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Individuum und Masse sind kein Widerspruch
ОглавлениеAuch Gebauer und Rücker stimmen mit Sloterdijk überein; obwohl wir in einer Gesellschaft der Individuen leben, sind die Massen nie verschwunden. Was wie Widerspruch klingt, argumentieren sie schlüssig, indem sie die neuen Massen von den populistischen Massen unterschieden. Beide entstehen dann, wenn viele Menschen zusammenkommen, sei es physisch oder virtuell, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Der Unterschied liegt mit Gebauer und Rücker darin, dass sich die von ihnen so bezeichneten neuen Massen nicht in einem Kollektivsubjekt Masse auflösen. Damit wollen sie die Vorstellung der bewusstlos agierenden Masse zurechtrücken. Auf die Massenphänomene der Gegenwart seien die klassischen Massentheorien nur mehr begrenzt anwendbar – die Teilnehmer an gegenwärtigen Massen feiern durch diese Teilnahme gerade ihre Individualität: „Die Einzelnen bilden als Fragmente die ganze Masse ab; diese nimmt den Charakter eines Individuums an.“ So entstünde die neue Macht der Einzelnen und der neuen Massen, was auch veranschaulicht, dass die neuen Massenphänomene den Einzelnen nicht aus kollektiven Zwängen befreien. Das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft bedingt, dass konkurrierende Massen existieren, wodurch jede Masse dazu gezwungen wird, ihre Einzigartigkeit stets aufs Neue zu beweisen.
„Die Pluralisierung der Gesellschaft führ zu einer Pluralisierung der Massen“.
Gunter Gebauer/Sven Rücker
Den bitteren Beigeschmack des Destruktiven haben auch diese neuen Massen nicht verloren, vor allem, wenn man davon ausgeht, dass die politische Willensbildung in einer Demokratie von politischen Institutionen organisiert und artikuliert wird – anschauliches Beispiel ist die im Aufschwung befindliche Bewegung Extinction Rebellion, deren Mitgründer Roger Hallam sich nicht scheut, die Demokratie per se in Frage zu stellen.
Massen, Hysteria
Der Publizist Douglas Murray sieht in seinem jüngst erschienen Buch, Wahnsinn der Massen das grundsätzlich zu begrüßende Phänomen des Strebens nach einer besseren Gesellschaft in seinem Exzess als Problem. Wichtige Errungenschaften unserer Gesellschaft, wie die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und sexueller Orientierung, würden durch ausartende Massenhysterie untergraben, weil durch das ständige Ringen um die Anerkennung jedes Einzelnen über das Ziel hinausgeschossen wird. Und zwar im Namen der Identitätspolitik. Vor allem durch den Wettkampf der schon von Gebauer und Rücker erwähnten sich ständig vermehrenden unterschiedlichen Gruppen – oder: Massen – drohe eine Zukunft, in der Rassismus mit Rassismus beantwortet wird, in der die Reaktion auf geschlechtsbedingte Diskriminierung geschlechtsbedingte Diskriminierung ist: „Ist ein gewisser Punkt der Erniedrigung erst einmal erreicht, gibt es keinen triftigen Grund für Mehrheitsgruppen, nicht mit denselben Waffen zurückzuschlagen, die auch in ihrem Fall so wunderbar funktioniert haben.“ Anstatt die Gemüter zu beruhigen, kommt es zur ständigen Spannung und Reibung unterschiedlicher Gruppen. Hier spielt auch die gesellschaftliche Moral, die damit auf eine neue Grundlage gestellt wird, eine tragende Rolle, so Murray: „Aus dem Kampf um ihre (Anmerkung: Diskriminierte) Belange und dem Eintreten für ihre Anliegen ist eine Möglichkeit geworden, sich und der Welt zu beweisen, dass man zu den Guten gehört.“
Interessant ist, dass uns Identitätspolitik also, obwohl wir im Zeitalter des Individualismus leben, mit ihrem tribalistischen Gruppendenken wieder in die Wir-Form zu pressen versucht. Da es in einer pluralen Gesellschaft nun aber entsprechend viele Identitäten gibt, entstehen immer mehr, immer kleinere Gruppen. Eigentlich, wie es der Journalist Kevin D. Williamson in The smallest Minoritytreffend auf den Punkt bringt, wäre ja anzunehmen, dass das individuelle Denken des Einzelnen der Masse größter Feind ist. „What the mob hates above all is the individual, insisting on his own mind, his own morals, and his own priorities.” Und dabei geht es gar nicht um den Inhalt des Denkens des Individuums, sondern um die Tatsache, dass das Individuum denkt, was es will, ohne dass vorher mit der Masse abzusprechen und um Erlaubnis zu bitten. Wie kann es also sein, dass diese Gruppen dennoch funktionieren?
Das berühmteste dieser Bücher ist sicherlich „Der Fürst“ von Machiavelli. Ein weiteres Buch, das fast genauso berühmt ist, ist die „Psychologie der Massen“ von Gustav Le Bon und auch das Buch „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ von Sigmund Freud ist sehr bedeutend.Es gibt Werke, die Wahrheiten aussprechen, die nicht schön sind. Sie blicken mit einer gewissen Gnadenlosigkeit auf die Realität und präsentieren dem Leser derart ungeschminkt die brutale Wahrheit über sich und seine Gesellschaft, dass man sich oft fragt, ob es gut ist, dass zu wissen, was einem da präsentiert wird.
Ganz allgemein kann man sagen, dass die Masse nicht rational, sondern emotional handelt. Le Bon spricht hier von einer „Herrschaft des Unbewussten“: der Einzelne verliert in der Masse seine persönliche Kritikfähigkeit, seine eigene Fähigkeit, die Dinge zu hinterfragen und zu durchdenken. Hierbei spielt es eigentlich keine Rolle, so Le Bon, wie gebildet jemand ist: als Teil der Masse wird er mitgezogen.
Die Masse denkt in Bildern. Sie braucht Material, das sofort und unmittelbar zu verarbeiten ist. Logik muss nur simuliert werden und das passiert, indem Dinge als miteinander verknüpft dargestellt werden, es aber nicht sind. Der Anschein reicht, und die Sache gilt als bewiesen – eine traurige Tatsache, die bis heute der Markenkern des Populismus ist. Die Wahrheit spielt keine Rolle: „Je dreister die Lügen, desto eher werden sie geglaubt.“
Dies macht die Masse sehr anfällig für „Führer“: eine Masse drängt zu einem Führer. Ohne einen Führer, d. h. ohne einen, der die Meinung vorgibt, ist die Masse wie eine Herde Schafe ohne Hirte, so Le Bon. Wenn es dem Führer gelingt, die Menge zu begeistern, bildhaft zu sprechen, die Emotionen zu wecken, gewinnt er Macht über sie.
Hierbei ist es ausgesprochen wichtig, immer Handlungen im Auge zu haben: die Masse will nicht denken, sie will etwas machen:
Diese Taten müssen zumindest scheinbar mit dem Weltbild der Masse verknüpft sein. Das Weltbild der Masse, so Le Bon, ist eher konservativ und religiös. Hintergrund ist wohl der Wunsch nach einem gewissen moralischen Halt, nach gemeinsamen Werten, der gerade in der Masse sehr präsent ist und der vor allem in der Tradition und in der Religion gestillt werden kann.
Bildung
Gustav Le Bon schaute sehr kritisch auf die Gesellschaften seiner Zeit, in der durch die Medien die Masse eine immer größere Rolle spielte. Le Bon sah den Untergang des damaligen Bildungsbürgertums und sah eine furchtbare Herrschaft der Massen aufziehen, die manipulierbar und verführbar sind.
Das oft vorgebrachte Rezept: „Es braucht mehr Bildung!“, wird von Le Bon sehr entschieden abgelehnt. Der Bildungsgrad des Einzelnen spielt in der Masse keine Rolle mehr. Le Bon spricht von einem „Bankrott der Wissenschaften“: diese haben zwar eine Wahrheit verkünden können, aber kein Glück und keinen Frieden.
Es ist hier sehr wichtig, darauf zu schauen, was Le Bon eigentlich unter „Bildung“ versteht. Damit meint er natürlich die Bildung seiner Zeit. Und die, so Le Bon, bestehe nur aus dem „Auswendiglernen von Texten und Büchern“, aber nicht in der Vermittlung der Dinge, auf die es im Leben wirklich ankommt: „Urteil, Erfahrung, Tatkraft und Charakter“.
Le Bon plädiert damit also durchaus für Bildung, aber eben für eine Bildung, die auf die wesentlichen Fragen des Lebens vorbereitet und den Menschen auf befähigt, politische Urteile abzugeben.
Demokratie?
Gustav Le Bons Schrift über die „Psychologie der Massen“ ist kein Werk, das einem großes Vertrauen in die Demokratie einflößt. Die Menge ist manipulierbar, sie ist sehr emotional und folgt demjenigen Führer oder derjenigen Sache, die auf diese emotionale Befindlichkeit hin ausgerichtet ist.
Diese Problematik zu leugnen oder als arrogant gegenüber dem „Volk“ darzustellen, ist naiv. Sowohl die Wahlen von Leuten wie Donald Trump oder Silvio Berlusconi (um nicht auf andere Gestalten der deutschen Vergangenheit verweisen zu müssen), aber auch die Volksabstimmung über den Brexit sind genau in dieser Lage entschieden worden. Die ersten Versuche der Demokratie im antiken Griechenland sind genau an dieser Befindlichkeit der Massen gescheitert.
Eine Konsequenz aus diesen uralten Erfahrungen ist das Parlament, und damit nicht die direkte, sondern die indirekte Herrschaft des Volkes. Eine andere Konsequenz ist die Gewaltenteilung des Staates.
Dennoch erweisen sich diese Sicherungsmechanismen oftmals als hilflos. Dies gilt gerade in diesen Zeiten, in denen durch das Internet und die sozialen Medien sehr schnell das erzeugt werden kann, was Le Bon die „Massenseele“ nennt.
Was ist zu tun?
Bildung: Le Bon selbst beschreibt die Bildung, die es braucht: „Urteil, Erfahrung, Tatkraft und Charakter“. Das wichtigste ist das Urteil. Bildung ist nicht identisch mit der Wissensvermittlung. Zu Le Bons Zeiten wurden Bücher auswendig gelernt, heute schaut man bei Wikipedia. Es darf in der Bildung nicht nur darum gehen, wie komme ich an Wissen heran, sondern wie gehe ich mit Wissen um: wie kann ich eine Situation rational beurteilen?
Schutz der Demokratie: Demokratie ist kein Selbstläufer und Demokratie heißt auch nicht nur: die Mehrheit entscheidet, was sie will. Demokratie lebt von bestimmten Werten (Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit usw.), diese Werte müssen in der Bildung vermittelt werden, aber sie müssen auch effektiv geschützt werden. Dies heißt, sensibler als bisher auf diejenigen zu schauen, welche diese Werte angreifen und die sich der Mechanismen bedienen, die Le Bon beschrieben hat. Hier gilt es, besser hinzusehen und auch schneller als bisher einzuschreiten.