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5.

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Am nächsten Vormittag hatte er sich einen Farbenkasten, Pinsel und eine Staffelei gekauft. Pellerin willigte ein, ihm Unterricht zu geben, und Frédéric führte ihn in seine Wohnung, um zu sehen, ob an seinen Mal-Utensilien nichts fehle.

Deslauriers war zurückgekommen. Ein junger Mann saß auf dem zweiten Sessel. Der Schreiber sagte, auf ihn weisend:

»Das ist er! da ist er nun! Sénécal!«

Dieser junge Mensch mißfiel Frédéric… Die Stirn trat unter seinem ganz kurz geschorenen Haar noch mehr hervor. Etwas Hartes, Kaltes stach aus seinen grauen Augen; und sein langer schwarzer Überrock, sein ganzes Kostüm verriet den Pädagogen, den Geistlichen.

Anfangs sprach man über Tagesereignisse, unter anderm von Rossinis Stabat; Sénécal, danach gefragt, erklärte, er gehe niemals ins Theater. Pellerin öffnete den Farbenkasten.

»Ist das alles für dich?« sagte der Schreiber.

»Aber selbstverständlich!«

»Ach was! welch eine Idee!«

Und er neigte sich über den Tisch, wo der Hilfslehrer der Mathematik in einem Bande von Louis Blanc blätterte. Er hatte ihn selber mitgebracht und las mit leiser Stimme Stellen daraus, während Pellerin und Frédéric zusammen die Palette, den Spachtel, die Tuben untersuchten, worauf sie anfingen, sich über das Diner bei Arnoux zu unterhalten.

»Der Kunsthändler?« fragte Sénécal. »Netter Herr, wahrhaftig!«

»Weshalb denn?« sagte Pellerin.

Sénécal erwiderte:

»Ein Mann, der aus politischen Schandtaten Geld herausschlägt!«

Und er fing an von einer bekannten Lithographie zu erzählen, auf der die ganze königliche Familie bei erbaulichen Beschäftigungen dargestellt war: Louis Philippe hielt ein Gesetzbuch, die Königin ein Gebetbuch, die Prinzessinnen stickten, der Herzog von Nemours gürtete sich einen Säbel um; Monsieur de Joinville zeigte seinen jüngeren Brüdern eine Landkarte; im Hintergrund bemerkte man ein zweischläfriges Bett. Dieses Bild, »Eine gute Familie« betitelt, war das Entzücken der Bürger gewesen, aber der Kummer der Patrioten. Pellerin erwiderte in einem ärgerlichen Ton, als wäre er selbst der Urheber, daß doch alle Meinungen von gleichem Wert seien. Sénécal widersprach. Die Kunst sollte ausschließlich die Moralisierung der Massen im Auge haben! Es müßten nur Stoffe wiedergegeben werden, die tugendhafte Handlungen darstellten; die andern wären schädlich.

»Aber das hängt doch von der Ausführung ab!« rief Pellerin aus. »Ich kann Meisterwerke schaffen!«

»Dann um so schlimmer. Man hat nicht das Recht…«

»Wie?«

»Nein, mein Herr, Sie haben nicht das Recht, mich für Dinge zu interessieren, die ich mißbillige! Wozu brauchen wir diese mühseligen Nichtigkeiten, aus denen unmöglich ein Nutzen zu ziehen ist, diese ewige Venus zum Beispiel, mit all euern Landschaften? Ich sehe darin keine Belehrung für das Volk! Zeigt uns dann lieber sein Elend! Begeistert uns für seine Opfer! Ach, mein Gott, an Gegenständen fehlt es nicht: die Felder und Wiesen, die Werkstätte…«

Entrüstet und in dem Glauben, ein Argument gefunden zu haben, stammelte Pellerin:

»Und Molière, lassen Sie den gelten?«

»Meinetwegen,« sagte Sénécal. »Ich bewundere ihn als Vorboten der französischen Revolution.«

»Ah! die Revolution! Welch eine Kunst! Nie gab es eine kläglichere Epoche!«

»Keine größere, mein Herr!«

Pellerin kreuzte die Arme und blickte ihm ins Gesicht:

»Sie sind wohl einer der berühmten Nationalgardisten!«

Sein Gegner, der an Diskussionen gewöhnt war, erwiderte ihm:

»Das nicht! und ich verabscheue sie ebenso wie Sie. Aber mit solchen Prinzipien verdirbt man die Menge! Übrigens aber rechnet die Regierung damit, sie wäre nicht so stark ohne die Mitschuld eines Haufens von Narren wie diese.«

Der Maler übernahm die Verteidigung des Kaufmanns, denn die Ansichten Sénécals brachten ihn auf. Er ging sogar so weit, zu behaupten, daß Jacques Arnoux ein Herz von Gold habe, seinen Freunden ergeben sei und seine Frau zärtlich liebe.

»Wer weiß! Wenn man ihm eine schöne Summe böte, würde er sich nicht weigern, sie als Modell herzugeben.«

Frédéric wurde bleich.

»Er hat Ihnen wohl großes Unrecht getan?«

»Mir? nein! Ich habe ihn nur einmal mit einem Freunde im Café gesehen. Das ist alles!«

Sénécal sprach die Wahrheit. Aber er fühlte sich täglich durch die Reklamen der Kunsthandlung peinlich berührt. Arnoux war für ihn der Repräsentant einer Welt, die er als unheilvoll für die Demokratie betrachtete. Als strenger Republikaner hielt er jede Vornehmheit für verdächtig, da er selber keine Bedürfnisse hatte und von unbeugsamer Gradheit war.

Es war schwer, die Unterhaltung wieder anzubahnen. Der Maler erinnerte sich bald seiner Verabredung, der Lehrer seiner Schüler; und als sie gegangen waren, stellte Deslauriers nach langem Schweigen verschiedene Fragen über Arnoux.

»Du führst mich dort später ein, nicht wahr, alter Junge?«

»Gewiß,« sagte Frédéric.

Darauf berieten sie ihre Einrichtung. Deslauriers hatte ohne Mühe eine Stelle als zweiter Schreiber bei einem Anwalt erhalten, hatte sich bei der Juristischen Fakultät immatrikulieren lassen, unentbehrliche Bücher gekauft – und das Leben, das so lange erträumte, begann.

Es war herrlich, dank der Schönheit ihrer Jugend. Da Deslauriers von einer Übereinkunft in Geldsachen nichts gesagt hatte, sprach Frédéric auch nicht davon. Er bestritt alle Ausgaben, sorgte für Ordnung, nahm sich des Haushalts an; aber wenn der Hausmeister einmal heruntergemacht werden sollte, so nahm der Schreiber es auf sich und fuhr fort, wie auf dem Gymnasium, die Rolle des Beschützers und des Älteren zu spielen.

Den ganzen langen Tag hindurch getrennt, fanden sie sich abends wieder zusammen. Jeder nahm seinen Platz am Kamin ein und setzte sich an seine Arbeit, aber sie zögerten nicht, sie zu unterbrechen. Es kamen Ergüsse ohne Ende, Fröhlichkeit ohne Grund, und zu weilen Streitigkeiten wegen einer Lampe, die qualmte, oder wegen eines verlegten Buches, Zornesausbrüche einer Minute, die unter Lachen verstummten.

Die Tür zu der Kammer blieb offen, und sie plauderten in ihren Betten.

Morgens spazierten sie in Hemdsärmeln auf ihrer Terrasse hin und her, die Sonne ging auf, leichte Nebel wallten über den Fluß, man hörte ein Kreischen vom Blumenmarkt nebenan; – und der Rauch ihrer Pfeifen wirbelte in der reinen Luft, die ihre noch verquollenen Augen erfrischte; sie atmeten sie ein und empfanden eine unermeßliche Hoffnungsfreudigkeit.

Sonntags gingen sie, wenn es nicht regnete, zusammen aus, und schlenderten Arm in Arm durch die Straßen. Fast immer überkam sie gleichzeitig dieselbe Nachdenklichkeit, oder sie plauderten, ohne etwas um sich her zu sehen. Deslauriers strebte nach Reichtum als Mittel zur Macht über die Menschen. Er hätte viele Leute in Bewegung setzen, viel Lärm machen, drei Sekretäre zu seiner Verfügung haben und einmal wöchentlich ein politisches Diner geben mögen. Frédéric richtete sich in Gedanken ein Palais in maurischem Stil ein, um sich, auf Kaschmirdiwans hingestreckt, beim Geplätscher eines Springbrunnens, von Negerpagen bedienen zu lassen; – und diese erträumten Dinge standen schließlich so deutlich vor ihm, daß er untröstlich war, als hätte er sie verloren.

»Wozu von alledem reden,« sagte er, »da wir es doch niemals haben werden.«

»Wer weiß?« sagte Deslauriers.

Trotz seiner demokratischen Ansichten schlug er ihm vor, Dambreuse nochmals zu besuchen. Frédéric wandte seine früheren Versuche ein.

»Ach was! Geh nur wieder hin! Sie laden dich schon ein!«

Gegen Mitte März erhielten sie unter anderen hohen Rechnungen diejenige des Speisewirts, der ihnen ihr Essen schickte. Frédéric, der nicht mehr die genügende Summe hatte, lieh von Deslauriers hundert Taler; vierzehn Tage später wiederholte er dieselbe Bitte, und der Schreiber schalt ihn wegen der Ausgaben, die er bei Arnoux machte.

Er kannte darin tatsächlich kein Maß. Eine Ansicht von Venedig, eine von Neapel und eine andere von Konstantinopel nahmen die Mitte der drei Wände ein, da und dort Reiterstudien von Alfred de Dreux und eine Gruppe von Pradier auf dem Kamin, Nummern der Kunsthandlung auf dem Piano und Mappen in den Ecken und auf dem Boden überfüllten ihre Wohnung derart, daß man kaum Platz hatte, ein Buch fortzulegen und die Arme zu bewegen. Frédéric behauptete, alles das für seine Malerei zu brauchen.

Er arbeitete bei Pellerin. Aber oft war Pellerin unterwegs, – er hatte die Gewohnheit, allen Leichenbegängnissen und Ereignissen, die von den Zeitungen erwähnt wurden, beizuwohnen; – und Frédéric verbrachte ganze Stunden allein im Atelier. Die Ruhe dieses großen Raumes, wo man nur das Rascheln der Mäuse vernahm, das von der Decke herabfallende Licht, ja, selbst das Knistern im Ofen, alles versenkte ihn anfangs in eine Art geistigen Wohlbefindens. Dann schweiften seine Augen, wenn er von der Arbeit aufblickte, über die Wände, die Nippsachen auf der Etagere, die Torsi, auf denen der angesammelte Staub wie Samtfetzen lag; und wie ein Reisender, der sich mitten im Walde verirrt hat, wo alle Wege immer auf denselben Platz zurückführen, fand er auf dem Grunde jedes Gedankens die Erinnerung an Madame Arnoux.

Er bestimmte Tage, an denen er zu ihr gehen wollte; in der zweiten Etage, vor ihrer Tür angelangt, zögerte er zu klingeln. Und näherten sich Schritte, wurde geöffnet, so war es bei den Worten: »Madame ist ausgegangen,« wie eine Befreiung, eine Last war ihm vom Herzen genommen.

Schließlich traf er sie aber doch an. Das erste Mal waren drei Damen bei ihr; an einem Nachmittag kam der Schreiblehrer der kleinen Marthe dazu. Übrigens machten die Herren, die bei Madame Arnoux verkehrten, ihr keine Besuche. Seine Zurückhaltung verbot auch ihm, wieder hinzugehen.

Aber um zu den Donnerstag-Diners eingeladen zu werden, versäumte er nicht, sich regelmäßig jeden Mittwoch in der Kunsthandlung einzufinden; und er blieb länger als alle andern, länger als Regimbart, bis zur letzten Minute, indem er tat, als betrachte er eine Gravüre, als blättere er in einer Zeitung. Schließlich sagte Arnoux zu ihm: – »Sind Sie morgen abend frei?«

Er nahm an, ehe der Satz ausgesprochen war. Arnoux schien Zuneigung zu ihm zu fassen. Er lehrte ihn die Kunst, Weine zu prüfen, Punsch abzubrennen und Schnepfenragout zu bereiten; Frédéric befolgte gelehrig seine Ratschläge, – er liebte alles, was in Zusammenhang mit Madame Arnoux stand, ihre Möbel, ihre Dienstboten, ihr Haus und ihre Straße.

Er sprach nicht viel während dieser Diners; er betrachtete sie nur. Sie hatte rechts, an der Schläfe, ein kleines Schönheitsfleckchen; ihre tiefen Scheitel waren schwärzer als ihr übriges Haar und immer wie ein wenig feucht am Rande; sie strich bisweilen nur mit zwei Fingern darüber hin. Er kannte die Form eines jeden ihrer Nägel, es war ihm ein Genuß, das Rauschen ihres Seidenkleides zu hören, wenn sie durch die Türen schritt, er sog verstohlen den Duft ihres Taschentuchs ein; ihr Kamm, ihre Handschuhe, ihre Ringe waren für ihn merkwürdige Dinge, bedeutend wie Kunstwerke, fast beseelt wie Personen; alles fesselte sein Herz und vermehrte seine Leidenschaft.

Er hatte nicht die Kraft gehabt, sie vor Deslauriers zu verbergen. Wenn er von Madame Arnoux kam, weckte er ihn wie aus Versehen, um von ihr reden zu können.

Deslauriers, der in der kleinen Kammer schlief, gähnte laut. Frédéric setzte sich ans Fußende seines Bettes. Erst sprach er vom Diner, darauf erzählte er tausend unbedeutende Einzelheiten, in denen er Zeichen von Verachtung oder Zuneigung sah. Einmal zum Beispiel hatte sie seinen Arm zurückgewiesen, um den Dittmers’ zu nehmen, und Frédéric war untröstlich.

»Ach! was für Dummheiten!«

Oder sie hatte ihn einmal ihren »Freund« genannt.

»So gehe doch hin und sei vergnügt!«

»Aber ich wage es nicht,« sagte Frédéric.

»Schön, dann denke nicht mehr daran! Gute Nacht!«

Deslauriers kehrte sich zur Wand und schlief ein. Er begriff nichts von dieser Liebe, die er als letzte Jugendtorheit ansah; und da Frédéric seine Freundschaft offenbar nicht mehr genügte, nahm er sich vor, ihre gemeinsamen Freunde einmal in der Woche einzuladen.

Sie kamen am Sonnabend gegen neun Uhr. Die drei algerischen Vorhänge waren sorgfältig vorgezogen; die Lampe und vier Kerzen brannten; mitten auf dem Tisch stand der Tabakskasten voll Pfeifen zwischen Bierflaschen, dem Teegeschirr, einer Flasche Rum und kleinem Gebäck. Man diskutierte über die Unsterblichkeit der Seele, zog Vergleiche zwischen den Professoren.

Hussonnet führte eines Abends einen großen jungen Mann in einem viel zu kurzärmeligen Überrock und verlegener Haltung ein. Es war der Bursche, gegen dessen Verhaftung sie im vorigen Jahre auf der Wache Einspruch erhoben hatten.

Da er seinem Meister den im Getümmel verlorenen Karton mit Spitzen nicht hatte wiedergeben können, hatte dieser ihn des Diebstahls bezichtigt und mit den Gerichten bedroht; jetzt war er Angestellter in einem Fuhrgeschäft. Hussonnet war ihm morgens an einer Straßenecke begegnet und führte ihn her, denn Dussardier wollte aus Dankbarkeit gern den »andern« sehen.

Er reichte Frédéric die noch gefüllte Zigarrentasche, die er, in der Hoffnung, sie wiederzugeben, gewissenhaft bewahrt hatte. Die jungen Leute forderten ihn auf, wiederzukommen. Er versäumte es nicht.

Alle sympathisierten miteinander. Vor allem stand ihr Haß gegen die Regierung als unbestrittenes Dogma obenan. Martinon allein versuchte Louis Philippe zu verteidigen. Man stürmte mit Gemeinplätzen aus den Zeitungen auf ihn ein: die Befestigung von Paris, die Septembergesetze, Pritchard, Lord Guizot – so daß Martinon in der Furcht, jemand zu verletzen, verstummte. In den sieben Jahren auf dem Gymnasium hatte er keine Strafarbeit bekommen, und auf der Universität wußte er den Professoren zu gefallen. Er trug meist einen groben Überrock von Mastixfarbe und Gummischuhe; aber eines Abends erschien er wie zu einer Hochzeit gekleidet in langer Samtweste, weißer Kravatte und Goldkette.

Das Erstaunen verdoppelte sich, als man erfuhr, daß er von Monsieur Dambreuse kam. Die Sache war die, daß der Bankier Dambreuse von dem Vater Martinons einen beträchtlichen Posten Holz gekauft hatte; und als der gute Mann ihm seinen Sohn vorstellte, hatte er sie beide zum Diner eingeladen.

»Gab es viele Trüffeln?« fragte Deslauriers, »und hast du zwischen zwei Türen seine Frau um die Taille gefaßt, sicut decet?«

Dann drehte sich die Unterhaltung um die Frauen. Pellerin bestritt, daß es schöne Frauen gebe, (er zog die Tiger vor); überdies sei der weibliche Mensch ein inferiores Geschöpf in der ästhetischen Rangordnung.

»Was euch betört, ist hauptsächlich das, was sie als Begriff degradiert; ich meine den Busen, das Haar…«

»Indessen,« warf Frédéric ein, »langes schwarzes Haar und große schwarze Augen…«

»Ah! kennt man!« rief Hussonnet. »Genug von Spanien und Kastanien! Das Antike? Ich danke! Denn schließlich, Scherz beiseite! eine Lorette ist amüsanter als die Venus von Milo! Laßt uns doch Gallier sein, zum Donnerwetter, und flott, wenn wir können!

Fließe, guter Wein, ein Lächeln, ihr Frauen!

Man muß von den Braunen zu den Blonden übergehen! – Wie denken Sie darüber, alter Dussardier?«

Dussardier antwortete nicht. Alle drängten ihn, um seinen Geschmack kennen zu lernen.

»Wohlan!« sagte er errötend, »ich, ich würde immer dieselbe lieben!«

Es wurde in solcher Weise gesagt, daß einen Moment Schweigen entstand; die einen waren überrascht von dieser Treuherzigkeit, die anderen entdeckten darin vielleicht das geheime Verlangen ihrer Seele.

Sénécal stellte seinen Bierschoppen auf das Fensterbrett und erklärte lehrhaft, daß, da die Prostitution eine Tyrannei und die Ehe eine Unsittlichkeit sei, die Enthaltsamkeit das beste wäre. Deslauriers betrachtete die Frauen als eine Zerstreuung, nichts weiter. Monsieur de Cisy hatte in bezug auf sie allerlei Befürchtungen.

Unter den Augen einer frommen Großmutter erzogen, fand er die Gesellschaft dieser jungen Leute lockend wie einen verrufenen Ort und lehrreich wie die Sorbonne. Man sparte nicht mit Lehren für ihn, und er zeigte sich voll Eifer, so daß er sogar rauchen wollte trotz der Übelkeit, die ihn regelmäßig danach quälte. Frédéric überhäufte ihn mit Aufmerksamkeiten. Er bewunderte die Nüance seiner Kravatte, das Futter seines Paletots und besonders seine Stiefel, die dünn wie Handschuhe waren und unverschämt sauber und fein; sein Wagen wartete unten auf der Straße.

Eines Abends, als er eben gegangen war und es zu schneien begann, fing Sénécal an, seinen Kutscher zu bemitleiden. Darauf zog er gegen die gelben Handschuhe her, gegen den Jockeyklub. Ein Arbeiter sei mehr wert als diese Herren.

»Ich arbeite wenigstens! ich bin arm!«

»Das sieht man,« sagte Frédéric endlich ungeduldig.

Der Lehrer trug ihm für dieses Wort seinen Groll nach.

Als aber Regimbart einmal sagte, daß er Sénécal ein wenig kenne, und Frédéric einem Freunde Arnoux’ eine Aufmerksamkeit erweisen wollte, bat er ihn, zu den Sonnabend-Vereinigungen zu kommen, und die Begegnung war beiden Patrioten willkommen.

Indessen, ihre Meinungen gingen auseinander.

Sénécal – der ein spitzfindiger Kopf war – zog nur Systeme in Betracht. Regimbart dagegen sah in den Tatsachen nichts als Tatsachen. Was ihn hauptsächlich beunruhigte, war die Rheingrenze. Er behauptete, sich auf Geschütze zu verstehen, und ließ sich seine Anzüge bei dem Schneider der Polytechnischen Hochschule machen.

Am ersten Tage, als ihm Kuchen angeboten wurde, zuckte er verächtlich die Achseln und sagte, daß das etwas für Frauen sei; und er war die folgenden Male nicht viel liebenswürdiger. Sobald die Gedanken sich in einer etwas höheren Sphäre bewegten, brummte er: »Nur keine Utopien, keine Träume!« In Kunstfragen waren seine Ansichten (obwohl er die Ateliers besuchte, wo er zu weilen eine Stunde Fechtunterricht gab) weniger überlegen. Er verglich den Stil von Monsieur Marast mit dem von Voltaire und Mademoiselle Vatnaz mit Madame de Staël, um einer Ode auf Polen willen, »in der Herz war«. Regimbart ärgerte alle, besonders aber Deslauriers, denn der Citoyen war ein Vertrauter Arnoux’. In der Hoffnung, nützliche Bekanntschaften zu machen, strebte der Schreiber jedoch danach, in dessen Haus zu verkehren.

»Wann führst du mich dort ein?« fragte er. Arnoux wäre mit Geschäften überladen, oder er befinde sich auf Reisen, erwiderte Frédéric, darum sei es nicht der Mühe wert, denn die Diners würden jetzt eingestellt.

Wenn er für seinen Freund das Leben hätte aufs Spiel setzen müssen, würde Frédéric es getan haben, aber da ihm daran lag, sich so vorteilhaft wie möglich zu zeigen, er soviel auf seine Sprache, seine Manieren, seine Kleidung gab, daß er immer mit tadellosen Handschuhen in der Kunsthandlung erschien, fürchtete er, daß Deslauriers mit seinem alten, schwarzen Anzug, seiner Haltung eines kleinen Beamten und seinen vermessenen Reden Madame Arnoux mißfallen könnte, was ihn selber kompromittieren und ihn in ihren Augen herabsetzen würde. Er ließ alle anderen gelten, aber gerade er hätte ihn ungemein geniert. Der Schreiber merkte, daß er sein Versprechen nicht halten wollte, und Frédérics Schweigen schien ihm umso beleidigender.

Er wollte ihn unbedingt leiten, ihn sich nach dem Ideal ihrer Jugend entwickeln sehen, und sein Müßiggang empörte ihn wie ein Ungehorsam oder ein Verrat. Außerdem sprach Frédéric, voll von Gedanken an Madame Arnoux, oft von ihrem Mann; und Deslauriers verfiel auf eine unerträgliche Neckerei, die darin bestand, seinen Namen hundertmal des Tages am Schluß jedes Satzes auszusprechen, wie in einer idiotischen Manier. Klopfte es an seine Tür, antwortete er: »Herein, Arnoux!« Im Restaurant forderte er einen Fromage de Brie »à la Arnoux!« und nachts tat er, als ob ein Alb ihn bedrücke und weckte seinen Gefährten mit dem Gebrüll: »Arnoux! Arnoux!« Schließlich sagte Frédéric eines Tages mit kläglicher Stimme:

»Aber laß mich doch in Ruhe mit Arnoux.«

»Niemals,« erwiderte der Schreiber.

»Immer er! immerzu!… Das Bild von Arnoux…«

»So schweige doch!« rief Frédéric und hob die Faust. Dann fuhr er leise fort:

»Es ist mir peinlich, das weißt du doch!«

»O! Pardon, mein Lieber,« erwiderte Deslauriers und verneigte sich sehr tief, »die Nerven von Mademoiselle sollen hinfort geschont werden. Bitte nochmals um Verzeihung; tausendmal um Entschuldigung!«

So nahm der Scherz ein Ende.

Aber drei Wochen später sagte er eines Abends zu ihm:

»Nun habe ich Madame Arnoux aber gesehen.«

»Wo denn?«

»Im Justizpalast, mit Balandard, dem Rechtsanwalt; eine brünette Frau, nicht wahr, von mittelgroßer Figur?«

Frédéric machte ein Zeichen der Zustimmung. Er wartete, daß Deslauriers spreche. Bei dem kleinsten Wort der Bewunderung hätte er sein Herz ganz ausgeschüttet, wäre bereit gewesen, ihn innig zu lieben; der andere schwieg noch immer; schließlich hielt er es nicht mehr aus und fragte ihn, was er von ihr denke.

Deslauriers fand sie »nicht übel, ohne doch etwas Besonderes zu haben«.

»Findest du?« sagte Frédéric.

Es kam der Monat August, die Zeit seines zweiten Examens. Nach der allgemeinen Ansicht sollten vierzehn Tage genügen, um sich dazu vorzubereiten. Frédéric, der an seiner Fähigkeit nicht zweifelte, verschlang gleich im Anfang die vier ersten Bände der Prozeßordnung, die drei ersten des Strafgesetzbuches, mehrere Stücke Strafprozeßordnung und einen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches mit den Erläuterungen von Poncelet. Am Abend vorher ging Deslauriers noch einmal alles mit ihm durch, was sich bis zum Morgen hinzog, und um die letzte Viertelstunde noch auszunutzen, fuhr er fort, unterwegs im Gehen Fragen an ihn zu stellen.

Da gleichzeitig mehrere Prüfungen stattfanden, waren viele Leute anwesend, unter anderen Hussonnet und de Cisy; man versäumte nicht, diesen Prüfungen beizuwohnen, wenn es sich um Kameraden handelte. Frédéric legte die traditionelle schwarze Robe an, darauf trat er, von der Menge gefolgt, mit drei anderen Studenten in einen großen Raum, der von gardinenlosen Fenstern erhellt und mit Bänken längs der Wände ausgestattet war. In der Mitte stand, von Lederstühlen umgeben, ein Tisch, mit grünem Tuch bekleidet. Er trennte die Kandidaten von den Herren Professoren in roten Roben; sie trugen alle Hermelinstreifen auf den Achseln und goldbetreßte Baretts.

Frédéric befand sich als vorletzter in der Reihe, ein schlechter Platz. Bei der ersten Frage über den Unterschied zwischen einer Übereinkunft und einem Kontrakt verwechselte er eins mit dem andern; und der Professor, ein freundlicher Mann, sagte zu ihm: – »Regen Sie sich nicht auf, mein Herr, fassen Sie sich!« dann, nachdem er noch zwei leichte Fragen gestellt hatte, auf die unbestimmte Antworten folgten, ging er endlich zum Vierten über. Frédéric wurde mutlos durch diesen kläglichen Anfang. Deslauriers machte ihm, gegenüber, unter dem Publikum Zeichen, daß noch nicht alles verloren sei; und bei der zweiten Frage über das Strafrecht zeigte er sich leidlich. Allein, nach der dritten, das testamentum mysticum betreffend, verdoppelte sich seine Angst, da der Examinator immer gleich kaltblütig geblieben war und Hussonnet die Hände zusammenlegte, wie um zu applaudieren, während Deslauriers die Achseln zuckte. Endlich kam der Moment, wo er über die Zivilprozeßordnung befragt wurde. Es handelte sich um den Einspruch eines Dritten. Der Professor, entrüstet über Theorien, die den seinen widersprachen, fragte ihn in barschem Ton:

»Und Sie, wie ist Ihre Ansicht darüber? Wie bringen Sie den Grundsatz von Artikel 1351 des Bürgerlichen Gesetzbuches mit diesem außerordentlichen Anklageverfahren in Einklang?«

Frédéric empfand heftiges Kopfweh, da er die Nacht ohne Schlaf verbracht hatte. Ein Sonnenstrahl, der durch die Ritze einer Jalousie fiel, traf sein Gesicht. Hinter seinem Stuhl stehend, wankte er hin und her und drehte an seinem Schnurrbart.

»Ich warte noch immer auf Ihre Antwort!« fing der Mann mit dem Goldbarett wieder an.

Und da Frédérics Geberde ihn offenbar reizte, fuhr er fort:

»In Ihrem Bart werden Sie sie nicht finden.«

Dieser Hohn brachte die Zuhörer zum Lachen; der Professor fühlte sich geschmeichelt und schmunzelte. Er richtete noch zwei Fragen über Vorladung und Zwangsverfahren an ihn und neigte dann den Kopf zum Zeichen der Zustimmung; der öffentliche Akt war beendet. Frédéric trat ins Vestibül zurück.

Während der Diener ihm die Robe abnahm, um sie unmittelbar darauf einem andern anzulegen, umringten ihn seine Freunde, die ihn vollends mit ihren widersprechenden Ansichten über das Resultat des Examens einschüchterten.

Am Eingang des Saals wurde bald mit sonorer Stimme ausgerufen: »Der Dritte ist – zurückgestellt!«

»Futsch!« sagte Hussonnet, »laßt uns gehen!«

Vor der Loge des Hausmeisters trafen sie Martinon, rot, bewegt, mit einem Lächeln in den Augen und dem Nimbus des Triumphs auf der Stirn. Er hatte eben ohne Hindernis sein letztes Examen bestanden. Nun blieb nur noch die Dissertation übrig. In vierzehn Tagen würde er Lizenziat sein. Seine Familie war bekannt mit einem Minister, eine schöne Karriere stand ihm bevor.

»Der übertrifft dich doch,« sagte Deslauriers.

Nichts ist demütigender, als zu sehen, wie Dummköpfen Unternehmungen gelingen, an denen man selber scheitert. Frédéric erwiderte ärgerlich, daß er sich nichts daraus mache. Seine Ansprüche gingen höher; und als Hussonnet Miene machte, zu gehen, nahm er ihn beiseite, um ihm zu sagen:

»Selbstverständlich kein Wort davon bei Arnoux!«

Es war leicht, es geheim zu halten, da Arnoux am nächsten Tage eine Reise nach Deutschland unternahm.

Abends bei seiner Rückkehr fand der Schreiber seinen Freund seltsam verändert: er tänzelte, pfiff, und als Deslauriers sich über diese Laune wunderte, erklärte Frédéric, daß er nicht zu seiner Mutter ginge, sondern die Ferien zum Arbeiten benutzen wolle.

Bei der Nachricht von Arnoux’ Abreise überkam ihn große Freude. Er konnte sich jetzt dort einstellen, ganz nach Belieben und ohne Furcht, bei seinen Besuchen gestört zu werden. Das Bewußtsein einer absoluten Sicherheit würde ihm Mut verleihen. Endlich würde er nicht fern, nicht getrennt von ihr sein! Stärker als durch eine eiserne Kette war er an Paris gefesselt, eine innere Stimme rief ihm zu, zu bleiben.

Hindernisse stellten sich ihm entgegen. Er überwand sie, indem er seiner Mutter schrieb; er gestand ihr zunächst seine Schlappe, die durch Änderungen im Programm verursacht worden – durch einen Zufall, eine Ungerechtigkeit – übrigens wären alle großen Advokaten (er zitierte ihre Namen) im Examen durchgefallen. Aber er hätte die Absicht, sich im November nochmals zu melden. Da er jedoch keine Zeit zu verlieren habe, käme er in diesem Jahre nicht nach Haus und bitte außer um das Quartalsgeld um zweihundertundfünfzig Francs für die sehr nützlichen Repetitionen in der Rechtskunde, – das ganze mit Bedauern, Trauer, Schmeicheleien und Beteuerungen kindlicher Liebe verbrämt.

Madame Moreau, die ihn am nächsten Tage erwartete, war doppelt bekümmert. Sie hielt den Mißerfolg ihres Sohnes geheim und antwortete ihm, er möge dennoch kommen. Frédéric gehorchte nicht. Ein Streit entspann sich. Am Ende der Woche jedoch erhielt er das Quartalsgeld, wie auch die für die Repetitionen bestimmte Summe, die dazu diente, eine perlgraue Hose, einen weißen Filzhut und ein tomatenrotes Spazierstöckchen zu bezahlen.

Als all dieses in seinem Besitz war, dachte er:

»Ich habe da vielleicht eine rechte Friseur-Idee gehabt.«

Und eine große Unerschrockenheit erfaßte ihn.

Um zu wissen, ob er zu Madame Arnoux gehen sollte, warf er dreimal Geldstücke in die Luft. Jedesmal war das Vorzeichen günstig. Also, das Schicksal selbst gebot es. Er nahm eine Droschke und fuhr nach der Rue Choiseul.

Lebhaft stieg er die Treppen hinauf und zog an der Klingelschnur; es läutete nicht; eine leise Schwäche überkam ihn.

Dann riß er wütend an der schweren, roten Seidenquaste. Eine Glocke ertönte, verstummte allmählich, und es war wieder nichts zu hören. Frédéric wurde ängstlich.

Er drückte sein Ohr an die Tür; kein Laut! Er legte das Auge ans Schlüsselloch, bemerkte aber im Vorzimmer nichts als zwei Schilfspitzen zwischen Papierblumen an der Wand. Schließlich wollte er umkehren, besann sich aber eines besseren. Diesmal klingelte er nur ganz leise. Die Tür öffnete sich und auf der Schwelle erschien mit zerzaustem Haar, karmoisinrotem Gesicht und verdrießlicher Miene Arnoux selbst.

»Was, zum Teufel, führt Sie her? Treten Sie ein!«

Er führte ihn hinein, aber nicht in das Boudoir oder sein Zimmer, sondern in den Speisesaal, wo auf dem Tisch eine Champagnerflasche und zwei Gläser standen, und in barschem Ton sagte er:

»Sie wollen mich etwas fragen, lieber Freund?«

»Nein, nichts! nichts!« stotterte der junge Mann und suchte nach einem Vorwand für seinen Besuch.

Schließlich sagte er, daß er gekommen wäre, um von ihm zu hören, da er ihn nach einem Bericht von Hussonnet auf einer Reise in Deutschland wußte.

»Keineswegs!« erwiderte Arnoux. »Welch ein Strohkopf ist dieser Bursche, alles verkehrt zu hören!«

Um seine Unruhe zu verbergen, ging Frédéric von rechts nach links durch den Saal. An den Fuß eines Stuhles stoßend, warf er einen Sonnenschirm herunter, der darauf lag; der Elfenbeingriff zerbrach.

»Mein Gott!« rief er, »wie bedauere ich, Madame Arnoux’ Sonnenschirm zerbrochen zu haben.«

Bei diesen Worten hob der Kaufmann den Kopf mit einem seltsamen Lächeln. Frédéric benutzte die Gelegenheit von ihr zu sprechen und sagte schüchtern:

»Könnt ich sie nicht sehen?«

Sie war in ihrer Heimat, bei ihrer kranken Mutter.

Er wagte nicht, über die Dauer ihrer Abwesenheit Fragen zu stellen. Er erkundigte sich nur, welches die Heimat Madame Arnoux’ war.

»Chartres! Das überrascht Sie?«

»Mich? Nein! Warum? Nicht im geringsten!«

Sie hatten sich nun absolut nichts mehr zu sagen. Arnoux, der sich eine Zigarette gedreht hatte, ging pustend um den Tisch herum. Frédéric stand am Ofen, betrachtete die Wände, die Etagere, das Parkett, und reizende Bilder zogen in seiner Erinnerung, fast an seinen Augen vorüber. Endlich ging er.

Ein Stück Zeitungspapier, zu einer Kugel zusammengeballt, lag im Vorzimmer auf dem Boden. Arnoux nahm es auf, hob sich auf die Zehen und steckte es in die Klingel, um seine unterbrochene Siesta fortzusetzen, wie er erklärte. Dann sagte er mit einem Händeschütteln:

»Sagen Sie, bitte, dem Hausmeister, daß ich nicht hier bin!«

Und heftig schloß er dicht hinter ihm die Tür.

Frédéric stieg Schritt für Schritt die Treppe hinunter. Der Mißerfolg dieses ersten Versuchs entmutigte ihn im voraus für die anderen. Nun begannen drei Monate der Langeweile. Da er keine Arbeit hatte, steigerte der Müßiggang seine Schwermut.

Er verbrachte Stunden damit, von seinem Balkon oben auf den Fluß hinunterzuschauen, der von Ort zu Ort zwischen graufarbigen geschwärzten Quais dahin floß, über die Rinnen der Abflußröhren, einen am Ufer verankerten Wäscherinnenkahn, worin Gassenjungen sich zuweilen damit belustigten, in einer Wanne einen Pudel baden zu lassen. Sein Blick streifte links die Steinbrücke von Notre-Dame, richtete sich aber immer wieder auf den Quai aux Ormes, auf eine Gruppe alter Bäume, die den Linden im Hafen von Montereau glichen. Der Turm Saint-Jacques, das Stadthaus, Saint-Gervais, Saint-Louis, Saint-Paul erhoben sich vor ihm zwischen einem Gewirr von Dächern, – und der Genius der Juli-Säule glänzte im Osten wie ein großer goldener Stern, während an der andern Seite der Dom der Tuilerien seine schwere blaue Masse scharfumrissen auf den Himmel zeichnete. Dahinter, auf dieser Seite mußte das Haus Madame Arnoux’ liegen.

Er trat in sein Zimmer zurück; dann, auf seinen Diwan hingestreckt, überließ er sich einem unklaren Nachdenken über Arbeitspläne, Vorsätzen für sein Verhalten, Zukunftsträumen. Schließlich ging er aus, um sich von all dem zu befreien.

Zufällig kam er durch das sonst so lärmende, zu dieser Zeit aber, da die Studenten zu ihren Familien gereist waren, verödete Quartier latin. Die hohen Mauern der Institute hatten, wie durch die Stille verlängert, ein noch viel düstereres Aussehen. Man vernahm allerlei friedliche Geräusche, Flügelschlag in Vogelkäfigen, das Knarren einer Drehbank, den Hammer eines Schuhflickers; und die Kleiderhändler mitten auf der Straße sandten vergebens fragende Blicke zu jedem Fenster hinauf. Hinten in den einsamen Cafés gähnten die Büffetdamen an der Kasse zwischen ihren gefüllten Flaschen, die Zeitungen blieben geordnet auf dem Tisch der Lesezimmer; in den Plättstuben fröstelte die Wäsche bei den kühlen Windstößen. Zuweilen blieb er vor der Auslage eines Antiquars stehen; ein Omnibus, der im Vorüberfahren das Trottoir streifte, veranlaßte ihn, umzukehren, und vor dem Luxembourg angelangt, ging er nicht weiter.

Einigemal trieb ihn die Hoffnung auf eine Zerstreuung auf die Boulevards. Durch dunkle Gäßchen, die eine feuchte Frische ausdünsteten, gelangte er auf große, öde, von Licht geblendete Plätze, wo die Monumente am Rande des Pflasters schwarzes Schattenzackenwerk zeichneten. Aber die Karren, die Läden kehrten wieder, und die Menge betäubte ihn – zumal des Sonntags – wenn von der Bastille bis zur Madeleine ein ungeheurer Strom inmitten von Staub und ununterbrochenem Getöse auf dem Asphalt dahinflutete; er fühlte sich angewidert von der Gemeinheit der Gesichter, der Albernheit der Gespräche, des einfältigen Behagens, das auf den schweißigen Stirnen stand. Allein das Bewußtsein, mehr zu gelten als diese Menschen, verminderte seine Qual, sie zu sehen.

Er ging täglich in die Kunsthandlung; und um zu erfahren, wann Madame Arnoux zurückkehren werde, erkundigte er sich umständlich nach ihrer Mutter. Die Antwort Arnoux’ blieb immer die gleiche, »die Besserung schreite fort, seine Frau würde mit der Kleinen in der nächsten Woche zurückkommen«. Je länger sie zögerte, heimzukehren, desto mehr Unruhe verriet Frédéric, so daß Arnoux ihn, von soviel Liebe gerührt, fünf- oder sechsmal ins Restaurant zum Essen mitnahm.

Frédéric erkannte in diesen langen Zwiegesprächen, daß der Kunsthändler nicht sehr geistreich war. Doch Arnoux konnte diese Abkühlung bemerken; so benutzte er denn die Gelegenheit, seine Aufmerksamkeiten zu erwidern.

Da er seine Sache sehr gut machen wollte, verkaufte er bei einem Trödler all seine neuen Anzüge für die Summe von achtzig Francs, und nachdem er hundert dazu gelegt hatte, die ihm noch geblieben waren, ging er zu Arnoux, um ihn zum Diner einzuladen. Regimbart war gerade bei ihm, und sie gingen in die Trois-Frères-Provençaux.

Der Citoyen legte seinen Überrock ab, und der Willfährigkeit der beiden anderen gewiß, stellte er den Speisezettel zusammen. Aber obwohl er sich in die Küche begab, um selber mit dem Küchenchef zu sprechen, in den Keller hinunterstieg, wo er jeden Winkel kannte, den Wirt des Etablissements heraufkommen ließ, dem er einen Rüffel gab, war er weder mit den Speisen, den Weinen, noch mit der Bedienung zufrieden! Bei jeder neuen Platte, bei jeder weiteren Flasche ließ er beim ersten Bissen, beim ersten Schluck seine Gabel fallen oder stieß sein Glas weit von sich; dann schrie er, sich mit der ganzen Länge seiner Arme auf das Tischtuch stützend, daß man in Paris nicht mehr dinieren könne! Schließlich bestellte sich Regimbart, der nicht mehr wußte, was er für seinen Gaumen ausdenken sollte, Bohnen in Öl, »ganz einfach«, die ihn, halbwegs gelungen, ein wenig besänftigten. Darauf hatte er mit dem Kellner ein Gespräch, das sich um alte Kellner der »Provençaux« drehte: »Was ist aus Antoine geworden? Und aus einem namens Eugène? Und Théodore, dem Kleinen, der immer unten bediente? Damals war die Kost hier immer ausgezeichnet und es gab Kalbskopf in Burgunder, wie man ihn niemals wiedersehen wird!«

Darauf kam die Rede auf den Wert von Terrains im Vorort, eine unfehlbare Spekulation Arnoux’. Im Abwarten verlor er allerdings seine Zinsen. Da er nicht zu jedem Preis verkaufen wollte, sollte Regimbart ihm jemanden ausfindig machen, und die beiden Herren machten bis zum Ende des Desserts mit einem Bleistift Berechnungen.

Dann gingen sie in die Passage du Saumon, in ein Wirtshaus im Zwischenstock, um den Kaffee zu nehmen. Frédéric wohnte stehend endlosen, von unzähligen Schoppen befeuchteten Billard-Partien bei; – und er blieb bis Mitternacht da, ohne zu wissen warum, aus Feigheit, aus Dummheit, in der dunklen Hoffnung irgendeines seiner Liebe günstigen Ereignisses.

Wann würde er sie wiedersehen? Frédéric war in Verzweiflung. Aber eines Abends, gegen Ende November, sagte Arnoux zu ihm:

»Meine Frau ist gestern zurückgekehrt!«

Am nächsten Tage, um fünf Uhr, trat er bei ihr ein.

Er fing damit an, sie ihrer Mutter wegen zu beglückwünschen, deren Krankheit so ernst gewesen war.

»Aber nein! Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Arnoux!«

Ihr entschlüpfte ein kleines »ah«, dann fügte sie hinzu, daß sie anfangs ernste Befürchtungen gehegt, die jetzt geschwunden seien.

Sie saß dicht am Kamin auf dem gestickten Lehnsessel, er mit dem Hut zwischen den Knien auf dem Sofa, und die Unterhaltung war mühsam, sie ließ ihn jede Minute im Stich; er fand nicht die Gelegenheit, seine Gefühle auszudrücken. Aber als er sich beklagte, Rechtsverdrehung studieren zu müssen, erwiderte sie: »Ja… ich verstehe… Geschäfte…!« indem sie, plötzlich in Nachdenken versunken, das Gesicht senkte.

Ihn verlangte danach, ihre Gedanken zu kennen, und er dachte an nichts anderes mehr. Die Dämmerung verdichtete den Schatten um sie her.

Sie erhob sich, da sie einen Gang zu machen hatte, erschien dann wieder in einer Samtkapuze und einem schwarzen, mit Grauwerk verbrämten Mantel. Er wagte, ihr seine Begleitung anzubieten.

Man konnte nicht mehr sehen; das Wetter war kalt, und ein dichter Nebel, der die Fassaden der Häuser verwischte, verpestete die Luft. Frédéric atmete sie mit Wollust, denn er fühlte durch die Wattierung des Mantels die Form ihres Armes; und ihre Hand in einem zweiknöpfigen Wildlederhandschuh, ihre kleine Hand, die er mit Küssen hätte bedecken mögen, stützte sich auf seinen Arm. Auf dem schlüpfrigen Pflaster glitten sie ein wenig aus; ihm war, als würden sie beide inmitten einer Wolke vom Winde gewiegt.

Der Glanz der Lichter auf dem Boulevard versetzte ihn in die Wirklichkeit zurück. Die Gelegenheit war günstig, die Zeit drängte. Er verschob es bis zur Rue de Richelieu, seine Liebe zu erklären. Aber bald darauf blieb sie mit einemmal vor einem Porzellangeschäft stehen, indem sie zu ihm sagte:

»Da sind wir, ich danke Ihnen! Auf Donnerstag, nicht wahr, wie gewöhnlich?«

Die Diners begannen wieder, und je öfter er Madame Arnoux besuchte, desto stärker wurde sein Sehnen.

Der Anblick dieser Frau entnervte ihn wie der Gebrauch eines zu starken Parfüms. Sein ganzes Wesen war davon erfüllt, es wurde fast zu einer Manie, einem neuen Lebensinhalt.

Die Prostituierten, denen er beim Licht der Gasflammen begegnete, die Sängerinnen, die ihre Läufe herausschmetterten, die Reiterinnen auf ihren galoppierenden Pferden, die Bürgerinnen zu Fuß, die Grisetten an ihren Fenstern, alle Frauen erinnerten ihn durch Ähnlichkeiten oder starke Gegensätze an die eine. Er sah sich in den Läden die Kaschmirs, die Spitzen und die Ohrgehänge von Juwelen an, indem er sie sich um ihre Hüften geschlungen, an ihr Mieder genäht, in ihrem schwarzen Haar funkelnd vorstellte. In den Blumenläden entfalteten sich die Blüten nur, um im Vorübergehen von ihr gewählt zu werden. Die kleinen Seidenpantöffelchen, mit Schwanenpelz umrändert, in den Auslagen der Schuhhändler schienen nur auf ihren Fuß zu warten; alle Straßen führten zu ihrem Hause. Die Wagen standen nur auf den Plätzen, um schneller hinzugleiten; ganz Paris bezog sich auf ihre Person, und die große Stadt mit all ihren Stimmen umbrauste wie ein ungeheures Orchester nur sie.

Ging er in den Jardin des Plantes, so versetzte der Anblick einer Palme ihn in ferne Länder. Sie reisten miteinander auf dem Rücken von Dromedaren, unter Zelten, die von Elefanten getragen wurden, in der Kabine einer Yacht durch ein blaues Inselmeer, oder Seite an Seite auf zwei schellentragenden Maultieren, die auf dem Gras über zertrümmerte Säulen stolperten. Zuweilen blieb er im Louvre vor alten Bildern stehen, und da seine Liebe zu ihr selbst entschwundene Jahrhunderte umfaßte, identifizierte er sie mit Personen der Bilder. Mit einem spitzen Frauenkopfputz betete sie auf den Knien hinter in Blei gefaßten Scheiben. Als Edeldame von Kastilien oder Flandern saß sie mit steifer Halskrause und dicken Troddeln an der Schnürbrust da. Dann stieg sie inmitten von Senatoren unter einem Baldachin von Straußenfedern in einem Brokatgewande eine hohe Porphyrtreppe herab. Ein andermal träumte er, wie sie in gelbseidenen Pantalons auf den Polstern eines Harems saß; – und alles Schöne, das Funkeln der Sterne, gewisse Melodien, der Klang eines Satzes, ein Kontur, lenkte unvermittelt und unvermerkt seine Gedanken auf sie hin.

Denn sie zu seiner Geliebten zu machen, war sicher ein vergebliches Bemühen.

Eines Abends küßte sie Dittmer, der gekommen war, auf die Stirn; Lovarias tat es ebenfalls mit den Worten:

»Sie gestatten doch, nicht wahr, in anbetracht des Privilegiums der Freunde?«

Frédéric stammelte:

»Ich denke, wir alle sind Freunde?«

»Nicht alle alte!« erwiderte sie.

Das hieß ihn indirekt von vornherein zurückstoßen.

Aber was sollte er tun? Ihr sagen, daß er sie liebe? Sie würde ihn ohne Zweifel abweisen oder ihn entrüstet aus dem Hause jagen! So zog er der furchtbaren Aussicht, sie nicht mehr zu sehen, alle Qualen vor.

Er beneidete die Pianisten um ihr Talent, die Soldaten um ihre Narben. Er wünschte sich eine gefährliche Krankheit in der Hoffnung, dadurch ihr Interesse zu wecken.

Eines wunderte ihn: daß er nicht eifersüchtig auf Arnoux war; und er konnte sie sich nicht anders als angekleidet vorstellen, – so natürlich schien ihre Schamhaftigkeit, die ihr Geschlecht in ein geheimnisvolles Dunkel hüllte.

Indessen träumte er von dem Glück, mit ihr zu leben, sie zu duzen, mit der Hand langsam über ihre Scheitel zu streichen oder, vor ihr auf der Erde kniend, den Arm um ihre Taille, ihr die Seele aus den Augen zu trinken! Dazu aber hätte er das Schicksal zwingen müssen, und unfähig, etwas zu tun, lästerte er Gott, zieh sich der Feigheit und wand sich in seinem Verlangen, wie der Gefangene in seiner Zelle. Eine beständige Angst erstickte ihn. Stundenlang saß er unbeweglich, oder er brach in Tränen aus; und eines Tages, als er nicht die Kraft hatte, sich zusammenzunehmen, fragte ihn Deslauriers:

»Himmeldonnerwetter! was hast du denn?«

Frédéric schob alles auf seine Nerven. Deslauriers glaubte nicht daran. Vor einem solchen Schmerz fühlte er seine Liebe zu ihm wieder erwachen und er tröstete ihn. Ein Mann wie er sollte verzagen, welche Torheit! Das ginge noch in der Jugend hin, später aber hieße das seine Zeit verlieren.

»Du gehst mir zu Grunde, Frédéric! Sei wieder der alte! Immer dieselbe Geschichte! Früher gefielst du mir besser! Komm, rauche deine Pfeife, alter Junge! Raffe dich auf, du bringst mich zur Verzweiflung!«

»Es ist wahr,« sagte Frédéric, »ich bin ein Narr!«

Der Schreiber fuhr fort:

»Ach, du alter Troubadour, ich weiß wohl, was dich betrübt. Das Herzchen? Gestehe es! Ach was! Eine verloren, vier gewonnen! Über die tugendhaften Frauen tröstet man sich mit den anderen. Willst du, daß ich dich mit Weibern bekannt mache? Du brauchst nur in die Alhambra zu kommen.« (Es war ein kürzlich oben in den Champs-Elysées eröffnetes öffentliches Ballhaus, das durch einen für diese Art von Etablissements verfrühten Luxus schon in der zweiten Saison einging.) »Man amüsiert sich dort, wie es scheint. Laß uns hingehen! Du nimmst deine Freunde mit, wenn du willst; ich gestatte dir selbst Regimbart!«

Frédéric lud den Citoyen jedoch nicht ein. Deslauriers verzichtete auf Sénécal. Sie nahmen nur Hussonnet, de Cisy und Dussardier mit; und dieselbe Droschke setzte alle fünf an der Tür der Alhambra ab.

Zwei maurische Galerien zogen sich parallel nach rechts und links hin. Die Wand eines Hauses nahm den ganzen Hintergrund ein, und die vierte Seite (die des Restaurants) stellte ein gotisches Kloster mit bunten Scheiben dar. Eine Art chinesisches Dach schützte die Estrade, wo die Musikanten spielten; der Boden ringsum war asphaltiert, und an Pfosten hängende venetianische Laternen bildeten, von weitem gesehen, an den vier Abteilungen vielfarbige Lichtkronen. Ein Postament hier und da trug eine Steinschale, aus der ein dünner Wasserstrahl emporstieg. In dem Laubwerk bemerkte man Gips-Statuen, Heben und Cupidos, ganz klebrig von Ölfarbe; und die zahlreichen Alleen, mit sehr gelbem, sorgfältig geharktem Sand bedeckt, ließen den Garten noch größer erscheinen, als er schon war.

Studenten spazierten mit ihren Mädchen; Kommis in Mode-Neuheiten spreizten sich mit einem Stöckchen zwischen den Fingern; Schüler rauchten Regalias; alte Hagestolze strichen behaglich ihre fahlen Bärte mit einem Kamm; man sah dort Engländer, Russen, Südamerikaner, drei Orientalen im Turban. Loretten, Grisetten und Mädchen waren in der Hoffnung gekommen, einen Gönner, einen Liebhaber, ein Goldstück zu finden, oder einfach um des Tanzvergnügens willen; und ihre Kleider mit wassergrünen, blauroten oder violetten Überwürfen bewegten sich, glitten zwischen Ebenholzbäumen und Fliederbüschen vorüber. Fast alle Männer trugen karierte Stoffe, einige weiße Beinkleider trotz der Frische des Abends. Die Gasflammen wurden angezündet.

Hussonnet kannte durch seine Beziehungen zu den Zeitungen und kleineren Theatern viele Damen; er warf ihnen Kußhände zu und verließ von Zeit zu Zeit seine Freunde, um mit ihnen zu plaudern.

Deslauriers wurde eifersüchtig auf dieses Gebaren. Er redete eine große, in Nanking gekleidete Blondine an. Nachdem sie ihn mit mürrischer Miene betrachtet hatte, sagte sie: »Nein, dir trau’ ich nicht, mein Lieber!« und kehrte ihm den Rücken.

Er versuchte es von neuem bei einer vollen Braunen, die offenbar verrückt war, denn sie prallte beim ersten Wort zurück und drohte die Polizei zu holen, wenn er sie weiter belästigte. Deslauriers zwang sich zu lachen; dann forderte er ein junges Mädchen, das er abseits unter einer Gaslaterne sitzen sah, zu einem Kontretanz auf.

Die auf der Estrade wie Affen hockenden Musikanten kratzten und bliesen ungestüm. Der Dirigent schlug stehend in automatenhafter Weise den Takt. Man drängte, amüsierte sich; aufgeknüpfte Hutbänder streiften die Krawatten; Stiefel verirrten sich unter die Röcke; alle hüpften im Takt. Deslauriers drückte das junge Mädchen an sich und bewegte sich, von dem Delirium des Cancans angesteckt, bei der Quadrille wie eine große Marionette. Cisy und Dussardier setzten ihre Promenade fort; der junge Aristokrat lorgnettierte die Mädchen, wagte aber trotz Dussardiers Ermahnungen nicht, sie anzusprechen, da er sich einbildete, daß diese Frauen immer »einen Mann mit einer Pistole bei sich im Schrank verborgen halten, der daraus hervorkommt, um einen zur Unterschrift von Wechseln zu zwingen«.

Sie gingen zu Frédéric zurück; Deslauriers wollte nicht mehr tanzen und alle fragten sich, wie sie den Abend beschließen sollten, als Hussonnet ausrief:

»Seht! die Marquise d’Amaëgui!«

Es war eine blasse Frau mit Stülpnase, bis zum Ellbogen reichenden Halbhandschuhen und langen, schwarzen Locken, die zu beiden Seiten der Wangen wie zwei Pudelohren herabhingen. Hussonnet sagte zu ihr:

»Wir möchten ein kleines Fest bei dir veranstalten, einen orientalischen Rout. Versuche, einige deiner Freundinnen für diese französischen Kavaliere aufzutreiben. Nun, was hält dich davon ab? Erwartest du deinen Hidalgo?«

Die Andalusierin senkte den Kopf, da sie die ein wenig verschwenderischen Gewohnheiten ihres Freundes kannte und fürchtete, für die Bewirtung aufkommen zu müssen. Bei dem von ihr hingeworfenen Worte Geld bot de Cisy endlich fünf Napoleons, seine ganze Börse, an; die Sache war geordnet. Aber Frédéric war nicht mehr da.

Er hatte geglaubt, die Stimme Arnoux’ zu erkennen, hatte einen Frauenhut bemerkt und war schnell in das Bosket nebenbei eingetreten.

Mademoiselle Vatnaz befand sich allein mit Arnoux.

»Verzeihung! Ich störe wohl?«

»Nicht im allergeringsten!« erwiderte der Kaufmann.

Bei den ersten Worten ihrer Unterhaltung begriff Frédéric, daß er in die Alhambra geeilt war, um mit Mademoiselle Vatnaz eine dringende Sache zu besprechen; und Arnoux war offenbar noch nicht ganz beruhigt, denn er sagte mit besorgter Miene zu ihr:

»Sie sind ganz sicher?«

»Ganz sicher! Sie werden geliebt! Ach! welch ein glücklicher Mann!«

Und sie schnitt ihm, ihre vollen, fast blutroten Lippen vorschiebend, ein Gesicht. Aber sie hatte wundervolle, malvenfarbige Augen mit einem Goldpunkt in den Pupillen, voll Geist, Liebe und Sinnlichkeit. Sie erhellten den etwas gelben Teint ihres mageren Gesichts wie eine Flamme. Arnoux schien Gefallen an ihren Mätzchen zu finden.

»Sie sind nett, geben Sie mir einen Kuß.«

Sie nahm ihn bei beiden Ohren und küßte ihn auf die Stirn.

In diesem Augenblick hörte der Tanz auf; und auf dem Platz des Dirigenten erschien fett und wachsbleich ein schöner junger Mann. Er trug langes, nach Christusmanier geordnetes, schwarzes Haar, eine Weste von azurblauem Samt mit goldenen Palmen und sah stolz wie ein Pfau und dumm wie ein Truthahn aus. Als er das Publikum begrüßt hatte, stimmte er ein Lied an, das von einem Dörfler handelte, der seine Reise in die Hauptstadt beschreibt; der Künstler sprach das Platt der Normandie und spielte den Betrunkenen; der Refrain:

Ah! j’ai t’y ri, j’ai t’y ri, dans ce gueusard de Paris!

rief einen Sturm der Begeisterung hervor, und der Charaktersänger Delmas war zu schlau, sie abkühlen zu lassen. Man reichte ihm schnell eine Guitarre, und er säuselte eine Romanze mit dem Titel »der Bruder des Albanesen«. Die Worte erinnerten Frédéric an das Lied, das der zerlumpte Mensch auf dem Dampfboot gesungen hatte. Unwillkürlich hefteten seine Augen sich auf den Saum des Kleides, das vor ihm ausgebreitet lag. Nach jeder Strophe kam eine lange Pause, – und das Rauschen des Windes in den Bäumen glich dem Geräusch der Wellen.

Indem sie Zweige eines Ligusterbusches auseinanderbog, die ihr die Aussicht auf die Estrade verdeckten, betrachtete Mademoiselle Vatnaz mit geblähten Nasenflügeln und zusammengezogenen Brauen unverwandt den Sänger, wie verloren in aufrichtiger Freude.

»Jetzt begreife ich, warum Sie heute abend in der Alhambra sind!« sagte Arnoux. »Delmas gefällt Ihnen, meine Liebe.«

Sie wollte es nicht eingestehen.

»Mein Gott! welche Scheu!«

Und auf Frédéric weisend:

»Ist es seinetwegen? Da tun Sie unrecht. Es gibt keinen diskreteren jungen Mann!«

Ihren Freund zu suchen, kamen die anderen in den Gartensaal. Hussonnet stellte sie vor. Arnoux reichte Zigarren herum und bewirtete die Gesellschaft mit Sorbet.

Mademoiselle Vatnaz war errötet, als sie Dussardier bemerkte. Sie erhob sich sogleich, reichte ihm die Hand und sagte:

»Sie erinnern sich meiner nicht, Monsieur Auguste?«

»Woher kennen Sie sie?« fragte Frédéric.

»Wir arbeiteten zusammen in demselben Hause!« erwiderte er.

Cisy zupfte ihn am Ärmel und sie gingen; kaum waren sie verschwunden, als Mademoiselle Vatnaz eine Lobrede auf Dussardiers Charakter begann. Sie fügte sogar hinzu, daß er das Genie des Herzens habe.

Darauf wurde von Delmas gesprochen, der als Schauspieler Erfolg auf der Bühne haben könnte; und so entspann sich eine Diskussion, in die Shakespeare, die Zensur, der Stil, das Volk, die Einnahmen von Porte-Saint-Martin, Alexandre Dumas, Victor Hugo und Dumersan hineingezogen wurden.

Arnoux hatte mehrere berühmte Schauspielerinnen gekannt, und die jungen Leute neigten sich vor, um ihm zuzuhören. Aber seine Worte wurden von den Musikern erstickt; und sobald die Quadrille oder Polka beendet war, ließen sich alle an Tischen nieder, lachten und riefen nach dem Kellner. Im Gebüsch hörte man Flaschen mit Bier und Brauselimonade knallen. Frauen kreischten wie Hühner; ein paarmal wollten zwei Herren sich schlagen; ein Dieb wurde verhaftet.

Im Galopp stürmten die Tänzer durch die Alleen. Keuchend, lächelnd, mit roten Gesichtern, zogen sie in einem Wirbel vorüber, daß die Kleider und die Rockschöße flogen. Die Posaunen dröhnten stärker; der Tanz wurde immer wilder; hinter dem mittelalterlichen Kloster hörte man es prasseln; Petarden zersprangen, Sonnen drehten sich; der Schein von smaragdgrünem bengalischen Licht erhellte für eine Minute den ganzen Garten; – und bei der letzten Rakete stieg ein tiefes Seufzen aus der Menge auf.

Sie verlief sich langsam. Eine Wolke von Pulver schwebte in der Luft. Frédéric und Deslauriers gingen Schritt vor Schritt mitten durch das Gedränge, als sie plötzlich auf Martinon stießen. Er ließ sich an der Ausgabestelle der Regenschirme Geld wechseln und begleitete darauf eine häßliche Frau in den Fünfzigern, die prachtvoll gekleidet war und von problematischem sozialen Rang zu sein schien.

»Dieser Schelm«, sagte Deslauriers, »ist nicht so schüchtern, wie man annimmt. Aber wo ist denn de Cisy?«

Dussardier zeigte auf das Rauchzimmer, wo sie den Abkömmling tapferer Ritter vor einem Punschglas in Gesellschaft eines rosa Hutes erblickten.

Hussonnet, der für fünf Minuten fortgegangen war, erschien im selben Augenblick.

Ein junges Mädchen stützte sich auf seinen Arm, indem es ihn ganz laut »mein Kätzchen« nannte.

»Nicht doch!« sagte er zu ihr. »Nicht öffentlich! Nenne mich lieber Vicomte! Dabei denkt man an einen Kavalier aus der Zeit Ludwigs XIII. und an Jagdstiefel, die mir gefallen.«

»Ja, meine Lieben, eine alte Flamme! Ist sie nicht nett?« Er faßte sie unters Kinn. – »Ihr Diener, meine Herren! das sind alle Söhne von Pairs von Frankreich! ich verkehre mit ihnen, damit sie mich zum Gesandten ernennen!«

»Wie ausgelassen Sie sind!« seufzte Mademoiselle Vatnaz. Sie bat Dussardier, sie bis zu ihrer Tür zu begleiten.

Arnoux sah sie sich entfernen und wandte sich dann an Frédéric:

»Gefiel Ihnen die Vatnaz? Übrigens sind Sie darin nicht aufrichtig. Ich glaube, Sie verheimlichen Ihre Liebschaften?«

Frédéric wurde bleich und beteuerte, daß er nichts zu verbergen habe.

»Es ist nur, weil man keine Geliebte von Ihnen kennt,« fuhr Arnoux fort.

Frédéric hatte Lust, irgendeinen Namen zu nennen. Aber die Sache konnte ihr wiedererzählt werden. Er erwiderte, daß er tatsächlich keine Geliebte habe.

Der Kaufmann schalt ihn dafür aus.

»Heute abend war eine gute Gelegenheit! Warum machten Sie es nicht wie die anderen, die alle eine Frau mitnahmen?«

»Nun, und Sie?« sagte Frédéric, durch diese Hartnäckigkeit ungeduldig geworden.

»Ach, ich! mein Junge! das ist etwas anderes! Ich kehre zu meiner Frau zurück.«

Er rief ein Kabriolet heran und verschwand.

Die beiden Freunde gingen zu Fuß. Ein Ostwind blies. Weder einer noch der andere sprach. Deslauriers bedauerte, nicht vor einem Zeitung-Redakteur »geglänzt« zu haben, und Frédéric gab sich seinem Schmerze hin. Schließlich sagte er, daß er den ganzen Rummel stumpfsinnig finde.

»Und wer hat Schuld? Wenn du uns nicht um deinen Arnoux im Stich gelassen hättest!«

»Ach was! alles, was ich hätte tun können, wäre nutzlos gewesen!«

Aber der Schreiber hatte Theorien. Um Dinge zu erlangen, genüge es, sie nachdrücklichst zu wünschen.

»Und du selber hast doch eben…«

»Ich mache mir nichts daraus!« entgegnete Deslauriers, der klaren Anspielung ausweichend. »Soll ich mich mit Weibern einlassen?«

Und er zog gegen ihre Ziererei, ihre Dummheiten los; kurz, sie mißfielen ihm.

»Verstelle dich doch nicht!« sagte Frédéric.

Deslauriers schwieg. Dann plötzlich sagte er:

»Willst du hundert Francs wetten, daß ich die erste, die vorübergeht, ›stelle‹?«

»Ja, angenommen!«

Als erste ging eine häßliche Bettlerin vorüber, und sie gaben die Hoffnung auf eine Gelegenheit auf, als sie mitten in der Rue de Rivoli ein großes Mädchen mit einem kleinen Karton in der Hand bemerkten.

Deslauriers sprach sie unter den Arkaden an. Sie wandte sich rasch nach der Seite der Tuilerien, bald hatte sie die Place du Caroussel erreicht und blickte nach allen Seiten. Sie lief hinter einer Droschke her, Deslauriers holte sie ein. Er ging neben ihr und sprach mit ausdrucksvollen Geberden auf sie ein. Endlich nahm sie seinen Arm, und sie gingen am Quai entlang weiter. Dann, auf der Höhe des Châtelet, spazierten sie wenigstens zwanzig Minuten auf dem Trottoir auf und ab wie zwei Seeleute, die Wache haben. Allein plötzlich überschritten sie den Pont au Change, den Blumenmarkt, den Quai Napoléon. Frédéric kam hinter ihnen her. Deslauriers gab ihm zu verstehen, daß er sie stören würde und nur ihrem Beispiel zu folgen brauche.

»Wieviel hast du noch?«

»Zwei Goldstücke und hundert Sous.«

»Das genügt! Gute Nacht!«

Frédéric war erstaunt, wie man es ist, wenn man einen Spaß gelingen sieht: »Er macht sich über mich lustig,« dachte er. »Ob ich hinaufgehe?« Glaubte Deslauriers etwa, daß er ihn um diese Liebe beneide? »Als ob ich nicht eine hätte, eine, die hundertmal seltener, edler, stärker ist!« Eine Art Zorn trieb ihn vorwärts. Er langte vor der Tür von Madame Arnoux an.

Keines der äußeren Fenster gehörte zu ihrer Wohnung. Indessen blieb er stehen, die Augen auf die Fassade geheftet, – als glaube er durch diese Blicke die Mauern zu spalten. Jetzt ruhte sie ohne Zweifel still wie eine schlafende Blume mit ihrem schönen, schwarzen Haar, die Lippen halb geöffnet, das Haupt auf dem Arm, in den Spitzen ihres Kissens.

Er sah Arnoux’ Kopf vor sich. Dieser Vision zu entfliehen, entfernte er sich.

Deslauriers’ Rat kam ihm in Erinnerung; er fürchtete sich davor. Da wanderte er ziellos in den Straßen umher.

Kam ihm ein Fußgänger entgegen, so versuchte er seine Züge zu unterscheiden. Von Zeit zu Zeit fiel ihm ein Lichtstrahl zwischen die Beine und beschrieb einen immensen Viertelkreis am Rande der Straße; und aus dem Dunkel tauchte ein Mann mit seiner Kiepe und Laterne auf. An einigen Stellen rüttelte der Wind an dem Rohr eines Schornsteins; von fern erklangen Töne, die sich mit dem Dröhnen in seinem Kopf mischten, und er glaubte in den Lüften die vagen Klänge des Kontretanzes zu hören. In der Bewegung des Gehens hielt dieser Rausch an; er befand sich auf dem Pont de la Concorde.

Da erinnerte er sich wieder jenes Abends im vergangenen Winter, – wo er zum erstenmal von ihr gekommen war und hier hatte stehen bleiben müssen, so schnell schlug damals das Herz unter dem Bann seiner Hoffnungen. Jetzt waren sie alle tot.

Dunkle Wolken glitten über das Antlitz des Mondes. Er betrachtete sie und dachte an die Unendlichkeit des Raumes, das Elend des Lebens und seine Nichtigkeit. Der Tag erwachte, seine Zähne klapperten, und halb im Schlaf, vom Nebel durchnäßt und nahe am Weinen, fragte er sich: warum nicht ein Ende machen? Nichts als eine Bewegung war nötig! Die schwere Stirn zog ihn nieder, er sah sich als Leichnam auf dem Wasser schwimmen; Frédéric beugte sich hinab. Die Brüstung war ein wenig breit, und nur seine Müdigkeit hinderte ihn, hinunterzuspringen.

Entsetzen ergriff ihn. Er ging auf die Boulevards zurück und sank auf eine Bank. Überzeugt, daß er »gebummelt« hatte, weckten ihn Polizisten.

Er schickte sich wieder an, weiterzugehen. Aber da er großen Hunger verspürte und alle Restaurants geschlossen waren, ging er in eine Kneipe in der Halle, um etwas zu essen. Darauf schlenderte er, da er es noch für zu früh hielt, bis um ein Viertel nach acht in der Umgebung des Stadthauses umher. –

Deslauriers hatte seine Schöne längst verabschiedet und schrieb am Tisch mitten im Zimmer. Gegen vier Uhr kam Cisy zu ihm.

Auf Dussardiers Veranlassung hatte er sich am vorhergehenden Abend mit einer Dame verabredet und sie sogar mit ihrem Mann im Wagen bis an die Schwelle ihres Hauses begleitet, wo sie ein Rendezvous mit ihm verabredet hatte. Er kam daher. Man kannte dort ihren Namen gar nicht.

»Was wollen Sie, daß ich dabei tue?« sagte Frédéric.

Da begann der Junker von allem möglichen zu reden; er sprach von Mademoiselle Vatnaz, der Andalusierin und all den anderen. Schließlich, nach vielen Umschweifen erklärte er den Zweck seines Besuches: im Vertrauen auf die Verschwiegenheit seines Freundes bäte er ihn, ihm in einer Sache beizustehen, in der er sich entschieden als Mann zeigen würde, und Frédéric schlug es ihm nicht ab. Er erzählte dann Deslauriers die Geschichte, ohne zu verraten, was ihn persönlich dabei betraf.

Der Schreiber fand, daß »er sich jetzt ganz gut mache«. Dies Annehmen seiner Ratschläge erhöhte noch seine gute Laune.

Durch diese hatte er Mademoiselle Clémence Daviou, Goldstickerin für Militärausrüstungen, das süßeste Wesen von der Welt und schlank wie ein Schilfrohr, mit großen, immer verwunderten blauen Augen, vom ersten Tage ab bezaubert. Der Schreiber nutzte ihre Arglosigkeit so weit aus, sie glauben zu machen, er sei dekoriert; er schmückte seinen Überrock bei ihren Zusammenkünften mit einem roten Bande, versagte sich aber, es öffentlich zu tun, um seinen Vorgesetzten nicht zu demütigen, wie er sagte. Im übrigen hielt er sie sich fern, ließ sich liebkosen wie ein Pascha und nannte sie lachend »Tochter des Volkes«. Sie brachte ihm jedesmal kleine Veilchensträuße. Frédéric hätte eine solche Liebe nicht gemocht.

Wenn sie aber Arm in Arm ausgingen, um bei Barillon oder Pinson zu essen, empfand er eine seltsame Traurigkeit. Frédéric wußte ja nicht, wie sehr Deslauriers seit einem Jahre jeden Donnerstag gelitten hatte, wenn er sich die Nägel bürstete, ehe er in die Rue Choiseul zum Diner ging.

Eines Abends, als er sie eben von seinem Balkon oben hatte fortgehen sehen, gewahrte er Hussonnet von weitem auf dem Pont d’Arcole. Der Bohémien machte ihm Zeichen, herunterzukommen, und als Frédéric seine fünf Stockwerke herabkam, sagte er:

»Die Sache ist nämlich die! Am nächsten Samstag, dem 24., ist der Namenstag von Madame Arnoux.«

»Aber sie heißt doch Marie?«

»Auch Angèle, was tut das übrigens? Er wird in ihrem Landhaus in Saint-Cloud gefeiert; ich bin beauftragt, Sie davon zu benachrichtigen. Sie finden um drei Uhr ein Fuhrwerk vor der Redaktion! Also abgemacht! Verzeihung, daß ich Sie herunter bemüht habe. Aber ich habe so viele Gänge!«

Kaum hatte Frédéric sich umgewandt, als der Portier ihm einen Brief übergab:

»Monsieur und Madame Dambreuse geben sich die Ehre, Monsieur F. Moreau am Sonnabend, den 24. zum Diner einzuladen. – U.A.w.g.«

»Zu spät,« dachte er.

Nichtsdestoweniger zeigte er Deslauriers den Brief.

»Ah! endlich!« rief dieser aus. »Aber du scheinst nicht zufrieden zu sein. Warum?«

Etwas zögernd sagte Frédéric, daß er für denselben Tag eine andere Einladung habe.

»Tu mir den Gefallen und bleib mir mit der Rue Choiseul vom Halse! Keine Dummheiten! Ich werde für dich antworten, wenn es dir unangenehm ist.«

Und der Schreiber schrieb in der dritten Person eine Zusage.

Da er die Welt nie anders als durch das Fieber seiner Begierden gesehen hatte, stellte er sie sich wie eine künstliche Schöpfung vor, die auf Grund mathematischer Gesetze funktionierte. Eine Einladung zum Diner, die Begegnung mit einem Staatsbeamten, das Lächeln einer hübschen Frau konnte durch eine Reihe aufeinander folgender Handlungen gigantische Folgen haben. Gewisse Pariser Salons waren für ihn wie Maschinen, die den Stoff im Rohzustand aufnehmen und ihn hundertfältig an Wert wiedergeben. Er glaubte an Kourtisanen, die Diplomaten beeinflussen, an reiche Heiraten, die durch Intriguen zustande kommen, an das Genie von Galeerensklaven, die Gefügigkeit des Schicksals unter starken Händen. Kurz, er hielt den Umgang mit den Dambreuses für so nützlich und sprach so gut, daß Frédéric nicht mehr wußte, wozu er sich entschließen sollte.

Da es der Namenstag von Madame Arnoux war, konnte er nicht unterlassen, ihr ein Geschenk zu machen; er dachte natürlich an einen Sonnenschirm, um seine Ungeschicklichkeit wieder gut zu machen. Er entdeckte auch einen Knick-Schirm von taubengrauer Seide mit einem kleinen chinesischen Griff von geschnitztem Elfenbein. Aber er kostete fünfundsiebzig Francs, und er hatte nicht einen Sou, lebte schon auf Kredit des nächsten Quartals. Allein er wollte ihn haben, ihm lag daran, und wenn auch widerwillig nahm er seine Zuflucht zu Deslauriers.

Deslauriers erwiderte ihm, daß er kein Geld habe.

»Aber ich brauche es,« sagte Frédéric, »brauche es sehr notwendig!«

Als der andere dieselbe Entschuldigung mehrmals wiederholt hatte, wurde er hitzig:

»Du könntest wohl bisweilen…«

»Was denn?«

»Nichts!«

Der Schreiber hatte verstanden. Er nahm von seinen Ersparnissen die gewünschte Summe und sagte, als er Stück für Stück hinlegte:

»Ich verlange keine Quittung von dir, da ich auf deine Kosten lebe!«

Frédéric warf sich ihm mit tausend zärtlichen Einwendungen in die Arme, aber Deslauriers blieb kalt. Dann, als er am nächsten Morgen den Schirm auf dem Piano bemerkte, sagte er:

»Ach so! Also war es dafür!«

»Ich schicke ihn vielleicht hin,« sagte Frédéric feige.

Der Zufall half ihm, denn er erhielt abends einen schwarz geränderten Brief, in dem Madame Dambreuse ihm den Verlust eines Oheims anzeigte und sich entschuldigte, das Vergnügen, seine Bekanntschaft zu machen, auf später hinausschieben zu müssen.

Er kam gegen zwei Uhr in das Bureau der Redaktion. Anstatt ihn zu erwarten, um ihn in seinem Wagen mitzunehmen, war Arnoux, der dem Bedürfnis nach frischer Luft nicht widerstehen konnte, schon am Tage vorher hinausgefahren.

Jedes Jahr im ersten Grün brach er, mehrere Tage hintereinander, morgens auf, machte weite Wege durch die Felder, trank auf den Pachthöfen Milch, tändelte mit den Bäuerinnen, erkundigte sich nach den Ernten und brachte in seinem Taschentuch Salatköpfe mit nach Haus. Schließlich hatte er sich, um einen alten Traum zu verwirklichen, ein Landhaus gekauft.

Während Frédéric mit dem Kommis sprach, kam Mademoiselle Vatnaz dazu und war enttäuscht, Arnoux nicht zu treffen. Er würde vielleicht noch zwei Tage fortbleiben. Der Kommis riet ihr, »dorthin« zu fahren, aber sie konnte nicht; oder einen Brief zu schreiben; doch sie hatte Furcht, der Brief könne verloren gehen. Frédéric bot sich an, ihn selbst mitzunehmen. Sie schrieb ihn schnell und beschwor Frédéric, ihn ohne Zeugen abzugeben.

Vierzig Minuten später landete er in Saint-Cloud.

Das Haus lag hundert Schritt hinter der Brücke, auf halber Höhe des Hügels. Die Gartenmauern waren durch zwei Reihen Linden verdeckt, und ein breiter Grasplatz führte bis zum Ufer des Flusses hinunter. Die Gittertür stand offen, Frédéric trat ein.

Arnoux spielte auf dem Rasen ausgestreckt mit einem Wurf kleiner Kätzchen. Diese Zerstreuung schien ihn unendlich zu fesseln. Der Brief von Mademoiselle Vatnaz riß ihn aus seiner Versunkenheit.

»Zum Teufel! den Teufel auch! das ist fatal! Ja, sie hat recht. Ich muß zurück!«

Dann, nachdem er das Schreiben in seine Tasche geschoben hatte, machte er sich das Vergnügen, sein Besitztum zu zeigen. Er zeigte alles, den Stall, den Wagenschuppen, die Küche. Der Salon lag rechts und ging auf der Seite von Paris auf einen von Klematis überrankten Gitter-Vorbau. Von oben, über ihrem Kopfe ertönte ein Triller: Madame Arnoux, die sich allein glaubte, vertrieb sich die Zeit mit Singen. Sie sang Tonleitern, Koloraturen, Glissandi. Lange Töne schienen sich schwebend zu halten, andere fielen, sich überstürzend, wie Tropfen einer Kaskade, und ihre Stimme drang durch die Jalousie, unterbrach die tiefe Stille und stieg zum blauen Himmel empor.

Als Monsieur und Madame Oudry, zwei Nachbarn, sich einfanden, hörte sie plötzlich auf.

Darauf erschien sie oben auf der Freitreppe, und als sie die Stufen hinabschritt, sah er ihren Fuß. Sie trug kleine, niedrige Schuhe aus goldkäferfarbigem Leder mit drei Querspangen, die ein Goldgitterwerk auf ihre Strümpfe zeichneten.

Die Geladenen langten an. Außer Monsieur Lefaucheur, dem Advokaten, waren es die Donnerstag-Gäste. Jeder hatte ein Geschenk mitgebracht. Dittmer eine syrische Schärpe, Rosenwald ein Romanzen-Album, Burrieu ein Aquarell, Sombaz seine eigene Karikatur und Pellerin eine Kohlezeichnung, die eine Art Totentanz darstellte, eine schauderhafte Phantasie in mittelmäßiger Ausführung. Hussonnet hatte kein Geschenk für sie.

Frédéric wartete, um das seine zuletzt anzubieten.

Sie dankte ihm erfreut darüber. Darauf sagte er:

»Aber… es ist fast eine Schuld! Ich war so ärgerlich.«

»Worüber denn?« fragte sie. »Ich verstehe nicht!«

»Zu Tisch!« rief Arnoux, ihn beim Arm fassend, wobei er ihm ins Ohr flüsterte: »Sie sind sehr boshaft!«

Nichts konnte hübscher sein als der Speisesaal, der in seegrüner Farbe gehalten war. An dem einen Ende tauchte eine Nymphe ihre Zehe in ein muschelförmiges Bassin. Durch die geöffneten Fenster sah man den ganzen Garten und den langen Rasenplatz mit einer alten, zum größten Teil kahlen schottischen Kiefer daneben und von ungleichen Blumenbeeten unterbrochen. Und drüben, jenseits des Flusses, dehnte sich in einem weiten Halbkreis das Bois de Boulogne, Neuilly, Sèvres, Meudon. Gegenüber vor dem Gitter lavierte ein Segelboot.

Man sprach zuerst von der Aussicht, die man hier hatte, darauf von der Landschaft im allgemeinen; und die Diskussionen begannen, als Arnoux seinem Diener den Auftrag gab, den Wagen gegen einhalb zehn Uhr anzuspannen. Ein Brief seines Kassierers riefe ihn zurück.

»Willst du, daß ich mit dir zurückkehre?« sagte Madame Arnoux.

»Aber gewiß!« und mit einer tiefen Verbeugung fügte er hinzu: »Sie wissen, Madame, daß man ohne Sie nicht leben kann.«

Alle beglückwünschten sie zu einem solchen Manne.

»Ach, das gilt nicht mir allein!« erwiderte sie sanft, auf ihr Töchterchen weisend.

Dann, als die Unterhaltung auf die Malerei gekommen war, wurde von einem Ruysdaël gesprochen, für den Arnoux eine beträchtliche Summe zu erhalten erwartete; und Pellerin fragte ihn, ob es wahr sei, daß der berühmte Saul Mathias aus London ihm im vorigen Monat dreiundzwanzigtausend Francs dafür geboten habe.

»Nichts ist wahrer!« und zu Frédéric gewendet: »Das ist derselbe Herr, den ich neulich in der Alhambra umherführte, wider meinen Willen, versichere ich Sie, denn diese Engländer sind nicht amüsant.«

Frédéric, der in dem Brief von Mademoiselle Vatnaz eine Weibergeschichte argwöhnte, hatte die Gewandtheit bewundert, mit der Arnoux einen schicklichen Vorwand gefunden, um sich aus dem Staube zu machen; aber seine neue, absolut überflüssige Lüge öffnete ihm die Augen.

Der Kaufmann fügte unbefangen hinzu:

»Wie heißt doch dieser große junge Mann, Ihr Freund?«

»Deslauriers,« sagte Frédéric lebhaft.

Und um das Unrecht wieder gut zu machen, dessen er sich ihm gegenüber schuldig fühlte, rühmte er ihn wie ein höheres Wesen.

»Ach! wirklich? Aber er scheint nicht ein so guter Kerl zu sein wie der andere, der Kommis aus dem Fuhrgeschäft.«

Frédéric verwünschte Dussardier. Sie mußte glauben, daß er mit gewöhnlichen Leuten umgehe.

Darauf war die Rede von Verschönerungen der Hauptstadt, von neuen Stadtteilen, und der gute Oudry nannte Monsieur Dambreuse unter den großen Spekulanten.

Frédéric ergriff die Gelegenheit, sich zur Geltung zu bringen und sagte, daß er ihn kenne. Aber Pellerin fiel in einer stürmischen Rede über die Krämer her, Kerzenhändler oder Geldwechsler, er sah darin keinen Unterschied. Rosenwald und Burrieu unterhielten sich über Porzellan; Arnoux sprach über Gärtnerei mit Madame Oudry; Sombaz, ein Spaßmacher der alten Schule, belustigte sich damit, ihren Gatten aufzuziehen; er nannte ihn Odry, nach dem Schauspieler, erklärte, daß er von d’Oudry, dem Hundemaler, abstammen müsse, denn der Tierhöcker sei auf seiner Stirn sichtbar. Er wollte sogar seinen Schädel betasten, allein der andere weigerte sich wegen seiner Perücke und das Dessert endete unter lautem Lachen.

Nachdem man unter den Linden rauchend den Kaffee getrunken sowie einige Rundgänge im Garten gemacht hatte, wurde ein Spaziergang den Fluß entlang unternommen.

Die Gesellschaft blieb vor einem Fischer stehen, der in einem Fischkasten Aale reinigte. Die kleine Marthe wollte sie sehen. Er leerte seinen Kasten auf den Rasen, und das kleine Mädchen warf sich auf die Knie, um sie zu fangen, lachte vor Vergnügen und schrie zugleich vor Schreck. Sie waren alle fort, Arnoux bezahlte sie.

Dann hatte er die Idee, eine Bootfahrt zu machen.

Eine Seite des Horizonts begann zu verblassen, während sich auf der andern eine tiefe Orange-Farbe weit über den Himmel verbreitete, die sich über den völlig schwarz gewordenen Gipfeln der Hügel mehr purpurn rötete. Madame Arnoux saß mit diesem Feuerschein hinter sich auf einem großen Stein. Die anderen schlenderten umher. Hussonnet warf unten am Ufer Kiesel flach über das Wasser.

Arnoux kam mit einer alten Schaluppe zurück, und trotz aller Vorstellungen der Vorsichtigen packte er seine Gäste hinein. Sie kenterte und es mußte gelandet werden.

In dem dunkelblau tapezierten Salon mit Kristall-Armleuchtern an den Wänden brannten schon alle Kerzen. Mutter Oudry schlummerte sanft in einem Fauteuil, und die anderen hörten Monsieur Lefaucheur zu, der sich über die Zierden der Advokatur ausließ. Madame Arnoux stand allein am Fenster; Frédéric trat zu ihr.

Sie plauderten über allerlei. Sie bewunderte die Redner; er aber zog den Ruhm der Schriftsteller vor. Man müßte, fuhr sie fort, einen viel stärkeren Genuß empfinden, selbst direkt Einfluß auf die Menge auszuüben und die Gefühle der eignen Seele auf sie übertragen zu können. Diese Triumphe lockten Frédéric nicht, der gar keinen Ehrgeiz besaß.

»Ach! warum?« sagte sie. »Man muß ein wenig ehrgeizig sein!«

Sie standen dicht nebeneinander in der Fensternische. Die Nacht vor ihnen spannte sich wie ein ungeheurer, silbergewirkter, dunkler Schleier. Zum erstenmal sprachen sie nicht von nichtssagenden Dingen. Er lernte sogar ihre Antipathie und ihren Geschmack kennen: gewisse Parfüms widerten sie an, Bücher über Geschichte interessierten sie, sie glaubte an Träume.

Er berührte das Kapitel der sentimentalen Abenteuer. Sie beklagte das Unheil der Leidenschaft, war aber empört über schmachvolle Heuchelei. Und diese Geradheit des Geistes stimmte so gut mit der regelmäßigen Schönheit ihres Antlitzes überein, daß sie davon abhängig schien.

Zuweilen lächelte sie, indem sie ihre Augen eine Minute auf ihm weilen ließ. Dann fühlte er ihre Blicke seine Seele durchdringen wie jene starken Sonnenstrahlen, die bis auf den Grund des Wassers hinabtauchen. Er liebte sie ohne Hintergedanken, ohne Hoffnung auf Gegenliebe, unumschränkt; und in dieser stummen Verzückung, die einer lebhaften Dankbarkeit glich, hätte er ihre Stirn mit einer Flut von Küssen bedecken mögen.

Allein eine innere Regung hob ihn über sich selbst hinaus; es war ein Verlangen, sich zu opfern, ein Bedürfnis unmittelbarer Hingabe, die um so stärker war, als er es nicht stillen konnte.

Er ging nicht mit den anderen fort, Hussonnet ebenfalls nicht. Sie sollten mit dem Wagen zurückkehren, und als dieser am Fuß der Freitreppe wartete, ging Arnoux in den Garten hinunter, um Rosen zu pflücken. Dann, nachdem er den Strauß, aus dem die Stiele ungleich hervorragten, mit einem Faden umwunden hatte, suchte er in seiner mit Papieren gefüllten Tasche, nahm aufs Geratewohl eins heraus, umhüllte sie damit, befestigte sein Werk mit einer starken Nadel und bot es seiner Frau mit einer gewissen Gerührtheit an.

»Nimm, meine Liebe, verzeih’, daß ich dich vergessen habe!«

Aber sie stieß einen kleinen Schrei aus; die Nadel, ungeschickt hineingesteckt, hatte sie verwundet, und sie ging in ihr Zimmer hinauf. Es wurde fast eine Viertelstunde auf sie gewartet. Endlich erschien sie wieder, hob Marthe in die Höhe und stieg rasch in den Wagen.

»Und dein Strauß?« sagte Arnoux.

»Ach, es lohnt der Mühe nicht!«

Frédéric lief, um ihn zu holen; sie rief ihm zu:

»Ich will es nicht!«

Aber er brachte ihn doch und sagte, daß er ihn eben wieder in die Hülle getan hätte, da er die Blumen auf der Erde gefunden. Sie steckte sie unter die Lederschutzdecke an dem Sitz, und sie fuhren ab.

Frédéric, der neben ihr saß, bemerkte, daß sie furchtbar zitterte. Dann, als sie die Brücke passiert hatten und Arnoux nach links wendete, rief sie:

»Nicht doch! du irrst dich! dorthin, rechts!«

Sie schien gereizt; alles störte sie. Schließlich, als Marthe die Augen geschlossen hatte, zog sie den Strauß heraus und schleuderte ihn über den Wagenschlag hinaus, faßte darauf Frédéric am Arm und machte ihm dabei ein Zeichen mit der andern Hand, niemals davon zu sprechen.

Darauf drückte sie ihr Taschentuch an die Lippen und regte sich nicht mehr.

Die beiden anderen auf dem Bock unterhielten sich über Druckereien und Abonnenten. Arnoux, der unaufmerksam kutschierte, verirrte sich mitten im Bois de Boulogne. Da mußten sie Nebenwege einschlagen. Das Pferd ging im Schritt; die Zweige der Bäume streiften das Verdeck. Frédéric sah in der Dunkelheit nichts von Madame Arnoux als die beiden Augen; Marthe lag ausgestreckt auf ihren Knien, und er stützte ihr den Kopf.

»Sie belästigt Sie!« sagte die Mutter.

Er erwiderte:

»Nein! O nein!«

Langsam wirbelte der Staub auf; sie kamen durch Auteuil; alle Häuser waren geschlossen; hier und dort erhellte eine Gaslaterne einen Mauerwinkel, dann tauchte man wieder in die Finsternis; einmal bemerkte er, daß sie weinte.

Waren das Gewissensbisse? ein Wunsch? was mochte es sein? Dieser Kummer, den er nicht kannte, interessierte ihn wie etwas, das ihn persönlich betraf; jetzt gab es zwischen ihnen ein neues Band, eine Art Mitschuld; und er sagte mit einer so liebevollen Stimme, wie er konnte:

»Sie leiden?«

»Ja, ein wenig,« erwiderte sie.

Der Wagen rollte weiter, und Geißblatt und Jasmin fluteten über die Gartenzäune und entsandten erschlaffende Düfte in die Nacht. Die zahlreichen Falten ihres Kleides bedeckten seine Füße. Und er fühlte sich mit ihrer ganzen Person im Zusammenhang, weil das Kind zwischen ihnen ausgestreckt lag. Er beugte sich zu dem kleinen Mädchen hinab, und indem er seine hübschen braunen Haare zur Seite schob, küßte er es sanft auf die Stirn.

»Sie sind gut,« sagte Madame Arnoux.

»Warum?«

»Weil Sie Kinder lieben.«

»Nicht alle!«

Er fügte nichts hinzu, streckte aber weitgeöffnet die linke Hand nach ihrer Seite hin aus, – indem er sich einbildete, sie würde es vielleicht machen wie er, und ihre Hand würde die seine berühren. Dann schämte er sich und zog sie wieder zurück.

Bald kamen sie auf die Straße. Der Wagen fuhr schneller, man sah mehr Gaslaternen, es war Paris. Vor dem »Gardes-Meubles« sprang Hussonnet vom Bock herunter. Frédéric wartete mit dem Aussteigen bis sie auf dem Hof waren; dann stellte er sich an der Ecke der Rue Choiseul auf die Lauer und sah Arnoux langsam auf die Boulevards zugehen. –

Vom nächsten Tage an begann er mit aller Kraft zu arbeiten.

Er sah sich vor einem Schwurgericht, an einem Winterabend, am Schluß der Plaidoyers, wo die Geschworenen bleich sind und die atemlose Menge die Schranken im Gerichtssaal einzudrücken droht, sah sich schon seit vier Stunden sprechen, alle seine Beweise kurz zusammenfassen, neue entdecken, und fühlte bei jeder Frage, bei jedem Wort, jeder Geste das hinter ihm schwebende Fallbeil der Guillotine sich heben; dann sah er sich auf der Tribüne in der Kammer als Redner, an dessen Lippen das Heil eines ganzen Volkes hängt, der seine Gegner durch seine zündende Rede überwältigt, mit einer schnellen Antwort, mit dröhnenden Worten oder wohltuendem Klang in der Stimme vernichtet, ironisch, pathetisch, hingerissen, erhaben; und sie würde da sein, irgendwo, mitten unter den anderen, würde die Tränen der Begeisterung unter ihrem Schleier verbergen; dann würden sie sich wiederfinden; – und die Entmutigungen, die Verleumdungen und Beleidigungen würden ihm nichts anhaben, wenn sie ihm mit ihren sanften Händen über die Stirn striche und sagte: »Ah! das war schön!«

Diese Bilder strahlten wie Leitsterne am Horizonte seines Lebens. So angefeuert wurde sein Geist viel freier und stärker. Bis zum August schloß er sich ein und wurde dann zu seinem letzten Examen zugelassen.

Deslauriers, den es soviel Mühe gekostet hatte, ihm Ende Dezember nochmals das zweite und Ende Februar das dritte einzupauken, überraschte sein Eifer. Nun erwachten die alten Hoffnungen wieder. In zehn Jahren würde Frédéric Deputierter sein; in fünfzehn Minister; warum nicht? Mit seinem Erbteil, das ihm bald zur Verfügung stehen würde, konnte er zuerst ein Blatt gründen, als Debut; dann würde man weiter sehen. Was ihn selbst anbetraf, so strebte er immer noch nach einer Professur an der juristischen Fakultät; und er verfocht seine These für das Doktorat in so bemerkenswerter Weise, daß es ihm Komplimente von den Professoren eintrug.

Frédéric machte sein Examen drei Tage später. Ehe er zu den Ferien abreiste, wollte er zum Abschluß der Sonnabend-Vereinigungen ein Picknick veranstalten.

Er war in heiterer Stimmung. Madame Arnoux war jetzt bei ihrer Mutter in Chartres. Aber bald würde er sie wiedersehen und schließlich ihr Geliebter werden.

Deslauriers, der am selben Tage zum Diskutierklub d’Orsay zugelassen worden war, hatte mit vielem Beifall eine Rede gehalten. Obwohl er mäßig war, berauschte er sich und sagte beim Dessert zu Dussardier:

»Du bist ehrlich! Wenn ich reich werde, setze ich dich als Verwalter ein.«

Alle waren glücklich. Cisy wollte sein Rechtsstudium nicht beenden; Martinon seine kommissarische Anstellung in der Provinz beibehalten, wo er zum Substituten ernannt werden sollte; Pellerin arbeitete an einem großen Bilde, »der Geist der Revolution«; Hussonnet sollte dem Direktor der Déclassements den Entwurf zu einem Stück vorlesen, an dessen Erfolg er nicht zweifelte.

»Denn die Bühnengewandtheit des Dramas gesteht man mir zu, Leidenschaften, ich habe mich genug herumgetrieben, um mich darauf zu verstehen, und was den Witz anbetrifft, so ist das mein Metier!«

Er machte einen Sprung, fiel auf beide Hände zurück und marschierte eine Weile mit den Beinen in der Luft um den Tisch herum.

Aber dieser Jungenstreich heiterte Sénécal nicht auf. Er sollte aus seiner Pension verjagt werden, weil er den Sohn eines Aristokraten geschlagen hatte. Da seine Not sich noch verschlimmerte, griff er die soziale Ordnung an, er schmähte die Reichen und schüttete Regimbart, der immer mehr enttäuscht, verbittert, angewidert war, sein Herz aus. Der Citoyen kam jetzt auf Budgetfragen zu sprechen und beschuldigte die Kamarilla, Millionen in Algier zu vergeuden.

Da er nicht schlafen konnte, ohne die Wirtschaft Alexandre aufgesucht zu haben, verschwand er gegen elf Uhr. Die übrigen gingen später, und Frédéric erfuhr, als er sich von Hussonnet verabschiedete, daß Madame Arnoux am vorhergehenden Abend hatte zurückkehren sollen.

Er ging daher zur Post, um seinen Platz für den nächsten Tag einzutauschen, und begab sich zu ihr. Der Hausmeister teilte ihm mit, daß ihre Rückkehr um acht Tage verschoben sei. Frédéric aß allein und schlenderte auf den Boulevards umher.

Rosige Wolken in Gestalt von breiten Bändern dehnten sich über den Dächern; die Sonnenzelte vor den Läden wurden in die Höhe gezogen; Sprengwagen schütteten einen Regen auf den Staub, und eine unerwartete Frische mischte sich mit den Ausdünstungen der Cafés, durch deren offene Türen man zwischen Silbergerät und Vergoldungen Blumensträuße sah, die sich in den hohen Scheiben widerspiegelten. Die Menge schob sich langsam vorwärts, Gruppen von Männern standen plaudernd mitten auf dem Trottoir; und Frauen gingen vorüber mit einer Mattigkeit in den Augen und jenem Kamelien-Teint, den erschlaffende große Leidenschaften weiblichem Fleische verleihen. Etwas Unfaßbares lag über allem, hüllte die Häuser ein. Niemals war ihm Paris so schön erschienen. Er sah in der Zukunft nichts als eine unendliche Reihe von Jahren der Liebe.

Vor dem Theater Porte Saint-Martin blieb er stehen, um die Zettel zu lesen, und nahm aus Langeweile ein Billet.

Es wurde eine alte Zauberposse gegeben. Die Zuschauer waren nur spärlich, und durch die Dachfenster des Olymps fiel das Licht in kleinen, blauen Vierecken, während die Lampen an der Rampe eine einzige Linie von gelben Flammen bildeten. Die Bühne stellte einen Sklavenmarkt zu Peking dar, mit Glockenspiel, Tamtam, Sultanen, spitzen Hüten und Spaßvögeln. Dann, als der Vorhang gefallen war, irrte er einsam in den Foyers umher und bewunderte auf dem Boulevard, am Fuß der Freitreppe, einen grünen Landauer mit zwei Schimmeln davor, die ein Kutscher in Kniehosen hielt.

Als er wieder auf seinem Platz anlangte, traten ein Herr und eine Dame in die Proszeniumsloge des ersten Ranges. Der Mann, von jenem eisigen Aussehen, das den Diplomaten kennzeichnen soll, mit der Rosette der Offiziere der Ehrenlegion, hatte ein blasses, von einem grauen Bart umrahmtes Gesicht.

Seine Frau, die mindestens zwanzig Jahre jünger, weder groß noch klein, weder häßlich noch hübsch war, trug ihr blondes Haar auf englische Art in langen, gedrehten Locken, ein Kleid mit glatter Taille und einen großen, schwarzen Spitzenfächer. Wenn Leute dieser Kreise zu dieser Jahreszeit das Schauspiel besuchten, mußte man annehmen, daß ein Zufall oder die Unlust, ihren Abend im Tête-â-tête zu verbringen, sie dazu veranlaßte. Die Dame nagte an ihrem Fächer und der Mann gähnte. Frédéric konnte sich nicht erinnern, wo er dieses Gesicht schon gesehen hatte.

Im nächsten Zwischenakt, als er einen Gang durchschritt, begegnete er den beiden; bei seinem flüchtigen Gruß erkannte ihn Monsieur Dambreuse, sprach ihn an und entschuldigte sich wegen seiner unverzeihlichen Nachlässigkeit. Das war eine Anspielung auf die zahlreichen Visitenkarten, die er auf den Rat des Schreibers geschickt hatte. Jedoch verrechnete er sich in der Zeit und glaubte, Frédéric stehe erst im zweiten Jahr seines Rechtsstudiums. Er beneidete ihn um seine Reise aufs Land. Auch er habe das Bedürfnis nach Ruhe, aber die Geschäfte hielten ihn in Paris zurück.

Madame Dambreuse neigte, auf seinen Arm gestützt, leicht das Haupt; und die geistvolle Anmut ihres Gesichts stimmte gar nicht mit dem vorher so mürrischen Ausdruck darin überein.

»Man findet hier doch angenehme Zerstreuungen,« sagte sie bei den letzten Worten ihres Gatten. »Wie dumm dieses Stück ist, nicht wahr?« Und alle drei blieben stehen, und sprachen über Theater und neue Stücke.

Frédéric, der an das Gebaren der Provinzdamen gewöhnt war, hatte noch bei keiner Frau eine solche Gewandtheit der Manieren, diese Einfachheit gesehen, die ein Raffinement ist, das naive Leute für den Ausdruck augenblicklicher Sympathie nehmen.

Sie rechneten nach seiner Rückkehr auf ihn; Monsieur Dambreuse trug ihm Grüße für Vater Roque auf. Zu Haus verfehlte Frédéric nicht, Deslauriers von dieser Aufnahme zu erzählen.

»Famos!« erwiderte der Schreiber, »aber laß dich von deiner Mama nicht einschüchtern. Komm sofort zurück.«

Am Morgen nach seiner Ankunft, nach dem Frühstück, führte Madame Moreau ihren Sohn in den Garten.

Sie pries sich glücklich, ihn in einem Beruf zu sehen, denn sie waren nicht so reich wie man annahm; der Boden hatte wenig Ertrag, die Pächter zahlten schlecht; sie war sogar gezwungen, ihren Wagen zu verkaufen. Kurz, sie schilderte ihm ihre Lage. In den ersten Verlegenheiten ihres Witwentums hatte Monsieur Roque, der sehr verschlagen war, ihr Gelddarlehen gewährt, die wider ihren Willen erneuert und prolongiert wurden. Plötzlich war er gekommen, sie zurückzufordern, und sie war auf seine Bedingungen eingegangen, indem sie ihm das Gut Presles zu einem Spottpreise abtrat. Zehn Jahre später sei ihr Kapital bei dem Bankrott eines Bankhauses in Melun verloren gegangen. Als Vater Roque sich von neuem meldete, hatte sie aus Furcht vor Hypotheken und wegen der Zukunft ihres Sohnes den nützlichen äußeren Schein zu wahren, nochmals auf ihn gehört. Doch jetzt wäre sie schuldenfrei und es blieben ihnen etwa zehntausend Francs Rente, wovon zweitausenddreihundert als sein Erbteil ihm gehörten.

»Das ist nicht möglich!« rief Frédéric.

Sie machte eine Kopfbewegung, die andeutete, daß es sehr möglich sei.

Aber sein Oheim würde ihm doch etwas hinterlassen?

Noch war nichts sicher.

Und schweigend machten sie einen Gang durch den Garten. Dann zog sie ihn an ihr Herz und sagte mit tränenerstickter Stimme:

»Ach, mein armer Junge! Ich habe viele Träume aufgeben müssen!«

Er setzte sich auf die Bank im Schatten einer hohen Akazie.

Sie riet ihm, Gehilfe des Anwalts Monsieur Prouharam zu werden, der ihm seine Praxis übergeben würde; wenn er sie dann recht in die Höhe brächte, könnte er sie wieder verkaufen und eine gute Partie machen.

Frédéric hörte nicht mehr zu. Mechanisch blickte er über die Hecke in den andern Garten gegenüber.

Ein kleines rothaariges Mädchen von etwa zwölf Jahren befand sich ganz allein darin. Es hatte sich Ohrringe von Ebereschenbeeren gemacht, sein Leibchen von grauer Leinwand ließ die von der Sonne leise goldig gebräunten Schultern frei, das weiße Röckchen hatte Obstflecke; und über der ganzen Gestalt lag die Anmut eines jungen, wilden, nervösen und zugleich zarten Tieres. Die Gegenwart eines Unbekannten überraschte es offenbar, denn es war mit seiner Gießkanne in der Hand plötzlich stehen geblieben und heftete seine hellen, grünlichblauen Augäpfel auf ihn.

»Das ist die Tochter von Monsieur Roque,« sagte Madame Moreau. »Er hat seine Haushälterin geheiratet und sein Kind anerkannt.«

Die Erziehung der Gefühle

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