Читать книгу Die Psychologie der Massen - Gustav Le Bon - Страница 4
Das Ende der Kultur
ОглавлениеLe Bons Einsicht war folgende: Durch die Bildung einer Masse entstünde zwischen den Individuen ein neuer sozialer und psychischer Zustand. Dadurch verändere sich die Situation des Individuums in der Masse. Dieser neue psychische Zustand, so Le Bon, sei mit dem Zustand von Menschen unter Hypnose vergleichbar – durch Nachahmung verbreitet er sich zudem auf viele weitere Menschen. Dabei tritt das kollektive Wir an die Stelle des individuellen Ichs: „Die bewusste Persönlichkeit ist völlig ausgelöscht, Wille und Unterscheidungsvermögen fehlen, alle Gefühle und Gedanken sind in die Sinne verlegt, die durch den Hypnotiseur beeinflusst werden.“ Für Le Bon liegt die Dramatik darin, dass dies den Anfang des Endes der Kultur und Zivilisation bedeute. Durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein, stiege der Mensch gleich mehrere Stufen von der Leiter der Kultur herab.
Hier haken die Philosophen Gunter Gebauer und Sven Rücker ein, die mit Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen einen umfassenden Überblick über die Wissenschaftstheorie und -geschichte und darüber hinausgehende Entwicklungen zum Thema Massen vorlegen. Sie meinen, Le Bon fehle der Blick aus dem Inneren der Masse – er reklamiere moralische Autorität, ohne sich dem Gegenstand methodisch anzunähern. Eine völlig andere Konzeption der Masse als bei Le Bon findet sich bei Sigmund Freud: Er wendete seine, für die individuelle Psyche gewonnenen Erkenntnisse auf Massenbewegungen an und formulierte sie in Massenpsychologie und Ich-Analyse aus. Anders als Le Bon, so bemerken Gebauer und Rücker, erschließt sich Freud nun der Blick vom Inneren der Masse. Die Hypnosetheorie übernimmt Freud von Le Bon, betont aber, dass das Individuum in der Masse keine neuen Eigenschaften erhielte, vielmehr würde das durch die Menschenmenge veränderte Ich vom Unterbewusstsein gelenkt: Es sind „Eben Äußerungen dieses Unterbewussten, in dem ja alles Böse der Menschenseele in der Anlage enthalten ist.“
Menschenschwärze
Wo Freud noch scheinbar zurückhaltend vom Bösen im Menschen, das sich bei Massenbewegungen offenbart, spricht, nimmt sich der Philosoph Peter Sloterdijk schon im Titel seiner Abhandlung zum selben Thema kein Blatt vor den Mund: Die Verachtung der Massen. Dabei setzt er sich vor allem mit dem für ihn wichtigstem Buch zum Thema auseinander, Elias Canettis Masse und Macht. Anders als andere Soziologen und Sozialpsychologen scheue sich Canetti, so Sloterdijk, nicht davor, die Masse als das zu benennen, was sie ist: ein purer Sog. Canettis Formulierung, „Plötzlich alles schwarz von Menschen“, nimmt Sloterdijk zum Anlass, die demokratie- und vernunftsgefährdenden Eigenschaften von Massen zu benennen: „In diesem Augenblick kollabiert die vernunftromantische Vision vom demokratischen Subjekt, das wissen könnte, was es will; der Traum vom selbsttransparenten Kollektiv ist verflogen, das sozialphilosophische Phantasma von einer Umarmung zwischen Weltgeist und Kollektiv zerschellt an einem Block aus unauflöslicher Dunkelheit: Menschenschwärze.“
„Die postmoderne Masse ist Masse ohne Potential, eine Summe aus Mikroanarchismen und Einsammelten“.
Peter Sloterdijk
Dass das Zeitalter der Massen vorbei sei, wie von der Mehrheit der zeitgenössischen Soziologen behauptet, verneint Sloterdijk vehement. Die Massen hätten sich nur verändert, und zwar unter dem Einfluss der Massenmedien. Sie seien nun vielmehr anders: Bunte oder molekulare Massen.