Читать книгу Die verlorene Handschrift - Gustav Freytag - Страница 5
Erster Theil
Erstes Buch
5.
Zwischen Herden und Garben
ОглавлениеDie Hofuhr schlug, Wagen rollten vor dem Fenster, die Glöckchen der Herde läuteten, als die Freunde erwachten. Einen Augenblick sahen sie erstaunt auf die Wände des fremden Zimmers und durch das Fenster in den sonnigen Garten. Während der Doctor Notizen einschrieb und das Bündel schnürte, trat der Professor hinaus in das Freie. Draußen hatte längst das Tagewerk begonnen, Beamte und Gespanne waren auf das Feld gezogen, geschäftig eilte der Hofverwalter um die offenen Scheuern, die Schafe drängten sich blökend vor dem Stall zusammen, von den Hunden umkreist.
Die Landschaft glänzte im Licht eines wolkenlosen Himmels. Ueber dem Boden schwebte noch der Dämmer, welcher das Licht der deutschen Sonne auch an hellen Morgen bändigt und mit seinem Grau versetzt. Noch warfen Häuser und Bäume lange Schatten, die Kühle der thauigen Nacht haftete an den schattigen Stellen und die kleinen Luftwellen trieben bald die Wärme des jungen Tageslichts, bald den erfrischenden Hauch der Nacht dem Gelehrten an die Wange.
Er schritt um die Gebäude und den Hofraum, um sich die Stätte zu begrenzen, die er von jetzt als eine fremdartige Erinnerung in der Seele tragen sollte. Die Menschen, welche hier wohnten, hatten ihm zögernd ihr Wesen aufgeschlossen, Manches in diesem einfachen Leben zwischen Haus und Flur erschien ihm lieb und begehrenswerth. Was hier Thätigkeit gab, Eindrücke und Willen, das konnte er zum größten Theil mit seinen Augen übersehen, denn die Aufgaben für jedes Leben, die Pflichten des Tages wuchsen aus dem Hofe und den Beeten der Landschaft, nach der Ackerscholle formten sich die Ansichten über das Fremde, beschränkte sich das Urtheil. Und lebhaft empfand er, wie tüchtig und glücklich die Menschen leben konnten, denen das eigene Sein so fest verwachsen war mit der Natur und den uralten Bedürfnissen der Menschen. Er selbst aber, welch andere Gewalten regierten sein Leben! Er wurde geführt durch tausend Einwirkungen alter und neuer Zeit, nicht selten durch Gestalten und Zustände der fernsten Vergangenheit. Denn was der Mensch treibt, ist ihm mehr als vergängliche Arbeit des Tages, und Alles, was er gethan, wirkt als ein Lebendiges in ihm fort; der Naturforscher, welchen die Sehnsucht nach einer seltenen Pflanze auf die steile Höhe führt, von der er den Rückweg nicht findet, der Soldat, den die Erinnerung an alte Kampfaufregung in neue Schlachten wirft, sie werden geleitet durch die Gewalt der Gedanken, welche ihre Vergangenheit in ihnen lebendig gemacht hat. – Natürlich! der Mensch ist kein Sklave dessen, was er gelebt hat, wenn er sich nicht dazu erniedrigt; sein Wille ist frei, er wählt, was er mag, und zerwirft, was er nicht bewahren will. Aber die Gestalten und Bilder, welche einmal in seine Seele gefallen sind, arbeiten doch unablässig ihn zu leiten, oft hat er sich gegen ihre Herrschsucht zu wehren, in tausend Fällen folgt er fröhlich ihrem leisen Zuge. Alles was war und Alles was ist, das lebt über seine Erdentage hinaus fort in jedem neuen Dasein, worein es zu dringen vermag, es wirkt vielleicht in Millionen, durch lange Zeiten, die Einzelnen und die Völker bildend, erhebend, verderbend. So werden die Geister der Vergangenheit, die Gewalten der Natur, auch was man selbst geschaffen und erdacht hat, ein unveräußerlicher, Leben wirkender Bestandtheil der eigenen Seele. Und lächelnd sah der Gelehrte, wie fremde, tausend Jahr alte Erinnerungen ihn selbst hierher unter Landsleute geführt hatten, und wie dem Manne, der hier herrschte, so sehr verschiedene Thätigkeit den Sinn und das Urtheil weit anders gestaltete.
Zwischen seine Gedanken tönte behaglich aus dem Stall das Brummen der Rinder. Aufblickend sah er eine Reihe geschürzter Mägde, welche die vollen Milcheimer nach dem Gewölbe trugen. Hinter ihnen ging Ilse im einfachen Morgenkleid, das blonde Haar glänzte gegen die Sonne wie gesponnenes Gold, frisch und kräftig schritt sie dahin wie der junge Tag. Der Gelehrte empfand Scheu, an sie zu treten, er sah ihr sinnend nach; auch sie war eine der Gestalten, welche fortan in seinem Innern fortleben sollten, ein Bild seiner Träume, vielleicht seines Wunsches. Wie lange? wie mächtig? – Er ahnte nicht, daß seine römischen Kaiser schon in der nächsten Stunde thätig sein sollten, diese Frage zu beantworten.
Quer über den Hof kam der Landwirth, er rief ihm den Morgengruß zu und frug, ob der Professor ihn auf einem kurzen Gange ins Feld begleiten wolle. Als die Beiden nebeneinander der Sonne entgegen schritten, beide tüchtige Männer und doch so verschieden an Haupt und Gliedern, in Haltung und Inhalt, da hätte wohl Mancher den Gegensatz mit warmem Antheil betrachtet, und nicht zuletzt Ilse; aber wer nicht die Augen eines Schatzgräbers oder Geisterbanners hatte, der konnte doch nicht bemerken, wie verschiedenartig das unsichtbare Gefolge kleiner Geister war, welches beiden um Schläfe und Schultern flatterte, Schwärmen unzählbarer Vögel oder Bienen vergleichbar. Die Geister des Landwirths waren in heimischer Wirthschaftstracht, blaue Kittel oder flatternde Kopftücher, darunter wenige Gestalten in den unbestimmten Gewändern von Glaube, Liebe, Hoffnung. Hingegen um den Professor schwärmte ein unabsehbares Gewühl fremder Gebilde mit Toga und antiken Helmen, in Purpurgewand und griechischer Chlamys, auch nacktes Volk in Athletentracht, und solche mit Ruthenbündeln und mit zwei Flederwischen an den Hüten. Das kleine Gefolge des Landwirths flog unablässig auf die Ackerbeete und wieder zurück, der Schwarm des Gelehrten achtete nicht sehr darauf und hielt sich gesammelt. Endlich blieb der Landwirth vor einem Flurstück stehen, sah liebevoll darauf und erzählte, daß er dies Stück durch Unterpflügen grüner Lupinen – einer damals neu eingeführten Cultur – gedüngt habe. Der Professor hielt überrascht an. In seinem Gefolge entstand ein Durcheinanderschwärmen, ein kleiner antiker Geist flog an die nächste Erdscholle und zog vom Haupt des Professors ein zartes Gespinnst, das er dort anhing. Unterdeß erzählte der Professor dem Landwirth, wie das Unterackern der grünen Hülsenfrucht einst bei den Römern bräuchlich gewesen, und wie er erfreut sei, daß jetzt nach anderthalb Jahrtausenden dieser alte Fund in unsern Wirtschaften wiederum entdeckt sei. Dabei kam man auf die Veränderungen im Landbau, und der Professor erwähnte, wie auffallend ihm gewesen sei, daß dreihundert Jahre nach Beginn unserer Zeitrechnung die Getreidebörse in den Häfen des schwarzen Meeres und Kleinasiens so große Aehnlichkeit mit der modernen von Hamburg und London gehabt habe, während jetzt dort im Osten auch viele andere Culturpflanzen gebaut würden. Und endlich berichtete er ihm gar von einem Waarentarif, den ein römischer Kaiser aufgestellt hatte, und daß gerade die Preise des Weizens und der Gerste, der beiden Früchte, von denen damals die übrigen Preise und Löhne abgehangen hätten, auf dem erhaltenen Steine zerstört wären. Und er setzte hübsch auseinander, weshalb dieser Verlust so sehr zu bedauern sei. Da ging wieder dem Landwirth das Herz auf, und er versicherte dem Professor, das sei gar nicht übermäßig zu beklagen, denn man könne diese verlorenen Werthe aus den Preisen der übrigen Früchte mit Halm und Hülse sicher bestimmen, weil alle Früchte untereinander im Großen betrachtet ein festes und altes Werthverhältniß haben. Er gab diese Verhältnisse ihres Nahrungswerthes in Zahlen an, und der Professor erkannte mit freudigem Erstaunen, daß sie wohl auf den Tarif seines alten Kaisers Diocletian passen könnten.
Während die Männer diese anscheinend gleichgültige Unterhaltung führten, flog ein bösartig aussehender Genius, wahrscheinlich Kaiser Diocletianus selber, vom Professor hinüber unter die bäuerliche Genossenschaft des Landwirths, stellte sich in seinem Purpurgewand mitten auf den Kopf des Herrn, stampfte mit den Beinchen an die Hirnschale und veranlaßte dem Landwirth die Empfindung, daß der Professor ein verständiger und gediegener Mann sei, und daß diesem Mann nützlich sein werde, weitere Belehrungen über Werth und Preise der Früchte zu erhalten. Denn es that dem Landwirth doch sehr wohl, daß er dem Gelehrten auf dessen eigenem Gebiet Bescheid sagen konnte.
Als nach einer Stunde die beiden Wanderer zum Hause zurückkehrten, blieb der Landwirth an der Thür stehen und sagte mit einiger Feierlichkeit zum Professor: »Als ich Sie gestern hier einführte, wußte ich wenig, wen ich vor mir hatte. Es ist mir peinlich, daß ich einen Mann, wie Sie, so unwirsch begrüßt habe. Ihre Bekanntschaft ist mir eine Freude geworden, man findet hier selten Jemanden, mit dem man sich über allerlei so aussprechen kann wie mit Ihnen. Lassen Sie sich’s, da Sie doch eine Erholungsreise machen wollen, auf einige Zeit bei uns einfachen Leuten gefallen. Je länger, desto besser. Es sind freilich jetzt nicht die Wochen, wo der Landwirth seinen Gästen das Haus bequem machen kann, Sie würden vorlieb nehmen müssen. Wollen Sie arbeiten und brauchen Sie Bücher, wir lassen sie hierher kommen. Und sehen Sie nach, ob das bei den Römern nicht etwa Wintergerste war, die ist leichter als unsere. – Schlagen Sie ein und machen Sie mir die Freude.« Er hielt dem Gelehrten treuherzig die Hand hin.
Ueber das Antlitz des Professors fuhr es wie ein helles Licht. Er ergriff lebhaft die Hand des Gastfreundes: »Wenn Sie meinen Freund und mich noch einige Tage behalten wollen, ich nehme Ihre Einladung von ganzem Herzen an. Ich darf Ihnen sagen, daß mir der Einblick in einen neuen Kreis menschlicher Interessen werthvoll ist, noch weit mehr aber das Wohlwollen, welches uns hier entgegenkommt.«
»Abgemacht,« rief der Landwirth heiter, »jetzt rufen wir Ihren Freund.«
Der Doctor öffnete seine Thür. Als der Landwirth mit warmen Worten die Einladung gegen ihn wiederholte, sah er einen Augenblick ernsthaft nach dem Freund hinüber. Da dieser ihm freundlich zunickte, nahm auch er für die Tage an, welche ihm vor dem beschlossenen Besuch bei Verwandten noch frei waren. – So geschah es, daß Kaiser Diocletianus, fünfzehnhundert Jahre nachdem er die Erde unfreiwillig verlassen hatte, seine tyrannische Macht an dem Professor und dem Landwirthe ausübte. Ob noch andere geheime Arbeit antiker Gewalten dabei thätig war, ist nicht erforscht.
Ilse hörte schweigend den Bericht des Vaters, daß die Herren noch einige Zeit ihre Gäste sein wollten, aber ihr Blick fiel so klar und warm auf die Fremden, daß diese freudig fühlten, sie seien auch hier willkommen.
Sie waren von dieser Stunde wie alte Bekannte eingeführt in das Leben des Hauses, und beiden, die nie auf dem Lande gelebt, war, als müßte das sein, und als wären sie selbst zurückgekehrt in eine Heimat, in der sie sich schon einmal vor Jahren getummelt hatten. Es war ein geschäftiges Treiben, und doch lag auch jetzt, wo die Arbeit heiß drängte, so heitere Ruhe darüber. Ohne viele Worte, sicher verbunden wirkten die Menschen in Haus und Hof nebeneinander. Das Tageslicht war der oberste Schirmvoigt, der aufgehend zur Arbeit trieb, erlöschend die Spannung der Glieder löste. Wie die Arbeiter nach dem Himmel sahen, um ihre Werkstunden zu ermessen, so richteten Sonne und Wolke auch die Stimmungen des Tages nach ihrem Zuge, bald Behagen, bald Sorge darnieder sendend. Und langsam und leise, wie die Natur die Blüthen aus dem Boden treibt und die Früchte zeitigt, wuchsen auch die Empfindungen der Menschen dort zu Blüthe und Frucht. Im friedlichen Zusammenleben, aus kleinen Eindrücken setzt sich das Verhältniß der Thätigen zueinander zurecht. Wenige warme Worte, ein freundlicher Blick, der kurze Anschlag einer Saite, welche im Innern lange nachtönt, genügen, zwischen Garben und Herden, zwischen Auszug und Heimfahrt vom Felde ein festes Band um verschiedenartige Naturen zu schlingen; ein Band, gewebt aus unscheinbaren Fäden! aber es erhält dennoch leicht eine Stärke, die durch das ganze Erdenleben dauert.
Auch die Freunde umgab der Frieden, die alltägliche Tüchtigkeit, die kleinen Bilder des Landes. Nur, wenn sie das alte Haus betrachteten und der Hoffnung gedachten, welche sie hierher geführt, kam ihnen etwas von der Unruhe, welche Kinder vor einer Weihnachtsbescherung empfinden. Die still arbeitende Phantasie warf ihren bunten Schein über Alles, was dem Hause angehörte, bis herab auf den Beller Nero, der schon am zweiten Tage durch heftiges Schwenken des Schwanzes den Wunsch ausdrückte, auch von ihnen in die Tischgenossenschaft aufgenommen zu werden.
Es war dem Doctor sehr der Beachtung werth, wie stark sein Freund durch dies ruhige Leben angezogen wurde, und wie fügsam er sich in die Bewohner des Hauses schickte. Der Gutsherr brachte ihm, bevor er auf das Vorwerk ritt, einige landwirthschaftliche Bücher und sprach zu ihm über Getreidesorten, der Professor antwortete so bescheiden wie ein junger Herr in Stulpstiefeln und vertiefte sich sogleich ernsthaft in diese fremden Interessen. Auch zwischen Ilse und dem Professor offenbarte sich ein Einvernehmen, über dessen Ursache der Doctor unruhig nachsann. Wenn der Professor zu ihr sprach, geschah es mit inniger Verehrung in Stimme und Blick, und auch Ilse wandte sich am liebsten zu ihm und war in der Stille unablässig um sein Behagen bemüht. Als er ihr bei Tische ein Tuch aufhob, überreichte er es mit ehrfurchtsvoller Verbeugung, wie einer Fürstin; als sie ihm seine Tasse in die Hand gab, sah er so glücklich aus, als hätte er den geheimen Sinn einer schwierigen Schriftstelle gefunden. Dann am Abend, als er mit dem Vater im Garten saß und Ilse hinter seinem Rücken aus dem Hause trat, verklärte sich sein Angesicht, und er hatte sie doch gar nicht gesehen. Und da sie den Kindern das Abendbrot austheilte und den kleinen Franz wieder schelten mußte, weil er unartig war, sah der Professor plötzlich so finster drein, als ob er selbst ein Knabe wäre, den der Unwille der Schwester bessern sollte. Diese Beobachtungen gaben dem Doctor zu denken.
Weiter, als kurz darauf der wackere Hans dem Doctor den Vorschlag machte, bei einem freundschaftlichen Blindekuhspiel mitzuwirken, da nahm Fritz als selbstverständlich an, daß der Professor unterdeß den Vater in der Laube unterhalten werde. Er selbst hätte sich’s kaum getraut, seinen gelehrten Freund zu dieser Ausschweifung aufzufordern. Wie erstaunte er aber, als Ilse das Tuch zusammenlegte, zu dem Professor trat und ihn aufforderte, sich zuerst als Blindekuh umbinden zu lassen. Und der Professor sah auf dieses Ansinnen ganz glücklich aus, bot Haupt und Hals sanft wie ein Opferlamm der Verhüllung und ließ sich von Ilse in den Kreis der kleinen Wilden führen. Lärmend umringte der Schwarm den Professor, die dreisten Kinder zupften ihn am Rockschoß, sogar Ilse wußte einen Knopf seines Rockes zu fassen und zog leise daran, er aber gerieth über dieses Zucken in Aufregung, fuhr mit den Händen umher und achtete keinen Angriff der schwärmenden Jugend, nur um die Frevlerin zu ergreifen. Als ihm dies nicht gelang, schlug er mit dem Stocke auf und ging wie der blinde Sänger Demodokus tastend umher, um einen Phäaken mit der Stockspitze zu fassen. Jetzt traf er richtig auf Ilse, sie aber hielt das Stockende ihrer Schwester hin, und Clara pfiff daran, der Professor aber rief: »Fräulein Ilse!« Und Ilse freute sich herzlich, daß er falsch gerathen, und der Professor sah darüber sehr betreten aus.
Aber dabei blieb es nicht. Dies Landgeschlecht muthete dem Professor ferner zu, den Dritten abzuschlagen, als schwarzer Mann zu kommen und ähnliche anstrengende Uebungen, bei denen ein Umherhuschen, Umwenden, Laufen und ein Hüpfen über die Grenze unvermeidlich war. Alles dies machte der Professor recht lüderlich mit. Ja, er bewies darin eine Kunstfertigkeit, welche die Kinder bezauberte. Er sprang wie ein Knabe über die Buchsbaumbeete, unternahm das Kunststück, mit jeder Hand eines zu fangen, schlug mit dem zusammengedrehten Taschentuch kräftigst auf die Rückseite der Knaben und traf Ilsens Hände mit einem so achtungsvollen Schlag, daß Bruder Franz erzürnt ausrief: »Das gilt nicht, das war zu wenig.« Ilse aber bekannte sich getroffen, nahm das Tuch und schenkte es jetzt dem Professor gar nicht, sondern schlug ihn damit herzhaft auf die Schultern, und als er sich erstaunt umdrehte, lächelte sie ihm ein wenig zu und übergab ihm das Tuch wieder.
Es war unleugbar, die laute Fröhlichkeit der wohlgebildeten Kinder war ansteckend, auch der Doctor wurde bald von einer derben ländlichen Lustigkeit erfaßt. Auch er sprang und klatschte in die Hände und boxte während des gemeinsamen Spiels noch zum Privatvergnügen mit Hans dem ältesten, so oft sie nebeneinander zu stehen kamen. Während er selbst lachte und auf einem Beine herumsprang, freute er sich als beobachtender Weiser über die großen und kleinen Mädchen, wie gut ihnen die kräftigen Bewegungen des wilden Spiels standen. Denn es war unverkünstelte Natur und volle Hingabe an das Spiel. Wenn Clara, die zweite, dem Bruder entlief oder im Kreise umherfuhr, so war sie bis auf ihr bescheidenes Röckchen einer spartanischen Wettläuferin wohl zu vergleichen. Als Ilse darauf am Baum stand und mit der Hand einen Ast über sich faßte, um sich zu stützen, so sah ihr geröthetes Antlitz, von den Blättern des Nußbaums bekränzt, so schön und glücklich in die Welt, daß auch der Doctor ganz davon hingerissen wurde.
Bei solcher Bacchantenstimmung war es nicht zu verwundern, daß der Professor zuletzt Hansen zum Wettlauf herausforderte: zweimal im Viereck, längs dem Zaune. Unter dem Jubel der Kinder verlor Hans seine Wette, wie er selbst behauptete, weil er die innere Seite des Vierecks gehabt hatte, aber die allgemeine Stimme verwarf durchaus diese Entschuldigung. Als die Wettläufer wieder bei der Laube ankamen, reichte Ilse dem Professor seinen Ueberziehrock, den sie unterdeß vom Kleiderrechen des Hausflurs geholt hatte: »Es wird spät, Sie dürfen sich bei uns nicht erkälten.« Und es war gar nicht kalt, er aber zog den Rock auf der Stelle an, knöpfte ihn von oben bis unten zu und schüttelte seinen Mitstreiter Hans vergnügt an den Schultern. Darauf setzten sich alle in der Laube nieder, um abzukühlen. Hier mußte auf die stürmische Forderung der Kleinen unter allgemeinem Chorgesange ein Thaler wandern, und von dem strengen Theil der Familie wurde laut gerügt, daß der Thaler zweimal zwischen Ilse und dem Professor auf die Erde fiel, weil sie einander den geheimen Läufer nicht fest genug in die Hand gegeben hatten. Durch dies Spiel war die Gesangeslust der Jugend erweckt worden, Klein und Groß sang zusammen aus voller Kehle solche Lieder, welche sich als gemeinsames Gut erwiesen: »An der Saale kühlem Strande,« das Mantellied und »die Glocke von Capernaum,« dieses als Canon. Darauf sangen Ilse und Clara, von dem Doctor ersucht, zweistimmig ein Volkslied, sehr einfach und schmucklos, und vielleicht traf eben deshalb die melancholische Weise das Herz, so daß es nach dem Lied still wurde und die fremden Herren gewissermaßen gerührt vor sich hinsahen, bis der Landwirth die Gäste aufforderte, auch etwas zum Besten zu geben. Sogleich stimmte der Professor, aus seiner Bewegung auftauchend, mit wohltönendem Basse an: »Im kühlen Keller sitz’ ich hier,« daß die Knaben begeistert die Reste aller Milch austranken und mit den Gläsern auf den Tisch stampften. Wieder äußerte sich die Gesellschaft als Chor, sie unternahmen das liebe alte Fragezeichenlied: »des Deutschen Vaterland,« soweit die Kenntniß der Verse reichte, und zum Schluß versuchte sich Alles zusammen an Lützows verwegener Jagd. Der Doctor hielt als fester Chorsänger die Melodie bei den schwierigen Noten schön zusammen und der Refrain klang wundervoll in der stillen Abendluft, die Töne zogen das Weinlaub der Mauer entlang und über die Gipfel der Obstbäume bis an das Gehölz des nächsten Hügels und kamen von dort als Echo zurück.
Nach diesem Hauptstück trieb Ilse die Kinder zum Aufbruch und geleitete die Unzufriedenen in das Haus, die Männer aber saßen noch lange im Gespräch zusammen, sie hatten miteinander gelacht und gesungen und ihre Herzen waren geöffnet. Der Landwirth erzählte aus seinen früheren Tagen, wie er sich da und dort versucht hatte und endlich hier festgesetzt. Der Kampf um das Leben war auch ihm schwer und langwierig gewesen, er erinnerte sich in dieser Stunde gern daran und sprach darüber in der guten Weise eines thätigen Mannes.
So verlief der zweite Tag auf dem Gute zwischen Sonne und Sternen, zwischen Garben und Herden.
Am nächsten Morgen weckte den Professor ein lauter Gesang der geflügelten Hofgenossen. Der Hahn flog auf einen Stein unter dem Fenster der Gaststube und ließ gebieterisch seinen Morgenruf erschallen, die Hennen und junges Hühnervolk standen im Kreise um ihn her und versuchten dieselbe Gesangskunst zu üben. Dazwischen schrieen die Sperlinge, welche im Weinlaub geschlafen hatten, aus vollem Halse, aber sie drangen nicht durch; dann flogen die Tauben heran und gurrten die Triller. Zuletzt kam noch eine Herde Enten zu dem Sängerbund und begann schnatternd den zweiten Chor. Der Professor sah sich genöthigt, das Lager zu räumen, und der Doctor rief unwillig im Bett: »Das kommt von dem gestrigen Singsang. Jetzt lärmt der Brotneid aller zünftigen Hofmusikanten.« Darin aber war er im Irrthum, das kleine Volk des Hofes sang nur aus Amtseifer, es meldete zuerst dem Gute, daß ein unruhiger Tag bevorstehe.
Als der Professor in das Freie trat, glühte noch die Morgenröthe mit feurigem Schein am Himmels, und der erste Lichtstrahl fuhr über die Felder, gebrochen und zitternd wie in Wellen. Der Grund war trocken, an Blatt und Rasen hing kein Thautropfen. Auch die Luft war schwül, und matt nickten die Blumenköpfe an den Stielen. Hatte in der Nacht eine zweite Sonne geschienen? Vom Gipfel eines alten Kirschbaumes aber klang unaufhörlich das helle Pfeifen der Golddrossel. Der alte Gartenarbeiter Jacob sah kopfschüttelnd nach dem Baume: »Ich dachte, der Spitzbub wäre fortgezogen, er hat unter den Kirschen arg gewirthschaftet, jetzt gibt er vor seiner Reise noch eine Nachricht, heut kommt etwas.«
Schnell rollten die Wagen auf das Erntefeld, die Pferde waren unruhig, schüttelten die Köpfe und schlugen mit dem Schweife die Flanken, und die Knechte klatschten ohne Aufhören mit der Peitsche. »Heut stechen die Fliegen,« sagte im Vorbeifahren grüßend der Großknecht, »es kommt ein Wetter.« Der Landwirth trat aus dem Hause, statt des Morgengrußes rief er dem Professor zu: »Das Wetterglas ist gefallen, es ist etwas im Anzuge.« Ilse kam von der Molkerei: »Die Kühe sind unruhig, sie brüllen und arbeiten gegen einander.«
Roth hob sich die Sonne aus trockenem Qualm, die Arbeiter im Felde fühlten die Mattigkeit in den Gliedern und hielten immer wiederbei der Arbeit an, das Antlitz zu trocknen. Der Schäfer war heut mit der Herde unzufrieden, seine Hammel waren auf Kraftübungen versessen; statt zu fressen stießen sie mit den Köpfen zusammen und das Jungvieh hüpfte und tänzelte wie an Drähten in die Höhe gezogen. Unordnung und Widersetzlichkeit waren nicht zu bändigen, der Hund umkreiste die Aufgeregten unaufhörlich mit hängendem Schwanze, und wenn er heut ein Schaf in das Bein zwickte, so merkte es lange den Schaden.
Höher stieg der Sonnenball am wolkenlosen Himmel, heißer wurde der Tag, ein leichter Dunst hob sich vom Boden und machte die Ferne undeutlich, die Sperlinge flogen unruhig um die Baumgipfel, die Schwalben fuhren längs dem Boden und zogen ihre Kreise um die Menschen. Die Freunde suchten ihr Zimmer auf, auch hier empfand man die ermattende Schwüle, der Doctor, welcher einen Plan des Hauses entwarf, legte den Bleistift hin, der Professor las von Ackerbau und Viehzucht, aber er sah oft über sein Buch nach dem Himmel, öffnete das Fenster und schloß es wieder. Das Mittagsmahl war stiller als sonst, der Landwirth sah ernst drein, seine Beamten nahmen sich kaum Zeit, ihre Teller zu leeren. »Es kommt heut ungelegen,« sagte der Hausherr beim Aufstehen zu der Tochter, »ich reite an die Grenze; bin ich nicht vor dem Wetter zurück, so sieh nach Haus und Hof.« Und wieder zogen die Menschen und Rosse auf das Feld, aber heut war ihnen der Weg zur Arbeit sauer.
Die Hitze wurde unerträglich, die Nachmittagssonne brannte auf die Haut, Fels und Mauer fühlten sich heiß an, den Himmel überzog ein weißes Gewölk, das sich zusehends verdichtete und zusammenfuhr. Eifrig trieb der Knecht die Pferde zur Scheuer, die Arbeiter hasteten die Garben abzuladen, im schnellen Trabe fuhren die Wagen, noch eine Ladung unter das schützende Dach zu retten.
Die Freunde standen vor der Hofthür und blickten auf die schweren Wolken, welche vom Himmelsrande heraufzogen. Das gelbe Sonnenlicht kämpfte kurze Zeit gegen die dunkeln Schatten der Höhe, endlich verschwand auch der letzte grelle Schein, glanzlos und trauernd lag die Erde. Ilse trat zu ihnen: »Seine Zeit ist gekommen, gegen vier Uhr steigt es herauf, selten zieht es aus dem Morgen über das ebene Land, dann aber wird es jedesmal schwer für uns, denn die Leute sagen, es kann nicht über die Berghöhe, auf die Sie vom Garten aus sehen. Dann hängt es lange über unserm Felde. Und der Donner, sagt man, rollt bei uns stärker als anderswo.«
Die ersten Stöße des Windes fuhren heulend an das Haus. »Ich muß durch den Hof, zum Rechten sehen,« rief Ilse, band schnell ein Tuch um das Haupt und drang, von den Männern begleitet, gegen den Sturm vorwärts zu dem Hofgebäude, in welchem die Spritze stand, sie sah zu, ob die Thür geöffnet und Wasser in den Tonnen war. Dann eilte sie vorwärts nach den Ställen, während die Strohhalme im Wirbel um sie herumfuhren, mahnte die Mägde noch einmal durch muntern Zuruf, sprach schnell einige Worte mit den Beamten und kehrte nach dem Hause zurück. Sie warf einen Blick in die Küche und nach dem Herde und öffnete die Thür des Kinderzimmers, ob alle Geschwister beim Lehrer versammelt waren. Zuletzt ließ sie noch den Hund herein, der an der geschlossenen Hofthür ängstlich bellte, und trat dann wieder zu den Freunden, welche vom Fenster der Wohnstube in den Aufruhr der Elemente blickten. »Das Haus ist verwahrt, so gut die Hand des Menschen vermag, wir aber vertrauen auf stärkeren Schutz.«
Langsam wälzte sich das Wetter näher, eine schwarze Masse nach der andern schob sich heran, unter ihnen stieg ein fahler Dunstschleier wie ein ungeheurer Vorhang höher und höher, der Donner rollte, kürzer die Pausen, wilder sein Dröhnen, der Sturm heulte um das Haus, jagte zornig dicke Staubwolken um die Mauern, Blätter und Halme flogen in wildem Tanze dahin.
»Der Löwe brüllt,« sagte Ilse, die Hände faltend. Sie neigte auf einige Augenblicke das Haupt. Dann sah sie schweigend zum Fenster hinaus. »Der Vater ist auf dem Vorwerk unter Dach,« begann sie wieder, einer Frage des Professors zuvorkommend.
Ein tüchtiges Wetter tobte um das alte Haus. Die es zum erstenmal an dieser Stelle hörten, auf freier Höhe, an der Seite des Bergrückens, von dem das wirbelnde Getöse des Donners zurückschallte, meinten solche Gewalt der Natur noch nicht erlebt zu haben. Während der Donner tobte, ward es plötzlich finster in der Stube wie bei einbrechender Nacht, und immer wieder wurde die unheimliche Dämmerung durch den Schein der feurigen Schlangen zerrissen, welche über den Hof dahinfuhren.
In der Kinderstube war es laut geworden, man hörte das Weinen der Kleinen. Ilse ging an die Thür und öffnete. »Kommt zu mir,« rief sie. Aengstlich liefen die Kinder herein und drängten sich um die Schwester, sie faßten ihre Hände, die jüngsten klammerten sich an ihr Gewand. Ilse nahm die kleine Schwester und legte sie in die Hände des Professors, der neben ihr stand. »Seid still und sagt leise euren Spruch,« mahnte sie, »jetzt ist keine Zeit, zu weinen und zu klagen.«
Plötzlich ein Licht so blendend, daß es zwang, die Augen zu schließen, ein kurzer markerschütternder Krach, der in mißtönendem Knattern endete. Als der Professor die Augen öffnete, sah er in dem Schein eines neuen Blitzes Ilse neben sich stehen, das Haupt ihm zugewendet, mit strahlendem Blick. »Das hat eingeschlagen,« rief er besorgt.
»Nicht in den Hof,« versetzte das Mädchen unbeweglich.
Wieder ein Schlag und wieder ein Feuerschein und ein Schlag, wilder, kürzer, schärfer. »Es schwebt über uns,« sagte Ilse ruhig und drückte das Haupt des kleinen Bruders an sich, als wollte sie ihn schützen.
Der Professor konnte den Blick nicht abwenden von der Gruppe in der Zimmermitte. Die edle Gestalt des Weibes vor ihm, hoch aufgerichtet, unbeweglich, umringt von den angstvollen Geschwistern, gehoben das Antlitz und um den Mund ein stolzes Lächeln. Sie hatte in unwillkürlicher Empfindung eines der theuren Leben seiner Obhut anvertraut, er stand in der Noth der Entscheidung neben ihr als einer der Ihrigen. Auch er hielt das Kind fest, das ihn ängstlich umschlang. Es waren kurze Augenblicke, aber zwischen Blitz und Schlag loderte die Glut in ihm zu hellen Flammen auf. Die neben ihm stand im Wetterschein, von blendendem Licht umgossen, sie war es, die er sich forderte für sein Leben.
Länger dröhnte der Donner, der Regen schlug an das Fenster, ein Wasserguß rasselte und klatschte um das Haus, die Fenster zitterten in einem wüthenden Anprall des Sturmes.
»Es ist vorüber,« sagte die Jungfrau leise. Die Kinder fuhren auseinander und liefen an das Fenster. »Nach oben, Hans,« rief die Schwester und eilte mit dem Bruder aus dem Zimmer, um zu sehen, ob das Wasser doch irgendwo Eingang gefunden. Der Professor sah sinnend nach der Thür, aus der sie geschwunden war, der Doctor aber, der unterdeß, das Knie in den Händen, ruhig auf dem Stuhl gesessen, begann kopfschüttelnd: »Diese Naturerscheinung ist für uns ungemüthlich. Seit die Blitzableiter in Mißcredit gekommen sind, hat man nicht einmal den Trost, daß solche Stange dem Codex Sicherheit gegen die Zudringlichkeit von oben gewährt. Das ist ein schlechter Aufenthalt, mein Freund, für unser armes altes Manuscript, und es ist wahrlich Christenpflicht, das Buch so schnell als möglich aus diesem Donnerwinkel zu retten. Wie kann man ferner noch mit Gemüthsruhe eine Wolke am Himmel sehen? Wir werden immer daran denken müssen, was hier alles möglich ist.«
»Das Haus hat doch bis jetzt vorgehalten,« erwiederte der Professor lächelnd, »überlassen wir die Handschrift unterdeß den guten Gewalten, denen die Menschen selbst hier so fest vertrauen. – Sieh, schon bricht der Sonnenstrahl durch den Dunst.«
Eine halbe Stunde später war Alles vorüber, über den Bergen lag noch die dunkle Wolke und aus der Ferne tönte gefahrlos der Donner. In dem leeren Hofe regte sich wieder das Leben. Zuerst zog in fröhlichem Eifer der Entenchor aus seinem Versteck, putzte die Federn, untersuchte die Wasserlachen und schnatterte längs den Wagengleisen. Dann kam der Hahn mit seinen Hühnern, vorsichtig schreitend und die quellenden Körner pickend, die Tauben flogen an Vorsprünge der Fenster, wünschten einander mit Verbeugungen Glück und breiteten die Federn im neuen Sonnenlicht, Nero fuhr in kühnem Sprunge aus dem Hause, trottete durch den Hof und bellte herausfordernd in die Luft, um die feindliche Wolke vollends zu verscheuchen. Dann schritten die Mägde und Arbeiter wieder rührig über den Platz und athmeten erfrischt den Balsam der feuchten Luft. Der Hofverwalter kam und berichtete, daß es zweimal in den Berg nebenan geschlagen. Auch der Landwirth ritt in starkem Trabe herein, tüchtig durchnäßt, um zu sehen, ob Haus und Hof ihm unversehrt geblieben. Er sprang fröhlich vom Pferde und rief: »Es hat draußen eingeweicht, aber Gottlob, daß es so vorübergegangen. Solch Wetter ist hier seit Jahren nicht erlebt.« Die Leute hörten noch eine Weile, wie der Großknecht erzählte, daß er eine Wassersäule gesehen, die als ein großer Sack vom Himmel bis zur Erde hing, und daß es jenseit der Grenze stark gehagelt. Dann traten sie gleichmüthig in die Ställe und genossen die Ruhestunde, die ihnen das Unwetter vor der Zeit verschaffte. Und während der Landwirth zu seinen Beamten sprach, rüstete sich der Doctor, mit den Knaben und dem Lehrer in das Thal hinabzusteigen und dort die Ueberschwemmung des Baches zu betrachten.
Der Professor aber und Ilse blieben im Obstgarten, und der Professor erstaunte über die Menge der braunen Hausträgerinnen, der Schnecken, welche jetzt überall hervorkamen und langsam über den Weg zogen; er nahm eine nach der andern und setzte sie vorsichtig aus dem Wege, aber die Unverständigen kehrten immer wieder auf den festen Kies zurück und erhoben den Anspruch, daß die Fußgänger ihnen auswichen. Dann sahen die beiden nach, wie die Fruchtbäume das Unwetter ertragen hatten. Sie waren arg zerzaust, beugten ihre Zweige tief herab, und viel unreifes Obst lag abgeschlagen im Grase. Der Professor schüttelte vorsichtig an den regenschweren Aesten, um sie von der fremden Bürde zu befreien, er holte einige Stangen und unterstützte einen alten Apfelbaum, der unter seiner Last zu erliegen drohte, und beide lachten herzlich, als ihm bei der Arbeit das Wasser aus den Blättern, wie aus kleinen Rinnen, auf Haar und Rock hinablief.
Ilse schlug bedauernd die Hände zusammen über die vielen gefallenen Früchte, es hing aber doch noch viel an den Bäumen, und es war immer noch eine reiche Ernte zu hoffen. Der Professor gab ihr teilnehmend den Rath, das gefallene Obst zu backen, und Ilse lachte wieder darüber, weil das meiste noch zu unreif sei. Da gestand ihr der Professor, daß auch er als Knabe geholfen habe, wenn seine liebe Mutter das Obst auf dem Trockenbret ordnete. Denn seine Eltern hatten auch einen großen Garten an der Stadt gehabt, in welcher sein Vater Beamter gewesen. Und Ilse hörte mit leidenschaftlichem Antheil zu, als er weiter erzählte, daß er als Knabe den Vater verloren und wie lieb und gescheidt seine Mutter um ihn gesorgt, und wie innig sein Verhältniß zu ihr gewesen, und daß ihr Verlust der größte Schmerz seines Lebens sei. Dabei schritten sie den langen Kiesweg auf und ab, und in beiden klang durch die heitere Stimmung der Gegenwart ein Ton des Leides aus vergangenen Tagen, gerade wie in der Natur die Bewegung des heftigen Unwetters leise nachzitterte und das reine Licht des Tages von unzähligen blitzenden Edelsteinen auf Laub und Halm erglänzte.
Ilse öffnete eine Pforte, welche aus dem untern Theil des Obstgartens ins Freie führte, sie stand still und begann mit zögernder Bitte: »Ich habe einen Gang vor in das Dorf, um zu sehen, wie der Herr Pfarrer das Wetter überstanden hat. Wird Ihnen recht sein, unsern guten Freund kennen zu lernen?«
»Wenn er Ihnen lieb ist, so bin ich dankbar, daß Sie mich zu ihm führen,« antwortete der Professor.
Auf feuchtem Fußpfade schritten sie in die gewundene Verlängerung des Thals, welche sich an der Seite des Friedhofs hinzog. Dort lag mit zusammengedrängten Häusern ein kleines Dorf, meist von Arbeitern des Gutes bewohnt. Das erste Gebäude unter der Kirche war das Pfarrhaus, mit Holzdach und kleinen Fenstern, wenig von den Wohnungen der Landleute verschieden. Ilse öffnete die Thür, eine alte Magd eilte mit vertraulichem Gruß entgegen. »Ach, Fräulein,« rief sie, »das war heut schlimm, ich dachte, der jüngste Tag wäre vor der Thür. Der Herr hat immer an dem Kammerfenster gestanden und nach dem Schloß hinaufgesehen und für Sie die Hände in die Höhe gehoben. – Jetzt ist er im Garten.« – Durch die Hinterthür traten die Gäste in einen kleinen Raum zwischen Giebeln und Scheuern der Nachbarhöfe, wenige niedrige Fruchtbäume ragten über die Blumenbeete. Der alte Herr in dunklem Hausrock stand vor einem Spalier und arbeitete emsig. »Mein liebes Kind,« rief er aufsehend, und sein gutherziges Angesicht lachte vor Freude unter dem weißen Haar, »ich wußte, daß Sie heut kommen würden.« Er verneigte sich vor dem fremden Gast und wandte sich nach den Begrüßungsworten wieder zu Ilse. »Denken Sie das Unglück, der Sturm hat unsern Pfirsichbaum geknickt, das Geländer ist abgerissen, die Zweige zerschlagen, der Schaden ist unersetzlich.« Er beugte sich zu seinem kranken Baume herab, dem er gerade mit Baumwachs und Bast einen Verband aufgelegt hatte. »Es ist der einzige Pfirsich hier,« klagte er dem Professor, »auf dem ganzen Gute haben sie keinen, und in der Stadt vollends nicht. Aber ich darf Sie nicht mit meinen kleinen Leiden belästigen,« fuhr er muthiger fort, »bitte, kommen Sie mit mir in die Stube.« Ilse trat in eine Seitenthür neben dem Hause. »Was macht Flavia?« frug sie die Magd, welche den Besuch erwartend an der Pforte stand.
»Munter,« antwortete Susanne, »und der Kleine auch.«
»Es ist die gelbe Kuh und ein junges Ochsenkalb,« erklärte der Pastor dem Professor, während Ilse mit der Magd in den engen Hofraum trat. »Ich sehe nicht gern, wenn die Leute dem Vieh christliche Namen geben, da muß unser Latein aushelfen.«
Ilse kehrte zurück. »Es ist Zeit, daß das Kalb fortkommt, es ist ein unnützer Brotesser.«
»Das hab’ ich auch gesagt,« schaltete Susanne ein, »aber der Herr Pfarrer will sich nicht dazu entschließen.«
»Sie haben Recht, mein liebes Kind,« erwiederte der Pfarrer, »nach menschlicher Weisheit wäre es rathsam, das Oechslein dem Schlächter zu überliefern. Aber das Oechslein sieht die Sache ganz anders an, und es ist eine muntere Creatur.«
»Wenn man’s aber darum fragt, erhält man keine Antwort,« sagte Ilse, »und deswegen muß sich’s gefallen lassen, was wir wollen. Erlauben Sie, Herr Pfarrer, daß ich das mit Susanne hinter Ihrem Rücken abmache. Unterdeß holst du die Milch von oben.«
Der Pfarrer führte in seine Stube. Es war ein kleiner Raum, weiß getüncht, spärlich möblirt, darin ein alter Schreibtisch, ein schwarzbestrichenes Bücherbret mit einer kleinen Anzahl ältlicher Bücher, Sopha und Stühle mit buntem Kattun überzogen. »Hier ist seit vierzig Jahren mein Tusculum,« sagte der Pastor vergnügt zum Professor, der verwundert auf den dürftigen Hausrath blickte. »Es würde größer sein, wenn der Anbau zu Stande gekommen wäre, es waren auch schon Pläne gemacht, und mein Herr Nachbar hat sich sehr darum bemüht, aber seit meine selige Frau dort hinaufgezogen ist« – er sah nach der Höhe des Friedhofs – »will ich nichts mehr davon hören.«
Der Professor sah zum Fenster hinaus. Vierzig Jahre in dem engen Bau, dem schmalen Thal, zwischen dem Friedhof, den Hütten, dem Wald! Ihm wurde gedrückt zu Muth. »Es scheint, die Gemeinde ist arm,« sagte er, »zwischen den Bergen liegt nur wenig Feld. Und wie ist’s im Winter?«
»Ei, die Füße tragen noch,« erwiederte der geistliche Herr, »man besucht dann auch gute Freunde; nur der Schnee wird zuweilen lästig, einmal waren wir ganz eingeschneit und Herr Bauer hat uns herausschaufeln müssen.« Er lächelte behaglich bei der Erinnerung. »Es ist nicht einsam, wenn man lange Jahre an einem Orte gelebt hat, man hat die Großväter gekannt, die Väter aufgezogen, man lehrt die Kinder und hier und da schon die Enkel, man sieht, wie die Menschen sich von der Erde erheben und wieder hinabsinken, gleich den Blättern der Bäume. Und man merkt, daß Alles eitel ist und eine kurze Vorbereitung. Liebes Kind,« sagte er zu Ilse, welche jetzt eintrat, »setzen Sie sich zu uns, ich habe Ihr liebes Gesicht seit drei Tagen nicht gesehen, und wollte nicht hinaufkommen, weil ich hörte, daß Besuch bei Ihnen ist. Ich habe auch etwas für Sie,« setzte er hinzu und holte einen beschriebenen Bogen vom Pult, »es ist Poesie dabei.«
»Denn auch der Musengesang fehlt uns nicht,« fuhr er gegen den Professor fort. »Freilich ist er demüthig und von der bukolischen Art. Aber glauben Sie mir, für Einen, der sein Dorf kennt, gibt es wenig Neues unter der Sonne. Es ist im Kleinen hier Alles, wie in der übrigen Welt im Großen, der Schmied ist ein heftiger Politikus und der Schultheiß möchte gern ein Dionysius von Syrakus sein. Auch den reichen Mann der Schrift haben wir, freilich auch mehre Lazarusse, zu welchen dieser Dichter gehört; und unser Tüncher ist im Winter ein Musikus, er spielt gar nicht schlecht auf der Zither. Das alles arbeitet durcheinander und möchte gern oben hinaus, und es macht zuweilen Mühe, die gute Nachbarschaft unter ihnen zu erhalten.«
»Er will seine grüne Wand wieder haben, soviel ich verstehe,« sagte Ilse, von dem Blatt aufsehend.
»Seit sieben Jahren liegt er in seiner Kammer, zur Hälfte gelähmt, mit heftigen Schmerzen und unheilbar,« erklärte der Pfarrer dem Gast, »er sieht durch ein kleines Fensterloch in die Welt, auf die Lehmwand gegenüber und die Menschen, welche davor sichtbar werden. Und die Wand gehört dem Nachbar, sie war durch mein liebes Kind mit wildem Wein bezogen. In diesem Jahr aber hatder Nachbar – unser reicher Mann – daran gebaut und das Grüne abgerissen. Das ärgert den Kranken. Ihm ist schwer zu helfen, denn jetzt ist nicht die Zeit, Neues zu pflanzen.«
»Es muß doch Rath werden,« warf Ilse ein. »Ich will mit ihm darüber reden. Verzeihen Sie, es soll nicht lange dauern.«
Sie verließ das Zimmer. »Ist’s Ihnen recht,« sagte der Pfarrer geheimnißvoll zu seinem Gast, »so zeige ich Ihnen diese Wand, denn ich habe mir die Sache viel überlegt, aber ich finde keine Abhilfe.« Schweigend stimmte der Professor bei. Die Männer schritten die Dorfgasse entlang, an der Ecke faßte der Pfarrer den Arm seines Begleiters. »Hier liegt der Kranke,« begann er halblaut, »er hört schwer in seiner Schwäche, aber wir müssen doch leise auftreten, daß er uns nicht merkt; denn das stört ihn.«
Der Professor sah dichtbei am dürftigen Hause ein kleines Schiebfenster geöffnet und Ilse davorstehen, von ihnen abgewandt. Während der Pfarrer ihm die Lehmwand zeigte und die Höhe, welche für die Laubumkleidung nöthig sei, hörte er auf das Gespräch am Fenster. Ilse sprach laut hinein und von dem Lager antwortete eine schrille Stimme. Erstaunt vernahm er, daß nicht vom Weinlaub die Rede war. – »Und hat der Herr ein gutes Gemüth?« frug die Stimme. »Er ist ein gelehrter Mann und ein guter Mann,« antwortete Ilse. »Wie lange bleibt er bei Ihnen?« frug der Kranke. »Ich weiß nicht,« war Ilsens zögernde Antwort. »Er soll ganz bei Ihnen bleiben, denn er ist Ihnen lieb,« sagte der Kranke. »Ach, das dürfen wir gar nicht hoffen, lieber Benz. Aber dies Gespräch hilft nicht zu guter Aussicht auf gegenüber,« fuhr Ilse fort. »Mit dem Nachbar rede ich, aber zwischen heut und morgen wächst doch nichts. Da habe ich mir ausgedacht, der Gärtner schlägt hier draußen unter dem Fenster ein kleines Bret fest und wir setzen unterdeß die Blumenstöcke aus meiner Stube darauf.« – »Das benimmt mir die Aussicht,« entgegnete die Stimme unzufrieden, »ich kann dann die Schwalben nicht mehr sehen, wenn sie vorbeifliegen, und ich sehe wenig von den Köpfen der Leute, die vorbeigehen.« »Das ist richtig,« versetzte Ilse, »aber wir machen das Bret so niedrig, daß nur die Blumen durch’s Fenster gucken.« »Was sind’s für Blumen?« frug Benz. »Ein Myrtenstock,« sagte Ilse. »Der blüht nicht,« versetzte Benz mürrisch. – »Aber zwei Rosen blühen und ein Vanillestrauch.« – »Den kenne ich nicht,« warf der Kranke ein. »Er riecht wundergut,« sagte Ilse empfehlend. »Dann kann er kommen,« bewilligte Benz, »aber Basilikum muß auch dabei sein.« – »Wir wollen sehen, ob’s zu haben ist,« erwiederte Ilse, »und um das Fensterholz zieht euch der Gärtner eine Epheuranke.« »Der ist mir zu schwarz,« widersprach der ungenügsame Benz. »Ei was,« entschied Ilse, »wir probiren’s. Ist’s euch nicht recht, so wird’s geändert.« Damit war der Kranke einverstanden. »Aber der Gärtner soll mich nicht warten lassen,« rief er, »ich möchte es morgen haben.« »Gut,« sagte Ilse, »am frühen Morgen.« – »Und meinen Vers zeigen Sie Niemand,« bat Benz, »auch dem fremden Herrn nicht, er ist nur für Sie.« »Das bleibt unter uns,« sagte Ilse. »Ruft eure Tochter Anna, lieber Benz.«
Sie rüstete sich zum Aufbruch, der Pfarrer zog seinen Gast leise zurück. »Wenn der Kranke solches Gespräch gehabt hat,« erklärte er, »ist er für den nächsten Tag zufrieden. Und morgen macht er ihr wieder einen Vers. Er schreibt, unter uns gesagt, manchmal Nonsens, aber es ist gut gemeint, und ihm ist es die beste Unterhaltung. Nämlich die Leute im Dorfe scheuen sich, an sein Fenster zu treten, und sie gehen auch nicht gern vorüber. – Für mein Amt aber ist dies die härteste Arbeit. Denn die Leute sind in dem Aberglauben verstockt, daß Krankheit und Erdenleid von bösen Mächten stammen und daß sie durch Haß angethan werden oder zur Strafe für begangenes Unrecht. Wenn ich ihnen predige ohne Aufhören, daß Alles nur eine Prüfung ist für das Jenseits, die Lehre ist ihnen zu groß und hoch, nur die Schwachen glauben sie, wer aber gesund und trotzig dasteht, der sträubt sich gegen die Wahrheit und das Heil.«
Der Gelehrte sah nach dem kleinen Fenster, aus dem der Kranke auf eine Lehmwand blickte; und er sah wieder nach dem geistlichen Herrn, der in dem Thal seit vierzig Jahren für die heilbringende Wahrheit kämpfte. Ihm wurde das Herz schwer, und sein Auge flog aus der dämmernden Tiefe zu den Berggipfeln, welche noch im frohen Licht der Abendsonne glänzten. Da trat sie wieder zu ihm, sie, welche herabgestiegen war, die Hilflosen und Armen zu bewachen, und als er neben ihr der Höhe zuschritt, da war ihm, als ob sie beide aus dumpfer Erdennoth emportauchten in leichtere Luft. Aber auch die jugendliche Gestalt, das schöne ruhige Antlitz neben ihm glänzte vom Abendlicht umsäumt so fremdartig, seinem irdischen Wesen ungleich, ähnlich einem der Boten, welche einst Jehova in die Zelte seiner Getreuen sandte. Und er freute sich, als sie über die lustigen Sprünge des Hundes lachte, der ihnen bellend entgegenfuhr.
So schwand wieder ein Tag dahin zwischen Sonnenlicht und Wolkenschatten, in kleinen Erlebnissen, in stillem Sein. Wenn die Feder davon erzählt, ist es gering, wenn aber ein Mensch darin lebt, treibt es ihm den Strom des Blutes kräftig durch die Adern.