht nur für ziemlich unrealistisch, vor allem aber das Einkalkulieren des nicht mehr allzu fernen Ablebens zweier Menschen, darunter auch das des leiblichen Vaters, sowie der Ersparnisse ihres Bruders waren ihm zu starker Tobak. Wo blieb da ihre sensible Seite? Beim Lesen ihrer Zeilen fiel ihm wieder ein, dass sie ihm gesagt hatte, sie werde wahrscheinlich länger leben als er. Obwohl einige Fakten, unter anderem die längere Lebenserwartung von Frauen, durchaus für ihre Vermutung sprechen und ihm der Gedanke, sie könne ihn überleben, keineswegs schlaflose Nächte bereitete, war ihm die Unverblümtheit ihrer Feststellung nicht recht geheuer. Es war nicht so, dass er in der Hinsicht etwas verdrängen wollte, nicht einmal seinen unvermeidbaren Tod, dennoch schien ihm ihre damalige Äußerung ebenso unangebracht als wenn sie ihm etwa auf den Kopf zu sagen würde, er sei vielleicht schon in einem unheilbaren Stadium krebskrank und bereits in wenigen Wochen daran gestorben, eine Bemerkung, an der es zugegebenermaßen ebenfalls sachlich nichts zu beanstanden gäbe. Die erste Begegnung zwischen ihr und seiner Mutter fand anlässlich deren Besuchs bei ihm statt. Seitdem er aus der Wohnung seiner Frau ausgezogen war, besuchte seine Mutter ihn alle paar Monate über das Wochenende. Ihr Beisammensein zu dritt in seinem schlauchartigen Wohnzimmer nahm den Verlauf, den seiner Meinung nach jedes Treffen in solcher Konstellation nehmen sollte, um zu vermeiden, dass jemand Schaden an Geist und Seele nimmt: Er, der einzige Mann also unter den Frauen, zog sich nach einer Weile dezent zurück, um zum einen das Abarbeiten der vor allem um persönliche Belange kreisenden Gesprächsthemen nicht zu stören, zum anderen um sich selbst vor wiederholtem Anhören eben dieser Themen zu schützen, denn ihm war natürlich all das, was die beiden sich aller Voraussicht nach zu erzählen haben würden, seit langem hinlänglich vertraut. Nach dem ersten Kennenlernen hatte man noch nichts gegeneinander einzuwenden. Auch hier gibt es offenbar eine Art Inkubationszeit. Gut Ding braucht Weile und Rom wurde schließlich auch nicht an einem Tag erbaut, wie seine Mutter ihm gegenüber des Öfteren betont hatte, wenn es darum ging, Geduld als Tugend hinzustellen oder ein allzu langsames Vorankommen in irgendeiner Sache zu rechtfertigen. Einige Tage später informierte sie ihn, ihr Sohn habe seinen Besuch bei ihr angekündigt. Sie wolle deshalb von ihm wissen, ob er mit der vereinbarten Zeit einverstanden sei. Er fand die Frage jedoch ziemlich unangebracht. Für ihn war es selbstverständlich, dass sie – wie er es ihr gegenüber in bewusst altbackenem Duktus formulierte – ihr eigen Fleisch und Blut so oft bei sich haben kann, wie sie möchte und fügte noch hinzu, dass es das Natürlichste von der Welt sei, dass ihr Sohn stets der wichtigste Mensch für sie sei. Sie begriff das jedoch eher als Affront, als Relativierung des Wertes und der Verbindlichkeit ihrer Be­ziehung, was er im Grunde bereits befürchtet hatte. Dennoch – oder gerade deshalb – konnte er der Versuchung zu der Bemerkung nicht widerstehen. So ist er halt. Eines Abends entschied er sich, eine Weste überzuziehen, die er seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Als sie ihn beim Betreten seiner Wohnung darin erblickte, zuckte sie leicht zusammen, schnappte nach Luft, hielt kurz den Atem an und riss die Arme in Schulterhöhe nach oben, dabei die Finger wie in einer abwehrenden Geste spreizend. Jedes Mal wenn sie erschrickt, macht sie diese reflexartige Bewegung, wie jemand, der bei einem Überfall mit vorgehaltener Waffe aufgefordert wird, die Hände hochzunehmen. Anschließend bemerkte sie, er komme ihr darin vor wie ein alter Mann, woraufhin er die Weste wieder auszog und in den Schrank zurücklegte. Er ließ die Sache auf sich beruhen, da er weder Lust hatte noch einen Sinn darin sah, lang und breit darüber zu diskutieren. Was ihn an dem Vorfall desillusionierte, auf den Boden der Tatsachen zurückholte, war ihre seiner Mei­nung nach unverhältnismäßige Reaktion, was er allerdings nicht persönlich nahm. Es störte ihn nicht so sehr, alt zu erscheinen. Seine Empfindungen wären dieselben gewesen, hätte sie die Bemerkung über jemand anderen gemacht. Seine Ent-Täuschung war sogar weniger stark als bei ihrer Charakterisierung des Tragens einer Strickhose als weibisch, weil diesmal zumindest keine Verachtung mit im Spiel war. Dass man niemanden grundlegend ändern kann, ist eine Binsenweisheit. Entweder findet er sich mit ihren Eigenheiten und Idiosynkrasien ab oder beendet die Beziehung. Nach dem Abendessen unterhielten sie sich, schon ein wenig müde, über irgendwelche belanglosen Dinge. Im Radio war der von ihm bevorzugte Sender eingestellt, in dem überwiegend klassische Musik zu hören ist. Häufig moderierte ein Sprecher, dessen offenkundige Begeisterung für sein Metier sich unter anderem auch in dessen emphatischer Artikulation manifestierte. Ihm selbst gefiel diese Art. Er fand sie recht sympathisch und amüsant. Nach einer Weile begann sie, den Sprecher mit angewiderter Mimik nachzuäffen. Auf seine diesbezügliche Frage entgegnete sie, sie finde den Moderator affektiert. Er hingegen fand ihre Reaktion übertrieben und konnte sich solch ein Verhalten eigentlich von nie­mandem sonst vorstellen, in jedem Fall nicht in der Schärfe und Unversöhnlichkeit, mit der sie ihre Aversion zum Ausdruck brachte. Es gab da in ihr ein Potenzial an Hass- und Verachtung, was jederzeit völlig unerwartet ausbrechen konnte. Er fragte sich, was bei ihr noch alles im Inneren kochte und brodelte. Welche Spannungen, welcher Druck baute sich dort immer wieder von neuem auf, der sich unversehens von einer Sekunde auf die andere entlud? Es war ihm unverständlich, wie jemand einerseits zu solch schroffer, schon beinahe hasserfüllter Reaktion fähig ist, andererseits wiederum ein enormes Bedürfnis nach Zuwendung hat und an bestimmten Dingen offensichtlich extrem leidet. Seiner Meinung nach ist man entweder nicht besonders gefühlvoll, hat dann eben auch keine Hemmungen, solch ein Verhalten an den Tag zu legen, investiert in seine Beziehungen entsprechend wenig Gefühle, nimmt zum Beispiel eher eine Position ein wie etwa die, der andere solle nicht so klammern, nicht so empfindlich sein, oder aber man ist grundsätzlich zarter besaitet, tendiert mehr zur Wertherschen Mentalität, ist dann aber auch entsprechend liebevoll gegenüber anderen und hat konsequenterweise auch kein Bedürfnis, auf Menschen, mit denen man zudem keine negativen Erfahrungen gemacht hat, mit einem solchen Ausmaß an Ablehnung zu reagieren. Diese Nicht-Fisch-und-nicht-Fleisch-Mentalität war ihm unverständlich. Zu kompliziert, zu undurchsichtig, das Ganze. Für ihn stellten solche Ausbrüche an Feindseligkeit automatisch alles infrage, was er an ihr liebens­wert und sympathisch fand. Jedenfalls wäre sie nicht der erste Mensch, dessen Überspanntheit seiner Fähigkeit zu positiven Gefühlen eine unverrückbare Obergrenze gesetzt hat. Mag sein, dass er da zu empfindlich reagiert. Zu ihren Leidenschaften gehören auch die von ihr regelmäßig im Abstand einiger Wochen organisierten Spieleabende, an denen außer ihm noch ihr Sohn (Psychologiestudent), dessen Freund (Sohn der Babuschka, sich in sozialpädagogischer Richtung orientierend, kein Psychologiestudent also, aber in der Runde dennoch wohlgelitten und akzeptiert) und Hanna, die Tochter der Psychologen-Freundin aus ihrem vorherigen Wohnort (ebenfalls Psychologiestudentin), mit ihrem Freund teilnahmen. Eines der bei ihnen beliebtesten Spiele war übrigens – wie könnte es anders sein? – Therapy. Zu dem, was ihm von dem Spiel noch im Gedächtnis ist, gehört die Erklärung auf eine entsprechende Frage, Krieg sei kein Ventil für Gewalt, sondern stimuliere sie. So hat er also, auch wenn er schon wegen des professionellen Wissensvorsprungs seiner Gegnerschaft in diesem quasi asymmetrischen Krieg kein einziges Mal gewinnen konnte, zumindest einen Erkenntnisgewinn daraus gezogen. Es würde ihn allerdings interessieren, ob mit der Information über gewalttätiges Verhalten das vor allem in den Siebziger- und Achtzigerjahren häufig vor­getra­gene – vulgärpsychologische? – Argument ad absurdum geführt ist, demzufolge sich Aggressionen gemäß dem Hydraulik-Modell quasi von selbst aufbauen und somit nur durch regelmäßiges Dampfablassen emotionaler Druck abgebaut, sozusagen das Schlimmste, die Explosion der Kessels, die psychische Kernschmelze verhindert werden kann. Denn dass insbesondere unsere lieben Kleinen sich doch – wie seinerzeit gern ins Feld geführt wur­de – irgendwie abreagieren, ihren Aggressionen freien Lauf lassen müssen, war in jedem sich auf der Höhe der Zeit befindenden, den antiautoritären Prinzipien mehr oder weniger verhafteten Kin­derladen die beinahe alles verzeihende, bei entsprechender Gelegenheit stets präsentierte Binsenweis­heit, womit so gut wie jede puerile Delinquenz zur quasi psychischen Notwendigkeit, psychohygienischen Notwehrreaktion, zur anthropologischen Konstante (v)er­klärt und der die Grundsätze zivilisierten Miteinanders auch im Kleinkindmilieu Einklagende in die reaktionäre Ecke gestellt wurde, in jenen Dunstkreis des Bösen, in dem einst infolge des restriktiv-autoritä­ren Gebarens von erziehungsberechtigter Seite zukünftige, den Zivilisationsbruch exekutierende SS-Schergen und KZ-Aufseher herangezüchtet wurden und man bis heute aus der Geschichte nichts gelernt hat. Jeder, der etwa die Memoiren von Rudolf Höß gelesen hat, sollte nach damaliger Kinderladenkinderelternmain­streamüberzeugung begriffen haben, zu welchen menschlichen, mehr noch: historischen Großkatastrophen es führt, wenn der nach Kreativität und Selbstverwirklichung quengelnde Nachwuchs rigiderweise um das Spaßvergnügen betrogen wird, etwa die frisch geputzten Fensterscheiben mit Farbe zu beschmieren oder die Tastatur des bildungsbürgerlich-reaktionären Klaviers entwicklungsspezifisch zu traktieren und die durch derart restriktive Erziehungsmethoden depravierten, seelisch verletzten kleinen Racker überhaupt nicht anders können als ihren Kindern konsequenterweise ebenfalls wieder zu verbieten, Klaviertastaturen zu traktieren, denn sie waren ja selbst wehrlose Opfer von Restriktionen und Unterdrückung. Leider hat er nie mit ihr – natürlich in unpolemischem Duktus – über dieses Thema gesprochen. Bei irgendeiner Gelegenheit erzählte sie ihm, Hanna habe sie, nachdem sie zum Studieren hierher gezogen sei, treuherzig gefragt: »Du bist doch jetzt meine Ersatzmutter, oder?« Sie hatte sich mit ihrem gutmütigen runden Gesicht, den warmen dunklen Kulleraugen und ihrem Wuschelkopf noch etwas von der Aura eines unbedarften Kindes bewahrt und ins Erwachsenenalter hinübergerettet. Er hat noch das Foto vor seinem geistigen Auge, das ein offensichtlich bambinophiler Mensch während eines Urlaubs von ihr gemacht hatte. Die Mutter war damals mit ihr nach Italien gereist. Man hatte sie für das Foto auf eine Mauer gesetzt, von dort schaute sie nun ein wenig nachdenklich und versonnen in die Kamera. Die Aufnahme hing im Flur in der Wohnung der Mutter, sodass man auf dem Weg zum Wohnzimmer daran vorbeikam. Er hatte es sich jedes Mal wieder von neuem angeschaut. Ihn betrachtete Hanna, seine Fehler und Schwächen durchaus erkennend, mit einer Art verhaltener, gutmütiger, nachsichtiger Ironie. Nicht weniger sympathisch und liebenswert als sie war der Freund. Er selbst hätte zu seiner Zeit an der Universität kaum jemanden so eingeschätzt, solch eine Ersatzmutterfrage zu stellen. Entweder sieht er inzwischen Frauen in ihrem Alter mit anderen, objektiveren Augen, oder sie sind heute tatsächlich anders geartet, oder aber Hanna ist nur eine die Regel bestätigende Aus­nahme. Sie hatte ihm erzählt, Hanna würde gern mit ihrem Freund zusammenziehen, der aber wolle damit noch warten. Es ist stets dasselbe Spiel, hatte er gedacht. Die Binsenweisheit, dass es im Allgemeinen die Frau ist, die sich die Beziehung enger, intensiver, unbedingter, ausschließlicher, absoluter wünscht, hatte sich von neuem bestätigt. In Gegenwart der beiden erinnerte er sich wieder an die Zeit und seine mentale Verfassung, als er sich in ihrer momentanen Lebensphase befand, wobei er nicht umhin konnte, sich einzugestehen, dass er – wie Rainer das nannte, in Bezug auf ihn jedoch, wohl aus freundschaftlicher Rücksichtnahme, so unverblümt nie geäußert hatte – in mancher Hinsicht ein verdammt armer Willi gewesen war, sei es aus genetisch bedingter Unzulänglichkeit, sei es durch eigenes Verschulden. Die Titulierung armer Willi wurde seinerzeit häufig von Rainer verwendet, womit er zugleich auch noch den Wortschatz ihrer Wohngemeinschaft bereicherte. Der Begriff bedurfte keiner weiteren Erläuterung, da jeder unmittelbar eine Vorstellung von des­sen Bedeutung besaß. Ein armer Willi war jemand, der – sei es aus Unvermögen, sei es aus Bequemlichkeit – nicht in die Gänge kommt, entscheidende Dinge nicht auf die Reihe kriegt, ein Herumdümpeler, eine taube Nuss, ein Underdog, ein psychischer Grenzgänger, ein emotional Bedürftiger, ein Tonio-Kröger-Ver­schnitt, jemand, dessen Verhalten nicht selten eine gewisse Beklemmung hervorruft. Ihm selbst war sehr wohl bewusst, dass er, zumindest was sein soziales Verhalten beziehungsweise dessen Nichtvorhandensein betraf, eben auch nur ein armer Willi war, vielleicht zum Teil heute noch ist. Da macht er sich nichts vor. Jemand wie Hanna, das wäre es gewesen. Dafür aber hätte er erst einmal selbst eine entsprechende Entwicklung zustande bringen müssen. Von nix kommt nix. Kurzum: Die Hanna-Klasse war angesichts seines damaligen Zustandes für ihn schlicht unerreichbar, kam also lediglich in seinen Tagträumen vor. Dort allerdings war sie – wie hätte es anders sein können? – praktisch omnipräsent. Wer sich zu Studentenzeiten für ihn interessierte, gehörte entweder zu denen, die ohnehin – wie eine Bekannte es metaphorisch formulierte – niemanden anbrennen ließen oder aber sie waren ebenfalls leicht daneben, in irgendeiner Weise grenzwertig, wie sie das nenne würde. Gleiches zu Gleichem! Was Gesellschaftsspiele anbelangt, hatte er sie nur als Kind und Jugendlicher gespielt, meistens während der Besuche seiner Mutter bei Freunden, wenn er sich mit den beiden Töchtern und hin und wieder mitspielenden Erwachsenen quasi schwerelos die Zeit vertrieb. Beim Memory hatte er übrigens ausnahmslos verloren, während die jüngere Tochter fast immer gewann. Er ist noch heute der Überzeugung, einen Blick für den Typ von Frauen zu haben, der bei dem Spiel mit weit überproportionaler Häufigkeit gewinnt. Einmal hatte er einer Bekannten gegenüber diese Vermutung geäußert, was ihm mit verschmitztem Lächeln bestätigt wurde. Abgesehen von diesen Besuchen – den konkurrenzlosen Sternstunden seiner ersten anderthalb Jahrzehnte – hatte er hin und wieder mit seiner Großmutter und deren Freundin Karten gespielt, auch recht früh von einem Onkel Schach gelernt, mangels Gegnern aber meistens Partien aus einem Lehrbuch oder gegen sich selbst gespielt, aus einem ihm unerfindlichen Grund stets hoffend, dass Weiß gewinnt, was – welch Wunder! – ohne Lehrbuchvorlage auch prompt geschah. Irgendwann aber war diese Zeit vorbei. Sich nach so vielen Jahren wieder an Gesellschaftsspielen zu beteiligen, war anfangs durchaus gewöhnungsbedürftig, schließlich aber fand er sogar Spaß daran. Allerdings offenbarte sich dabei wieder einmal sein Unvermögen, sich über längere Zeit unter Menschen wohl zu fühlen. Ganz gleich, mit wem er zusammen ist, nach spätestens zwei Stunden wird er unruhig und hat das Bedürfnis, sich zurückzuziehen und seinen eigenen Neigungen nachzugehen. Wahrscheinlich gelang es ihm auch während der Spieleabende nie, seine aufkommende Ungeduld ganz zu verbergen. Menschen strengen mich an, hatte irgendjemand einmal bemerkt. Ihm geht es leider auch nicht sehr viel anders. An einem dieser Abende hatte sie außer den üblichen Teilnehmern noch eine Bekannte und deren kleinen Sohn eingeladen, ihn aber zuvor ermahnt, sich nicht in die Frau zu vergucken. Er hatte sich dann auch nicht in die potenzielle Nebenbuhlerin verguckt, trotz ihrer Warnung, sich nur gewundert, dass ihr solche Gedanken offenbar häufiger durch den Kopf gehen und sie das auch noch ganz unverblümt zum Ausdruck bringt. Er selbst hegte ihr gegenüber keine solchen Befürchtungen; anderenfalls hätte er das –schon aus quasi ermittlungstaktischen Erwägungen – für sich behalten. Sie war von einer Bekannten zur Geburtstagsfeier eingeladen, einer bildenden Künstlerin, die sie bei einem ihrer Volkshochschulkurse kennengelernt hatte. Sie wohnte in einer großräumigen Altbauwohnung in einer bei Künstlern, Kreativen und Alternativen angesagten In-Gegend. Zu der Feier hatten sich etwa zwei Dutzend eher unkonventionelle Leute eingefunden. Jeder schien jeden zu kennen und begeistert zu sein, die anderen wieder einmal zu Gesicht zu bekommen. In Situationen wie dieser ist es ihm stets eine Erleichterung, ein möglichst großes Glas Bier – zur Not tut es auch ein Weinglas – in der Hand zu halten, womit er sich während der kommunikationslosen Zeitintervalle beschäftigen, woran er sich gewissermaßen festklammern kann. Wie zu erwarten stand man mal hier, mal dort zu zweit oder in kleinen Gruppen zusammen, redete mit diesem und jenem, aß nebenbei von den mitgebrachten Salaten und diversen kalten Platten und nippte hin und wieder beiläufig an seinem Glas. Auch sie, die sie zumindest einige Leute dort kannte, wechselte von Zeit zu Zeit Standort, Gesprächspartner und -thema, wenn sie nicht gerade bei ihm war. Ansonsten besichtigte man interessiert das Atelier, lobte großzügigen Zuschnitt und Ambiente der Wohnung, vor allem jedoch die überall und in großer Zahl herumstehenden Ergebnisse der künstlerischen Bemühungen der Gastgeberin, warf einen Blick aus dem Fenster über den weitläufigen Platz, äußerte sich nicht wenig erstaunt über den in diesem Viertel eigentlich nicht selbstverständlichen ungehinderten Ausblick und genoss, wie stets bei solchen Anlässen, das unausgesprochene Einverständnis, sich gegenseitig mindestens sympathisch zu finden. Ich bin in Ordnung, du bist in Ordnung, wir alle sind in Ordnung, das Milieu, das wir verkörpern und hier gemeinsam zelebrieren, ist zumindest okay, wenn nicht gar das denkbar erstrebenswerteste überhaupt. Mit uns allen, die wir hier mehr oder weniger dicke Kumpel sind, ist im Großen und Ganzen alles aufs Beste bestellt, kurzum: Es ist alles gut so, wie es ist. Dass er außer ihr niemanden kannte, störte ihn nicht weiter. Er hätte es mit der Zeit ohnehin einigermaßen anstrengend gefunden, sich permanent unterhalten zu müssen. Zudem war er mit seinem Beobachterstatus ganz zufrieden. Sitting on the fence war bei weitem nicht die schlechteste Option. Wahrscheinlich aber ist auch das eine der nicht wenigen von ihm vertretenen Minderheitenmeinungen. Bald darauf feierte die Babuschka-Freundin ihren Geburtstag, wozu er ebenfalls eingeladen war. Da er an dem Tag länger als sonst zu tun hatte, kam er erst später hinzu. Abgesehen von ihr, der Freundin und deren miteinander befreundeten Söhnen – neben ihm die einzigen männlichen Vertreter – kannte er dort niemanden. Nach einer kurzen Begrüßung setzte er sich auf einen Stuhl in die Nähe des Büffets, das neben der Wohnzimmertür aufgebaut war, und holte erst einmal das während seiner Arbeit versäumte Mittagessen nach, was jedoch nicht der eigentliche Grund war, sich nicht an der Unterhaltung zu beteiligen und stattdessen nur halb interessiert zuzuhören. Was seine Teilnahme an den Gesprächen praktisch unmöglich machte, war, dass es – wie kaum anders zu erwarten – überwiegend um persönliche Belange und Erlebnisse ging, zu denen er als quasi Uneingeweihter, Außenstehender bar jedes internen Grundwissens ohnehin nichts beitragen konnte. Als er schließlich in die Küche ging, um sich etwas zu trinken zu holen, kam sie ihm sogleich nach und bat ihn eindringlich, sich zu ihr zu setzen, was er – inzwischen einigermaßen gesättigt – dann auch widerspruchslos tat. So nahm er also neben ihr Platz, verfolgte mit mäßigem Interesse die von femininer Befindlichkeit durchtränkte Unterhaltung und hing, soweit möglich, seinen eigenen Gedanken nach. Auf der Rückfahrt warf sie ihm vor, sich von ihr ferngehalten und praktisch nicht um sie gekümmert, sich ihr gegenüber benommen zu haben, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Er wiederum sah das, wie so häufig, weit weniger dramatisch und konnte auch diesmal ihre extreme Reaktion nicht nachvollziehen, zumal sie unter ihren Bekannten keineswegs eine Außenseiterin war, stattdessen etliches zu sagen wusste, was auch durchaus auf Resonanz stieß. Die weitere Diskussion darüber führte erwartungsgemäß zu keinem Ergebnis. Unter anderem auch um das Thema zu wechseln erkundigte er sich näher nach der Freundin. Als er deren exotischen Vornamen zur Sprache brachte, erfuhr er, sie sei in früheren Jahren Bhagwan-Anhängerin gewesen und habe damals den Namen angenommen. Anfang Dezember verabredeten sie sich mit einigen seiner Bekannten, darunter auch Helmut, einem ehemaligen Kommilitonen aus der Wohngemeinschaft und dessen Frau, auf einem der Weihnachtsmärkte, durch den sie sich, mit Glühweinpausenunterbrechung, im Samstagabendgedränge halb schlendernd, halb schlurfend, im Stop-and-go-Modus geduldig von Stand zu Stand voranschoben. Dass eine Bekannte, wie Helmut ebenfalls zur Wohngemeinschaftsclique gehörend, die bei früheren gemeinsamen Treffen stets mit von der Partie gewesen war, diesmal nicht gekommen war, sah sie in der Ablehnung ihrer Person begründet, deren Ursache sie darin vermutete, dass sie als Konkurrentin seiner Noch-Ehefrau – auf diese Sprachregelung hatten sie sich stillschweigend geeinigt – betrachtet wurde. Er konnte ihre Überzeugung ebenso wenig nachvollziehen wie ihren Einwand gegenüber dem Vorhaben der Bekannten, ihm ein Geschenk zu machen, was sie als nicht angemessen empfand. Eines Sonntagabends war sie damit beschäftigt, selbstgebastelte Geschenke für Freunde und Verwandte einzupacken. Er stand neben ihr und schaute ihr zu, wie sie bedächtig, geradezu hingebungsvoll bei der Sache war, ganz und gar auf ihre Arbeit konzentriert. Er dachte daran, wie er als Kind ganze Nachmittage mit Basteleien, Handwerkeleien und dem reihenweisen, schon ans Fließbandartige grenzenden Vollmalen von Malblöcken verbracht hatte, sich ein Stück heile, harmonische Welt zusammenbastelnd, zusammenmalend, dabei ebenso absorbiert von seinem Tun wie sie. Plötzlich fragte sie ihn, was er seiner Tochter schenke. Als sie erfuhr, dass er sich bisher noch nicht darum gekümmert hatte, meinte sie nur: »Schrecklich!«, was zwar wieder einmal übertrieben war, andererseits aber auch, wie er zugeben muss, eine Portion Wahrheit enthielt. Seine mangelnde Aufmerksamkeit und Zugewandtheit gehören zweifellos zu seinen gravierendsten Defiziten. Gegen Ende des Jahres zog die Babuschka aus der Stadt fort. Am Abend davor kam sie noch einmal bei ihnen vorbei. Trotz der optimistischen Worte der Freundin über die sich ihr bietenden beruflichen Möglichkeiten an ihrem neuen Wohnort herrschte die ganze Zeit eine bedrückende Stimmung. Zum Schluss, als die Freundin kurz nach Mitternacht aufbrach, liefen ihr die Tränen über die Wangen. Die Babuschka versuchte, sie zu trösten, erwähnte noch einmal ihren baldigen Besuch und versprach, dass man ja sich weiterhin regelmäßig sehen werde, wenn auch in Zukunft in größeren Abständen. Nachdem die Freundin gegangen war, saßen sie noch eine Weile zusammen im Wohnzimmer. Sie erzählte ihm wieder von deren unglücklicher Beziehung, dass ihr Partner sie bereits seit längerem verlassen und Verhältnisse mit anderen Frauen habe, dennoch von Zeit zu Zeit bei ihr auftauche und dann einige Stunden lang scheinbar wieder alles in bester Ordnung sei. Sie verstehe die Inkonsequenz der Freundin nicht, die dieses entwürdigende Spiel, offenbar nichts daraus lernend, weiterhin mitmache, statt konsequent zu sein und dem unerfreulichen Zustand ein Ende zu bereiten, zumal sie es schon von Berufs wegen besser wissen müsse, wie sie ausdrücklich betonte, wie jedes Mal, wenn das Gespräch auf das Thema kam. Das Verhalten des Freundes erklärte sie mit dessen Beziehungsunfähigkeit, wogegen dieser jedoch partout nichts unternehmen wolle und jede professionelle Hilfe in der Richtung strikt ablehne. Abschließend bekräftigte sie noch einmal, wie wichtig die Freundin ihr sei, dass sie die erste überhaupt und die einzige gewesen sei, die sie hier in der Stadt gehabt habe, die übrigen Frauen, die sie kenne, seien bestenfalls gute Bekannte. Er wusste nicht, ob sie wegen ihrer starken Gefühle des Verlustes zu bedauern oder doch eher zu beneiden war. Nachempfinden konnte er das nur, wenn er sich wieder seine – längst der Vergangenheit angehörenden – ei­genen entsprechenden Empfindungen in ähnlichen Situationen ins Gedächtnis zurückrief. Es gab damals in seinem Dorf einen jungen Mann, Christian, der etwa zehn Jahre älter war als er, den er – richtiger- oder fälschlicherweise – als Freund betrachtete und dessen Gesellschaft er suchte. Bald nachdem Christian seine Lehre beendet hatte, war er fortgezogen und kam dann nur noch wenige Male im Jahr zurück, um seine Mutter zu besuchen. Wenn er nach einigen Tagen – viel zu früh – wieder fortfuhr, ohne sagen zu können, wann er das nächste Mal kommen wird, bekam er wieder dieses Gefühl des Verlassenseins. Alles schien ihm grau, in einer bestimmten Weise karg, als ob er sich ständig abmühen würde, ein steiniges, praktisch unfruchtbares Feld zu bestellen, auf dem ohnehin nie etwas wachsen wird. Wenn er der Mutter begegnete, zumeist wenn sie zu seinem Großvater zum Einkaufen kam, hatte er sie fast jedes Mal gefragt, wann Christian wieder zu Besuch kommt, meistens aber wusste sie das auch nicht. Mit der Zeit wurde es ihm auch unangenehm, immer wieder dieselben Fragen zu stellen, und die Mutter fand seine ständigen Erkundigungen wohl auch etwas merkwürdig. Einmal hatte Christian ihm versprochen, zu ihm zu kommen. Er war ihm dann entgegengegangen und hatte am Ende der Gasse, auf dem halben Weg, ungeduldig, immer wieder zur Uhr schauend, vergeblich auf ihn gewartet, noch eine ganze Weile nach der vereinbarten Zeit. Schließlich ging er wieder nach Haus. Zu seiner großen Freude war Christian bereits da. Er hatte einen anderen Weg genommen. Eine ähnlich essenzielle Bedeutung hatte für ihn nur noch das Zusammensein mit einigen Bekannten seiner Mutter und ein Treffen mit einer jungen Frau. Ein derart starkes Verlangen nach Menschen hat er später jedoch nicht mehr erlebt. Er hätte ihr seine Geschichte mit Christian erzählen sollen, ihm kam jedoch – auch das typisch für ihn – »so etwas« erst gar nicht in den Sinn. Gerade »so etwas« aber hätte zu einer gelungeneren Kommunikation und zu einer stärkeren Verbindung beitragen können. Hätte. Nun ja. Dieses starke Verlangen nach anderen Menschen ist im Laufe der Zeit so gut wie verschwunden. Er ist sich noch immer nicht im Klaren, ob das ein seelischer Reifungsprozess oder ein Prozess der Entmenschlichung ist, ein quasi vorzeitiger Tod des Herzens. Vielleicht aber liegt die Ursache auch in ferner Vergangenheit. Bei der Jagd nach dem Mammut und dem wilden Eber war kein Raum für solche Gefühle und es gab erst recht nichts groß zu quatschen. Das Kotelett in spe war auf der Hut, war gewarnt und machte sich stante pede vom Acker. Pech für den Jägersmann und obendrein eine Menge Stress beim Widersehen mit den hungrigen Mäulern daheim. Das allerdings wäre dann eine der komfortableren Erklärungen, Hand in Hand gehend mit einer anthropologisch unterfütterten Generalamnestie für sämtliche maskulinen emotionalen Defizite.

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