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Von »der Ville de Montereau«, die am 15. September 1840 gegen sechs Uhr morgens zur Abfahrt bereit vor dem Quai-Bernard lag, wirbelte dichter Dampf auf.

Atemlos eilten Leute herbei; Fässer, Taue, Wäschekörbe hinderten den Verkehr. Die Matrosen gaben niemand eine Antwort. Man stieß sich; die Gepäckstücke häuften sich zwischen den beiden Luken, und der Lärm verlor sich in dem Zischen des entweichenden Dampfes, der alles in eine weißliche Wolke hüllte, während die Glocke vorn am Bug unablässig läutete.

Endlich stieß das Schiff ab, und die beiden Ufer, durch Lagerhäuser, Werften und Hüttenwerke belebt, glitten vorüber wie zwei breite Bänder, die man aufrollt.

Ein junger Mann von achtzehn Jahren mit langem Haar und einen Album unter dem Arm stand unbeweglich am Steuerrad. Durch den Nebel blickte er auf Kirchtürme und Gebäude, deren Namen er nicht kannte; dann warf er einen letzten Blick auf die Insel Saint-Louis, die Stadt, Notre-Dame, und stieß einen tiefen Seufzer aus, als Paris bald darauf verschwand.

Frédéric Moreau kehrte, nachdem er kürzlich das Baccalaureat erhalten hatte, nach Nogent-sur-Seine zurück, wo er zwei Monate schmachten sollte, ehe er seine Rechtsstudien in Angriff nahm. Seine Mutter hatte ihn, mit den notwendigen Mitteln versehen, zum Besuch eines Oheims nach Havre geschickt, auf dessen Erbschaft sie für ihn hoffte. Er war am vorhergehenden Abend von dort zurückgekehrt; und da er nicht in der Hauptstadt bleiben konnte, entschädigte er sich, indem er auf einem Umwege heimkehrte.

Der Tumult legte sich; alle hatten ihre Plätze eingenommen; einige wärmten sich an der Maschine, und der Schornstein spie mit langsam rhythmischem Stöhnen den schwarzen Rauch aus wie einen Federbusch. Über die Messingbeschläge rannen kleine Tautröpfchen; das Deck erzitterte unter einer leisen inneren Erschütterung, und in rapider Drehung schlugen die beiden Räder das Wasser.

Der Fluß war von flachen, sandigen Ufern begrenzt. Man begegnete Holzflößen, die durch die Wellen des Kielwassers ins Schwanken gerieten, oder einem Boot ohne Segel, in dem ein Mann saß und fischte. Dann zerteilte sich der weichende Nebel, die Sonne kam hervor; die Hügelkette, die sich am rechten Ufer der Seine hinzog, senkte sich allmählich, und eine andere tauchte ganz nah am gegenüberliegenden Ufer auf.

Bäume krönten sie zwischen niedrigen Häusern mit italienischen Dächern. Davor waren abschüssige Gärten, durch neue Mauern voneinander getrennt, mit Eisengittern, Rasenplätzen, Treibhäusern und in regelmäßigen Abständen Geraniumvasen auf Terrassen, wo man sich ausruhen konnte. Beim Anblick dieser koketten, friedlichen Besitzungen ersehnte mehr als einer, ihr Eigentümer zu sein und dort mit einem guten Billard, einem Boot, einer Frau oder sonst einem Traum bis ans Ende seiner Tage zu leben. Das völlig neue Vergnügen einer Wasserfahrt brachte die Leute einander näher. Die Spaßmacher begannen schon mit ihren Possen. Viele sangen; alle waren heiter. Man trank sich gegenseitig zu.

Frédéric dachte an das Zimmer, das er zu Haus bewohnen würde, an den Entwurf eines Dramas, an Sujets für Gemälde, an künftige Liebhabereien. Er fand, daß ein durch die Vortrefflichkeit seines Herzens wohl verdientes Glück allzu lange auf sich warten ließ. Er sprach Verse vor sich hin; er ging mit schnellen Schritten über das Deck, kam bis ans Ende neben die Glocke; – und in einem Kreise von Matrosen und Passagieren sah er einen Herrn, der mit einer Bäuerin schön tat, wobei er das goldene Kreuz auf ihrer Brust berührte. Es war ein lebensfroher Mensch von etwa vierzig Jahren mit krausem Haar. Seine kräftige Gestalt steckte in einer schwarzen Samtjacke, in seinem Batisthemd leuchteten zwei Smaragde, und die langen weißen Beinkleider fielen auf sonderbare rote Stiefel aus Juchtenleder mit blauen Mustern herab.

Die Anwesenheit Frédérics störte ihn nicht. Er zwinkerte ihm mehrmals zu; dann bot er allen Umstehenden Zigarren an. Allein offenbar langweilte ihn diese Gesellschaft und er entfernte sich. Frédéric folgte ihm.

Die Unterhaltung drehte sich anfangs um einige Tabaksorten, dann natürlich um die Frauen. Der Herr in den roten Stiefeln gab dem jungen Mann gute Ratschläge; er entwickelte Theorien, erzählte Anekdoten, stellte sich selbst als Beispiel auf und trug das alles in einem väterlichen Tone, mit der Naivität einer ergötzlichen Verderbtheit vor.

Er war Republikaner, war viel gereist, kannte die Theater, die Restaurants, die Journale, alle berühmten Künstler, die er vertraulich bei ihren Vornamen nannte; Frédéric vertraute ihm bald seine Pläne an und wurde von ihm ermutigt. Allein bald hielt er inne, beobachtete den Schornstein, stellte murmelnd eine lange Berechnung auf, »wieviel jeder Kolbenstoß bei so und so vielen in der Minute kostete und so weiter.« – Und als er die Summe gefunden hatte, bewunderte er eifrig die Landschaft, schätzte sich glücklich, den Geschäften entronnen zu sein.

Frédéric empfand einen gewissen Respekt vor ihm und konnte dem Wunsch nicht widerstehen, seinen Namen zu erfahren. Der Unbekannte erwiderte in einem Atemzuge:

»Jacques Arnoux, Inhaber der Kunsthandlung Boulevard Montmartre.«

Ein Diener mit goldbetreßter Mütze kam, ihn zu fragen:

»Ob der Herr herunterkommen möchte, das kleine Fräulein weine.«

Er verschwand.

Die Kunsthandlung war ein Etablissement, das die Ausgabe einer Kunstzeitschrift mit dem Verkauf von Gemälden verband. Frédéric hatte den Titel öfter in Buchhändlerauslagen seiner Heimat auf ungeheuren Prospekten gesehen, wo der Name Jacques Arnoux sich protzig breit machte.

Die Sonne warf jetzt senkrechte Strahlen, unter denen das Eisen an den Masten, die Platten der Schiffsverschanzung und die Oberfläche des Wassers hell aufleuchteten; am Bug des Schiffes teilte es sich in zwei tiefe Furchen, die sich bis zum Rande der Wiesen hinzogen. Bei jeder Biegung des Flusses erblickte man immer wieder dieselbe Wand bleicher Pappeln. Die Gegend war völlig öde. Am Himmel standen kleine weiße Wolken, – und die Langeweile, die sich verbreitete, schien die Fahrt des Schiffes zu verlangsamen und das Aussehen der Reisenden noch unbedeutender zu machen.

Außer einigen Bürgersleuten waren es meist Arbeiter und kleine Kaufleute mit ihren Frauen und Kindern. Da man sich damals auf Reisen schlecht zu kleiden pflegte, trugen fast alle alte Freiheitsmützen oder verschossene Hüte, schäbige, schwarze, im Bureau abgenutzte Anzüge oder längst ausgediente Überröcke mit durchgescheuerten Knöpfen; hier und da sah man unter einer Tuchweste ein baumwollenes Hemd mit Kaffeeflecken. Unechte Goldnadeln steckten in zerfetzten Kravatten, das Schuhzeug wurde nur noch von den Hosenstegen zusammengehalten; zwei oder drei Strolche, die Bambusstöcke mit Lederschlingen trugen, warfen verdächtige Blicke umher, und Familienväter rissen die Augen auf, wenn sie Fragen stellten. Sie plauderten oder hockten auf ihrem Gepäck, einige schliefen in den Ecken, mehrere im Stehen. Das Deck war schmutzig von Birnen- und Nußschalen, Zigarrenstummeln, Überresten der in Papier mitgebrachten Fleischwaren; drei Kunsttischler in Blusen hatten sich vor der Kantine niedergelassen, ein zerlumpter Harfenspieler ruhte, auf sein Instrument gestützt. In Zwischenräumen vernahm man das Geratter der Steinkohlen in der Maschine, Lärm von Stimmen, ein Lachen; – und der Kapitän wanderte auf der Brücke unaufhörlich von einer Luke zur andern. Frédéric stieß das Gitter zur ersten Klasse auf, um an seinen Platz zu gelangen und belästigte dabei zwei Jäger mit ihren Hunden.

Es war wie eine Erscheinung:

Sie saß mitten auf einer Bank, ganz allein; oder wenigstens konnte er, von dem Anblick geblendet, niemand weiter unterscheiden. In dem Augenblick, als er vorüberging, hob sie den Kopf; unwillkürlich verbeugte er sich; und nachdem er sich in einiger Entfernung an derselben Seite niedergelassen hatte, betrachtete er sie.

Sie trug einen großen Strohhut mit rosa Bändern, die hinter ihr im Winde flatterten. Schwarze Scheitel, die ihr Gesicht bis zu den Spitzen der langen Brauen einrahmten und sehr tief herabfielen, schienen sich zärtlich dem Oval ihres Antlitzes anzuschmiegen. Ihr helles, mit kleinen Tupfen gemustertes Musselinkleid bauschte sich in zahlreichen Falten. Sie war mit einer Stickerei beschäftigt, und ihre gerade Nase, ihr Kinn, ihre ganze Gestalt zeichnete sich scharf von der blauen Luft ab.

Da sie in derselben Stellung verharrte, ging er mehrmals links und rechts vorüber, um seine Absichten zu verbergen, stellte sich darauf dicht neben ihren Sonnenschirm, der an der Bank lehnte, und gab sich den Anschein, als beobachtete er eine Schaluppe auf dem Fluß.

Noch niemals hatte er eine so herrlich braune Hautfarbe gesehen, eine so verführerische Gestalt wie die ihre, noch nie eine solche Zartheit der Finger, durch die das Licht hindurchschimmerte. Mit Staunen, wie etwas Wunderbares, betrachtete er ihren Arbeitskorb. Wie war ihr Name, ihr Wohnort, ihr Leben, ihre Vergangenheit? Er hatte das Verlangen, die Möbel ihres Zimmers zu kennen, alle Kleider, die sie getragen, die Leute, mit denen sie umging; und selbst der Wunsch nach ihrem körperlichen Besitz wich einem viel tieferen Begehren, einer schmerzlichen Neugier, die keine Grenzen kannte.

Eine Negerin in einem seidenen Kopftuch erschien mit einem kleinen Mädchen an der Hand. Das Kind, aus dessen Augen Tränen rollten, war eben erwacht. Sie nahm es auf den Schoß. »Ein Fräulein von bald sieben Jahren und gar nicht artig; Mutter kann es nicht mehr lieb haben, die Launen werden ihm zu oft verziehen.« Und Frédéric bereitete das Anhören dieser Dinge eine Freude, als hätte er eine Entdeckung gemacht, ein Geschenk erhalten.

Er vermutete, daß sie von andalusischer Abkunft, vielleicht Kreolin war; ob sie diese Negerin von den Inseln mitgebracht hatte?

Ein langer Schal mit violetten Streifen lag hinter ihrem Rücken auf der Kupferplanke. Sie mochte sich wohl oftmals auf hoher See, an feuchten Abenden darin eingehüllt, die Füße damit bedeckt, darunter geschlafen haben! Aber von den Fransen heruntergezogen, glitt er allmählich herab, drohte ins Wasser zu fallen. Mit einem Satz fing Frédéric ihn auf.

»Ich danke Ihnen, mein Herr,« sagte sie.

Ihre Blicke begegneten sich.

»Frau, bist du fertig?« rief Arnoux, der unter dem Dach der Treppe erschien.

Die kleine Marthe lief ihm entgegen, umklammerte seinen Hals und zerzauste ihn am Bart. Die Töne einer Harfe erklangen, sie wollte die Musikanten sehen, und bald betrat der Spieler, von der Negerin geführt, das Deck der ersten Klasse. Arnoux erkannte ein altes Modell in ihm; er duzte ihn zur Verwunderung der Umstehenden. Endlich warf der Harfenspieler sein langes Haar über die Schulter zurück, breitete die Arme aus und begann zu spielen.

Es war eine orientalische Romanze, in der von Dolchen, Blumen und Sternen die Rede war. Der Mann in Lumpen sang sie mit schriller Stimme; die Stöße der Maschine unterbrachen die Melodie in falschem Takt, er spielte lauter: die Saiten schwirrten, und ihre metallischen Töne klangen wie ein Schluchzen, wie eine Klage stolzer, besiegter Liebe. Von den beiden Flußufern neigten sich die Wälder bis zum Rande des Wassers; ein frischer Luftzug strich vorüber; Madame Arnoux blickte ungewiß ins Weite. Als die Musik verstummte, hob sie zögernd die Lider, als erwache sie aus einem Traum. Demütig näherte sich der Harfenspieler. Während Arnoux Geld heraussuchte, streckte Frédéric die geschlossene Hand aus, öffnete sie verschämt und legte einen Louisd’or in die Mütze. Nicht Eitelkeit trieb ihn dazu, vor ihr dieses Almosen zu geben, sondern das Verlangen, Wohltaten zu spenden, mit einer fast religiösen Herzensregung verbunden.

Arnoux forderte ihn freundlich auf, mit hinunterzugehen, indem er ihm den Weg zeigte. Frédéric versicherte, er komme eben vom Frühstück, dabei verging er vor Hunger; und er hatte keinen Pfennig mehr in der Börse.

Dann sagte er sich, daß er wie jedermann das Recht hatte, sich im Salon aufzuhalten.

Es wurde an runden Tischen gespeist, ein Kellner ging hin und her; Monsieur und Madame Arnoux saßen rechts im Hintergrund; er setzte sich auf die lange Samtpolsterbank, nachdem er eine Zeitung aufgenommen hatte, die dort lag.

Sie wollten in Montereau die Post nach Châlons nehmen. Ihre Reise in die Schweiz sollte einen Monat währen. Madame Arnoux machte ihrem Gatten Vorwürfe über seine Schwäche gegen das Kind. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, eine Liebenswürdigkeit offenbar, denn sie lächelte. Darauf bemühte er sich, den Fenstervorhang hinter ihr zu schließen.

Die niedrige, ganz weiße Decke warf das Licht grell zurück. Frédéric konnte von gegenüber den Schatten ihrer Wimpern unterscheiden. Sie nippte an ihrem Glase und zerkrümelte Brotkruste zwischen den Fingern; zuweilen schlug das Medaillon von Lapislazuli, das mit einer Goldkette an ihrem Handgelenk befestigt war, gegen ihren Teller. Die anderen alle schienen sie gar nicht zu bemerken.

Zuweilen sah man durch die Fensterluken eine Barke vorübergleiten, die das Schiff anlief, um Reisende aufzunehmen oder abzusetzen. Die Leute an den Tischen neigten sich aus den Öffnungen und nannten die Namen der Ortschaften am Fluß.

Arnoux beklagte sich über die Küche; er beschwerte sich laut über die Rechnung und ließ sie kürzen. Dann führte er den jungen Mann vorn auf das Schiff, um dort Grog zu trinken. Aber Frédéric kehrte bald unter das Zelt zurück, wo Madame Arnoux sich niedergelassen hatte. Sie las in einem winzigen Bändchen in grauem Einband. Ihre beiden Mundwinkel zogen sich mitunter empor, und ein Strahl von Heiterkeit erhellte ihre Stirn. Er war eifersüchtig auf denjenigen, der die Dinge erdacht hatte, mit denen sie beschäftigt schien. Je länger er sie betrachtete, desto mehr empfand er, wie die Kluft zwischen ihm und ihr sich vertiefte. Er dachte daran, daß er sie bald verlassen mußte, unwiderruflich, ohne ihr ein Wort entlockt zu haben, selbst ohne ihr eine Erinnerung zu lassen!

Zur Rechten dehnte sich eine Ebene, links stiegen Weideplätze die Hügel hinan, auf denen man Weingelände, Nußbäume, eine Mühle im Grünen bemerkte, und von dort aus kleine Pfade, die im Zickzack über den weißen Felsen führten, der zum Himmelsrand emporragte. Welch ein Glück mußte es sein, Seite an Seite mit ihr, den Arm um sie geschlungen, dort hinaufzusteigen und, während ihr Kleid über die vergilbten Blätter fegte, unter dem Leuchten ihrer Augen ihrer Stimme zu lauschen! Das Boot konnte anhalten, sie brauchten nur auszusteigen; und dennoch war diese einfache Sache nicht leichter, als die Sonne zu bewegen!

Etwas weiterhin entdeckte man ein Schloß mit spitzem Dach und eckigen Türmen. Ein Blumengarten dehnte sich vor der Fassade; und unter den hohen Linden vertieften die Alleen sich wie dunkle Gewölbe. Er dachte sie sich an der Weißbuchenhecke vorübergehend. In diesem Augenblick sah man eine junge Dame und einen jungen Mann auf dem Altan zwischen den Orangekübeln. Dann verschwand alles.

Das kleine Mädchen spielte neben ihm. Frédéric wollte es küssen. Es verbarg sich hinter seiner Wärterin; und die Mutter schalt, daß es unfreundlich gegen den Herrn sei, der ihren Schal gerettet habe. War das eine indirekte Einleitung?

»Wird sie mich endlich ansprechen?« fragte er sich.

Die Zeit drängte. Wie war eine Einladung zu Arnoux zu erlangen? Ihm fiel nichts Besseres ein, als ihn auf die Farbe des Herbstes aufmerksam zu machen und hinzuzufügen:

»Bald kommt der Winter, die Zeit der Bälle und Diners!«

Arnoux jedoch war vollauf mit seinem Gepäck beschäftigt. Die Küste von Surville wurde sichtbar, die beiden Brücken näherten sich, sie kamen an einer Seilerei vorüber, darauf an einer Reihe niedriger Häuser; weiter unten sah man Teerkessel, Holzspähne und Gassenbuben, die im Sande Rad schlugen. Frédéric erkannte einen Mann in einem Wams und rief ihm zu:

»Beeile dich!«

Sie landeten. Mit Mühe fand er Arnoux in der Menge der Passagiere, und dieser erwiderte, ihm die Hand schüttelnd:

»Viel Vergnügen, mein Lieber!«

Auf dem Quai angelangt, drehte Frédéric sich um. Sie stand dicht am Steuerrad. Er sandte ihr einen Blick, in den er seine ganze Seele zu legen versuchte; sie blieb unbeweglich, als wäre nichts geschehen. Dann rief er, ohne den Gruß seines Dieners zu beachten:

»Warum hast du den Wagen nicht bis hierher gebracht?«

Der Mann entschuldigte sich.

»Welche Ungeschicklichkeit! Gib mir etwas Geld!«

Und er ging in ein Gasthaus, um zu essen. Eine Viertelstunde darauf verspürte er Lust, wie zufällig in den Posthof einzutreten. Ob er sie noch sehen würde?

»Doch wozu?« sagte er sich.

Und der Wagen fuhr mit ihm davon. Die beiden Pferde gehörten nicht seiner Mutter. Sie hatte sie von Monsieur Chambrion, dem Steuereinnehmer, geliehen, um sie dem eignen Wagen vorzuspannen. Isidore, der Tags zuvor aufgebrochen war, hatte bis zum Abend in Bray gerastet und in Montereau übernachtet, so daß die erfrischten Tiere flink dahintrabten.

Abgemähte Felder zogen sich endlos hin. Zwei Reihen Bäume säumten den Weg ein, wo Kieselsteinhaufen sich aneinander reihten; und nach und nach kam er an Villeneuve-Saint-Georges, Ablon, Châtillon, Corbeil und den übrigen Ortschaften vorüber. Seine ganze Reise kam ihm so deutlich wieder in Erinnerung, daß er jetzt ganz neue Details und intimere Einzelheiten entdeckte. Unter dem letzten Volant ihres Kleides lugte ihr Fuß in winzigen, kastanienbraunen Seidenstiefelchen hervor; das Segeltuchzelt bildete einen Baldachin über ihrem Kopf, und die kleinen roten Quasten der Bordüre zitterten unaufhörlich im Winde.

Sie glich den Frauen aus romantischen Büchern. Er hätte ihrer Person nichts zufügen, nichts von ihr fortlassen mögen. Das Weltall hatte sich plötzlich erweitert. Sie war der Glanzpunkt, in dem alle Dinge zusammenflossen; – und von dem Schwanken des Wagens eingewiegt, die Lider halb geschlossen, den Blick in den Wolken, überließ er sich einer träumerischen, schrankenlosen Freude.

In Bray wartete er nicht, bis die Pferde Hafer bekommen hatten, er ging voraus, die Landstraße hinauf, ganz allein. Arnoux hatte sie »Marie!« genannt. Er rief ganz laut »Marie!« Seine Stimme verhallte in der Luft.

Tiefe Purpurfarbe flammte am westlichen Himmel auf. Hohe Kornschober, die sich mitten in den Stoppelfeldern erhoben, warfen riesenhafte Schatten. Fernab in einem Hof fing ein Hund an zu bellen. Von einer grundlosen Unruhe erfaßt, erschauerte er.

Als Isidore ihn eingeholt hatte, setzte er sich auf den Bock, um zu kutschieren. Seine Schwäche war vorüber. Er war fest entschlossen, sich auf irgendeine Art bei Arnoux einzuführen, in Verkehr mit ihnen zu kommen. Sie führten wohl ein angenehmes Haus, ihm gefiel Arnoux; und dann, wer konnte wissen? Eine Blutwelle stieg ihm ins Gesicht: seine Schläfen hämmerten, er ließ die Peitsche knallen, riß an den Zügeln und trieb die Pferde zu einer solchen Gangart an, daß der alte Kutscher wiederholt ausrief:

»Langsam! aber langsam! Sie kommen außer Atem!«

Allmählich beruhigte sich Frédéric und hörte dem Plaudern des Dieners zu.

Man erwartete den jungen Herrn mit großer Ungeduld. Mademoiselle Louise hatte geweint, weil sie nicht mitfahren durfte.

»Wer ist Mademoiselle Louise?«

»Die Kleine von Monsieur Roque, Sie wissen doch?«

»Ah! Ich vergaß!« erwiderte Frédéric nachlässig.

Allein die Pferde konnten nicht weiter. Sie hinkten alle beide, und es schlug neun Uhr von Saint-Laurent, als sie auf der Place d’Armes vor dem Hause seiner Mutter anlangten.

Dieses geräumige Haus mit dem nach der Landseite gelegenen Garten erhöhte noch das Ansehen von Madame Moreau, die die geachtetste Persönlichkeit in der Gegend war.

Sie entstammte einer alten, jetzt erloschenen Adelsfamilie. Ihr Mann, ein Bürgerlicher, mit dem ihre Eltern sie verheiratet hatten, war infolge eines Degenstoßes während ihrer Schwangerschaft gestorben und hatte sie in unsicheren Vermögensverhältnissen zurückgelassen. Dreimal wöchentlich empfing sie Gäste und gab von Zeit zu Zeit ein gutes Diner. Doch die Zahl der Kerzen wurde vorher berechnet, und sie erwartete mit Ungeduld ihren Pachtzins. Diese Geldverlegenheiten, die sie wie ein Laster verheimlichte, machten sie ernst. Indessen übte sie Wohltätigkeit ohne jede Bitterkeit. Ihre geringsten Almosen waren wie große Spenden. Man zog sie bei der Wahl der Dienstboten zu Rate, bei der Erziehung der jungen Mädchen der Kunst des Einmachens, und Hochwürden stieg auf seinen bischöflichen Reisen bei ihr ab.

Madame Moreau hegte großen Ehrgeiz für ihren Sohn. In einer Art voraussehender Klugheit liebte sie es nicht, die Regierung tadeln zu hören. Anfangs würde er Protektion brauchen; dann aber dank seiner Fähigkeiten Staatsrat, Botschafter, Minister werden. Seine Erfolge auf dem Gymnasium rechtfertigten diesen Stolz; er hatte den Ehrenpreis davongetragen.

Als er in den Salon trat, erhoben sich alle sehr geräuschvoll; sie umarmten ihn, und dann bildete sich mit Sesseln und Stühlen ein großer Kreis um den Kamin. Monsieur Gamblin fragte ihn sofort um seine Meinung über Madame Lafarge. Dieser Prozeß, die Sensation der damaligen Zeit, verfehlte nicht, eine heftige Diskussion herbeizuführen. Madame Moreau unterbrach sie jedoch zum Bedauern von Monsieur Gamblin; er hielt sie für den jungen Mann in seiner Eigenschaft als zukünftigen Juristen sehr nützlich und verließ gekränkt den Salon.

Von einem Freunde des Vater Roque konnte nichts überraschen! Von diesem übrigens kam die Rede auf Monsieur Dambreuse, der soeben die Domaine de la Fortelle erworben hatte. Aber der Steuereinnehmer hatte Frédéric beiseite gezogen, um zu hören, was er von Monsieur Guizets letztem Werk halte. Alle wünschten Einblick in seine Angelegenheiten; Madame Benoit wandte sich direkt an ihn und erkundigte sich nach seinem Oheim. Wie ging es diesem guten Verwandten? Er ließ nichts mehr von sich hören. Hatte er nicht einen jungen Neffen in Amerika?

Die Köchin meldete, daß das Essen für den jungen Herrn aufgetragen sei. Rücksichtsvoll entfernten sich alle. Als sie allein waren, fragte die Mutter mit leiser Stimme:

»Nun?«

Der alte Mann hatte ihn sehr herzlich empfangen, aber ohne ihm seine Absichten zu offenbaren.

Madame Moreau seufzte.

»Wo mag sie jetzt sein?« träumte er.

Der Postwagen rollte weiter, und in ihren Schal gehüllt, lehnte sie wohl schlummernd ihren schönen Kopf gegen das Wagenpolster.

Als sie in ihr Zimmer hinaufgingen, brachte ein Bursche aus dem Cygne de la Croix ein Billet.

»Von wem ist das?«

»Deslauriers wünscht mich zu sprechen,« sagte er.

»Ah, dein Kamerad!« sagte Madame Moreau mit verächtlichem Lächeln. »Die Stunde ist gut gewählt, wahrlich!«

Frédéric zögerte. Aber die Freundschaft war stärker. Er nahm seinen Hut.

»Bleibe wenigstens nicht lange!« sagte die Mutter.

Die Erziehung der Gefühle

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