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4.

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Eines Morgens im Monat Dezember glaubte er auf seinem Wege zum Kolleg in der Straße Saint-Jacques mehr Lebhaftigkeit als sonst zu bemerken. Die Studenten kamen aus den Cafés gestürzt oder riefen sich durch die offenen Fenster von einem Hause zum andern zu; die Ladenbesitzer blickten mitten auf dem Trottoir unruhig umher; die Fensterläden wurden geschlossen, und als er in die Rue Soufflot kam, bemerkte er einen großen Auflauf am Panthéon.

Junge Leute in ungleichen Reihen gingen Arm in Arm und schlossen sich größeren, hier und da stationierten Gruppen an; im Hintergrunde des Platzes, am Gitter, hielten Männer in Blusen hochtrabende Reden, während Polizisten, den Dreispitz auf dem Ohr, die Hände auf dem Rücken, an den Häusern entlang eilten, daß es unter ihren schweren Stiefeln auf den Fliesen schallte.

Alle hatten eine geheimnisvolle, verdutzte Miene, man erwartete augenscheinlich etwas; jeder unterdrückte eine Frage, die ihm auf den Lippen lag.

Frédéric stand neben einem jungen blonden Mann von einnehmendem Gesicht, der Schnurr- und Kinnbart wie ein Stutzer aus der Zeit Ludwigs XIII. trug. Er fragte ihn nach der Ursache der Unordnung.

»Ich weiß es nicht,« erwiderte der andere, »und sie ebenfalls nicht! Das ist jetzt so Mode! Ein guter Spaß!«

Und er brach in Lachen aus.

Die Petitionen wegen der Reformen, die man in der Nationalgarde unterzeichnen ließ, vereint mit der Volkszählung Humanns und noch andere Ereignisse, hatten seit sechs Monaten zu unerklärlichen Zusammenrottungen in Paris geführt, die sich so häufig wiederholten, daß die Zeitungen gar nicht mehr davon redeten.

»Es fehlt an Grazie und an Farbe,« fuhr Frédérics Nachbar fort. »Mir deucht, mein Herr, daß wir entartet sind! In dem guten Zeitalter Ludwigs des Elften, ja, selbst Benjamin Constants gab es mehr Meuterei unter den Scholaren. Ich finde sie friedlich wie die Hammel, dumm wie das Rindvieh und tauglich zu Gewürzkrämern, meiner Treu! Und das nennt man die Jugend der Hochschulen!«

Er breitete die Arme weit aus, wie Frédéric Lemaitre in »Robert Macaire«.

»Jugend der Hochschulen, ich segne dich!«

Dann redete er einen Lumpensammler an, der im Rinnstein vor dem Laden eines Weinhändlers in Austernschalen wühlte:

»Gehörst du auch dazu, zu der Jugend der Hochschulen?«

Der Greis hob sein garstiges Gesicht, in dem man inmitten eines grauen Bartes eine rote Nase und zwei stupide, vertrunkene Augen unterschied.

»Nein, du gleichst mir eher einem jener Galgenstricke, die man hier und da mit vollen Händen Gold ausstreuen sieht… O! streue, mein Patriarch, streue es aus! Verführe mich mit den Schätzen Albions! Are you English? Ich weise die Gaben von Artaxerxes nicht zurück! Laß uns ein wenig von der Zollunion reden.«

Frédéric fühlte, daß jemand seine Schulter berührte, und drehte sich um. Es war Martinon, auffallend blaß.

»Sieh!« – rief er mit einem tiefen Seufzer. »Wieder ein Aufruhr!«

Er fürchtete, kompromittiert zu werden, und beklagte sich. Besonders beunruhigten ihn die Männer in Blusen, als gehörten sie einem Geheimbunde an.

»Gibt es denn Geheimbünde?« fragte der junge Mann mit dem Schnurrbart. »Das ist ein alter Kniff der Regierung, um die Bürger zu erschrecken!«

Aus Furcht vor der Polizei forderte Martinon ihn auf, leiser zu sprechen.

»Sie glauben noch an die Polizei? Wie können Sie übrigens wissen, ob ich nicht selber ein Spitzel bin?«

Und er betrachtete ihn in solcher Weise, daß Martinon, sehr erschrocken, zuerst gar nicht den Scherz verstand. Die Menge stieß sie vorwärts, und sie waren alle drei gezwungen, sich auf die kleine Treppe im Gang zu flüchten, die zu dem neuen Hörsaal führte.

Bald teilte sich die Menge, mehrere Köpfe entblößten sich; man begrüßte den berühmten Professor Samuel Rondelot, der, in einen weiten Mantel gehüllt, seine silberne Brille in die Höhe schob und keuchend in seinem Asthma mit ruhigen Schritten daherkam, um seine Vorlesung zu halten. Dieser Mann war einer der Sterne der Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts, ein Rivale von Zachariae und Ruhdorff. Die neue Würde eines Pair von Frankreich hatte nichts in seinem Wesen verändert. Man wußte, daß er arm war, und zollte ihm große Ehrfurcht.

Indessen riefen einige hinten vom Platz:

»Nieder mit Guizot!«

»Nieder mit Pritchard!«

»Nieder mit den Verkauften!«

»Nieder mit Louis-Philippe!«

Die Menge drängte sich gegen das geschlossene Tor des Hofes und verhinderte so den Professor am Weitergehen. Er blieb an der Treppe stehen. Bald wurde er auf der letzten der drei Stufen bemerkt. Er sprach; ein Murren übertönte seine Stimme. So sehr man ihn eben noch geliebt hatte, jetzt haßte man ihn, denn er repräsentierte die Obrigkeit. Bei jedem Versuch, sich Gehör zu verschaffen, begannen die Rufe von neuem. Mit einer großen Geberde forderte er die Studenten auf, ihm zu folgen. Allgemeines Geschrei antwortete ihm. Verächtlich zuckte er die Achseln und verschwand in den Gang. Martinon hatte die Gelegenheit benutzt, um gleichzeitig zu verschwinden.

»Dieser Feigling!« sagte Frédéric.

»Er ist vorsichtig!« erwiderte der andere.

Die Menge brach in Beifallsbezeugungen aus, denn dieser Rückzug des Professors war ein Sieg für sie. Aus allen Fenstern schauten Neugierige. Einige stimmten die Marseillaise an; andere machten den Vorschlag, zu Béranger zu gehen.

»Zu Laffite!«

»Zu Chateaubriand!«

»Zu Voltaire!« brüllte der junge Mann mit dem blonden Schnurrbart.

Die Polizisten versuchten einzugreifen, indem sie so sanft wie möglich sagten:

»Gehen Sie, meine Herren, gehen Sie auseinander, ziehen Sie sich zurück!«

Einer schrie: »Nieder mit den Totschlägern!«

Das war seit den September-Unruhen die gewöhnliche Drohung. Alle wiederholten sie. Man verspottete die Wächter der öffentlichen Ordnung und pfiff sie aus; sie entfärbten sich; einer von ihnen konnte nicht widerstehen, einen jungen Mann, der ihm zu nahe kam und ihm ins Gesicht lachte, so grob zurückzustoßen, daß er fünf Schritt weiter vor dem Laden des Weinhändlers auf den Rücken fiel. Alle stoben auseinander; aber fast unmittelbar darauf rollte er ebenfalls, von einem wahren Herkules zu Boden geschlagen, dessen Haarschopf wie ein Bündel Werg unter einer Wachstuchmütze hervorquoll.

Einige Minuten an der Ecke der Rue Saint-Jacques aufgehalten, hatte er sich einer Schachtel, die er trug, schnell entledigt, sich auf den Polizisten gestürzt, und ihn unter sich festhaltend, bearbeitete er sein Gesicht mit heftigen Faustschlägen. Die andern Polizisten eilten herbei, allein der schreckliche Bursche war so stark, daß mindestens vier nötig waren, ihn zu bändigen. Zwei schüttelten ihn am Kragen, zwei andere zogen ihn an den Armen, ein fünfter versetzte ihm Rippenstöße mit dem Knie, und alle nannten ihn Brigant, Mörder, Aufrührer. Mit nackter Brust, die Kleider in Fetzen, beteuerte er seine Unschuld; mit kaltem Blut könne er kein Kind schlagen sehen.

»Ich heiße Dussardier! Bei Gebr. Valinçart, Spitzen- und Modeneuheiten, Rue de Cléry. Wo ist mein Karton?« Er wiederholte: »Dussardier!… Rue de Cléry. Mein Karton!«

Aber er beruhigte sich und ließ sich mit stoischer Miene auf die Wache in der Rue Descartes führen. Eine Flut von Leuten folgte ihm. Frédéric und der junge Mann mit dem Schnurrbart gingen, voll Bewunderung für den Kommis und empört über die Gewalttätigkeit der Obrigkeit, dicht hinter ihm. Je weiter man vorwärts schritt, desto geringer wurde die Menge.

Die Polizisten drehten sich von Zeit zu Zeit wütend um; und da es für die Lärmer nichts mehr zu tun, für die Neugierigen nichts mehr zu sehen gab, entfernten sich nach und nach alle. Passanten, denen man begegnete, betrachteten Dussardier und machten laut boshafte, beleidigende Bemerkungen. Eine alte Frau rief sogar an ihrer Tür, daß er ein Brot gestohlen habe; diese Ungerechtigkeit steigerte die Erbitterung der beiden Freunde. Endlich langte man vor der Wache an. Es waren nur noch etwa zwanzig Personen da. Der Anblick der Soldaten genügte, sie zu zerstreuen.

Frédéric und sein Kamerad forderten kühn die Herausgabe des soeben Verhafteten. Die Schildwache drohte, sie selber einzustecken, wenn sie noch weiter davon redeten. Sie fragten nach dem Wachthauptmann, nannten ihre Namen, stellten sich vor als Studenten der Rechte und beteuerten, daß der Gefangene ihr Kollege sei.

Man ließ sie in einen völlig kahlen Raum eintreten, in dem sich vier Bänke längs der verräucherten, gemauerten Wände hinzogen. Im Hintergrunde öffnete sich ein Schiebefenster. Darauf erschien das robuste Gesicht Dussardiers, der mit seinem zerzausten Haarschopf, den kleinen, freimütigen Augen und der Stumpfnase dunkel an die Physiognomie eines treuen Hundes erinnerte.

»Du erkennst uns nicht?« sagte Hussonnet.

Das war der Name des jungen Mannes mit dem Schnurrbart.

»Aber…,« stammelte Dussardier.

»Stell dich nicht länger einfältig,« entgegnete der andere, »man weiß, daß du wie wir Student der Rechte bist.«

Trotz ihres Augenzwinkerns begriff Dussardier nichts. Er schien sich zu sammeln und rief dann plötzlich:

»Ist mein Karton gefunden?«

Frédéric blickte entmutigt auf. Hussonnet erwiderte:

»Ach, dein Karton, in dem du deine Vorlesungsnotizen aufhebst? Ja, ja, beruhige dich.«

Sie verstärkten ihr Mienenspiel. Dussardier verstand endlich, daß sie gekommen waren, um ihm zu helfen, und er schwieg in der Furcht, sie zu kompromittieren. Überdies empfand er eine Art Scham, sich zum sozialen Rang eines Studenten und zum Gefährten dieser jungen Leute erhoben zu sehen, die so weiße Hände hatten.

»Willst du jemand eine Nachricht geben?« fragte Frédéric.

»Nein, danke, niemand.«

»Aber deiner Familie?«

Er senkte den Kopf, ohne zu antworten; der arme Bursche war ein uneheliches Kind. Die beiden Freunde wunderten sich über sein Schweigen.

»Hast du etwas zu rauchen?« fragte Frédéric.

Er betastete sich und zog dann tief aus seiner Tasche die Bruchstücke einer Pfeife hervor, – einer schönen Meerschaumpfeife mit schwarzem Holzrohr, silbernem Deckel und Bernsteinmundstück.

Seit drei Jähren arbeitete er, daraus ein Meisterstück zu machen. Er hatte den Kopf stets sorgfältig in einem Futteral von Gemsleder bewahrt, so langsam wie möglich daraus geraucht, sie niemals auf Marmor gelegt und sie jeden Abend am Kopfende seines Bettes aufgehängt. Jetzt schüttete er die Stücke in seine Hand, deren Nägel bluteten, und mit gesenktem Kopf, die Augen starr und weit offen, betrachtete er die Trümmer seiner Freude mit einem Blick unaussprechlicher Trauer.

»Ob wir ihm Zigarren geben, wie?« sagte Hussonnet ganz leise und machte Miene, sie herauszunehmen. Frédéric hatte bereits eine gefüllte Zigarrentasche auf den Fensterrand gelegt.

»Nimm doch! Lebwohl, nur Mut!«

Dussardier riß die beiden Hände an sich, die sich ihm entgegenstreckten. Er schüttelte sie ungestüm und rief, von Schluchzen unterbrochen:

»Wie?… für mich!… für mich?«

Die beiden Freunde entzogen sich seiner Dankbarkeit, gingen fort und frühstückten zusammen im Café Tabourey vor dem Luxembourg.

Während er ein Beefsteak verzehrte, teilte Hussonnet seinem Gefährten mit, daß er Mitarbeiter der Mode-Journale sei und Reklamen für die Kunsthandlung anfertige.

»Für Jacques Arnoux,« sagte Frédéric.

»Sie kennen ihn?«

»Ja! nein! – Das heißt, ich habe ihn gesehen, bin ihm begegnet.«

Nachlässig fragte er Hussonnet, ob er seine Frau zuweilen sehe.

»Von Zeit zu Zeit,« erwiderte der Bohémien.

Frédéric wagte nicht mit Fragen fortzufahren; dieser Mensch begann eine übermäßig große Rolle in seinem Leben zu spielen; er bezahlte das Frühstück, ohne daß von seiten des andern Einspruch dagegen erhoben wurde.

Die Sympathie war eine gegenseitige; sie tauschten ihre Adressen aus, und Hussonnet forderte ihn herzlich auf, ihn bis zur Rue de Fleurus zu begleiten.

Sie waren mitten im Garten, als er, den Atem anhaltend, sein Gesicht zu einer abscheulichen Grimasse verzerrte und anfing zu krähen wie ein Hahn. Darauf antworteten ihm alle Hähne in der Umgegend mit einem langgezogenen Kickeriki.

»Das ist ein Signal,« sagte Hussonnet.

Sie blieben neben dem Theater Bobino vor einem Hause stehen, in das man durch einen Gang gelangte. In dem Dachfenster einer Mansarde, zwischen Kapuzinerkresse und Wicken, zeigte sich eine junge Frau mit bloßem Kopf, im Korsett und stützte sich mit beiden Armen auf die Dachrinne.

»Guten Tag, mein Engel, guten Tag, mein Schatz,« rief Hussonnet, ihr Kußhände zuwerfend.

Er stieß die Barriere mit einem Fuß auf und verschwand.

Frédéric erwartete ihn die ganze Woche. Er wagte nicht, zu ihm zu gehen, um nicht ungeduldig zu erscheinen, die Summe für das Frühstück wieder zu erhalten, aber er suchte ihn im ganzen Quartier latin. Und eines Abends traf er ihn und nahm ihn mit auf sein Zimmer auf dem Quai Napoléon.

Die Unterhaltung wurde lang, sie schütteten ihre Herzen aus. Hussonnet strebte nach Ruhm und Theatererfolgen. Er arbeitete an Vaudevilles mit, die niemals angenommen wurden, »hatte eine Menge von Plänen«, drechselte Couplets, von denen er einige sang. Dann, als er auf dem Bücherbrett einen Band von Viktor Hugo und einen andern von Lamartine bemerkte, verhöhnte er die romantische Schule. Diese Dichter hätten weder ein richtiges Urteil noch Sprachgefühl und seien vor allem keine Franzosen. Er rühmte sich, seine Sprache zu kennen, und zerpflückte die schönsten Sätze mit jener bissigen Strenge und jener akademischen Art, die lustigen Leuten eigen ist, wenn sie über ernste Kunst reden.

Frédéric war dadurch in seinem Empfinden verletzt; er hatte Lust, abzubrechen. Warum sollte er nicht gleich das Wort sagen, von dem sein Glück abhing? Er fragte den jungen Literaten, ob er ihn bei Arnoux einführen könne.

Die Sache war sehr einfach, und sie verabredeten sich für den nächsten Tag.

Hussonnet versäumte das Rendezvous, er versäumte auch drei weitere. Eines Samstags gegen vier Uhr erschien er. Aber da er den Wagen ausnutzen wollte, hielt er erst vor dem Theater-Français, um ein Logenbillet zu nehmen, ließ beim Schneider vorfahren, bei einer Putzmacherin, und schrieb bei den Hausmeistern Karten. Endlich langten sie auf dem Boulevard Montmartre an. Frédéric durchschritt den Laden und stieg die Treppe hinauf. Arnoux erkannte ihn in dem Spiegel vor seinem Schreibtisch, fuhr ruhig im Schreiben fort und reichte ihm über die Schulter hinweg die Hand.

Fünf oder sechs Personen standen in dem Zimmer umher, das ein einziges, nach dem Hof gehendes Fenster erhellte; ein Sofa mit braunem Damastbezug nahm das Innere eines Alkovens im Hintergrund zwischen zwei Portieren von gleichem Stoff ein. Auf dem Kamin, der mit Papieren bedeckt war, stand eine Venus aus Bronze, zu beiden Seiten parallel zwei Kandelaber mit rosa Kerzen. Rechts neben einem Mappenständer saß ein Mann in einem Sessel und las mit dem Hut auf dem Kopf die Zeitung; die Wände verschwanden unter den Stichen und Gemälden, den kostbaren Gravüren oder mit Widmungen geschmückten Skizzen zeitgenössischer Meister, die von aufrichtigster Zuneigung für Jacques Arnoux zeugten.

»Geht es Ihnen gut?« fragte er, sich an Frédéric wendend.

Und ohne eine Antwort abzuwarten, fragte er Hussonnet leise:

»Wie heißt Ihr Freund?«

Dann laut:

»Nehmen Sie eine Zigarre, aus der Kiste auf dem Ständer.«

Die Kunsthandlung, im Zentrum von Paris gelegen, war ein bequemer Versammlungsort, ein neutrales Gebiet, wo die Gegner vertraulich miteinander in Berührung kamen. Man sah heute hier Anténor Braive, den Porträtisten von Königen; Jules Burrieu, der die Kriege in Algier durch seine Zeichnungen populär zu machen begann; den Karikaturisten Sombaz, den Bildhauer Vourdat und andere mehr; keiner aber entsprach den Erwartungen des Studenten. Ihre Manieren waren schlecht, ihre Gespräche frei. Der Mystiker Lovarias gab eine Zote zum besten, und der Entdecker der orientalischen Landschaften, der bekannte Dittmer, trug ein gestricktes Kamisol unter seiner Weste und nahm sogar den Omnibus, um nach Haus zu kommen.

Es war zuerst die Rede von einer gewissen Apollonia, einem ehemaligen Modell, das Burrieu in einem Daumont auf dem Boulevard erkannt zu haben behauptete. Hussonnet erklärte diese Metamorphose durch die Anzahl ihrer Liebhaber.

»Wie dieser Schelm die Pariser Mädchen kennt,« sagte Arnoux.

»Nach Ihnen, wenn etwas übrig bleibt, Sire,« entgegnete der Bohémien mit militärischem Gruß, um den Grenadier nachzuahmen, der Napoleon seine Flasche anbot.

Darauf disputierte man über einige Bilder, zu denen Apollonias Kopf benutzt worden war. Abwesende Kollegen wurden kritisiert. Man wunderte sich über die Preise ihrer Werke und alle beklagten sich, daß man nicht mehr genug verdiene, als ein mittelgroßer Mann, der etwas verrückt aussah, mit lebhaften Augen, den Rock nur mit einem Knopf geschlossen, eintrat.

»Was für Spießbürger ihr seid!« sagte er. »Was tut das, mein Gott! Die Alten, die Meisterwerke schufen, kümmerten sich nicht um Millionen. Correggio, Murillo..«

»Fügen Sie noch hinzu: Pellerin,« sagte Sombaz.

Aber ohne den Stich zu beachten, fuhr er fort mit einer solchen Heftigkeit zu reden, daß Arnoux genötigt war, zweimal zu wiederholen:

»Meine Frau erwartet Sie am Donnerstag. Vergessen Sie es nicht.«

Diese Worte leiteten Frédérics Gedanken auf Madame Arnoux. Man gelangte sicherlich durch das Kabinett neben dem Divan zu ihr? Arnoux hatte es eben geöffnet, um ein Taschentuch zu holen, Frédéric hatte im Hintergrunde einen Waschständer bemerkt. Aber eine Art Brummen kam aus der Ecke neben dem Kamin von dem Manne, der im Fauteuil die Zeitung las. Er war fünf Fuß neun Zoll hoch, hatte etwas schlaffe Lider, graues Haar, ein majestätisches Aussehen – sein Name war Regimbart.

»Was gibt’s denn, Citoyen?« fragte Arnoux.

»Wieder eine neue Niederträchtigkeit der Regierung!«

Es handelt sich um die Absetzung eines Schulmeisters; Pellerin nahm seinen Vergleich zwischen Michel-Angelo und Shakespeare wieder auf. Dittmer ging. Arnoux hielt ihn fest, um ihm zwei Banknoten zuzustecken. Darauf sagte Hussonnet, den günstigen Moment wahrnehmend:

»Könnten Sie mir nichts vorschießen, mein Gönner?…«

Aber Arnoux hatte wieder seinen Platz eingenommen und schalt einen Greis von schmutzigem Aussehen mit blauer Brille aus.

»Sie sind gut, Vater Isaac! Drei Werke sind dadurch in Verruf, verloren! Alle Welt macht sich lustig über mich! Man kennt sie jetzt! Was tue ich damit? Ich werde sie nach Kalifornien schicken müssen!… zum Teufel! Schweigen Sie!«

Die Spezialität dieses Biedermannes bestand darin, die Unterschrift alter Meister unter die Bilder zu setzen. Arnoux weigerte sich, ihn zu bezahlen, und verabschiedete ihn barsch. Darauf begrüßte er mit veränderter Miene einen steifen, ordengeschmückten Herrn mit Backenbart und weißer Kravatte.

Den Ellbogen auf den Fensterriegel gestützt, unterhielt er sich lange mit honigsüßer Miene mit ihm. Endlich rief er aus:

»Ach, es fehlt mir nicht an Vermittlern, Herr Graf!«

Nachdem der Mann eingewilligt hatte, zahlte Arnoux ihm fünfundzwanzig Louisdor aus und sagte, als er fort war:

»Wie unerträglich sind doch diese großen Herren!«

»Eine elende Bande, allesamt!« murmelte Regimbart.

Wie die Zeit vorschritt, verdoppelte sich Arnoux’ Tätigkeit; er sah Artikel durch, entsiegelte Briefe, stellte Rechnungen aus, ging, wenn er die Hammerschläge hörte, in den Laden hinaus, um die Verpackung zu überwachen und nahm dann seine Beschäftigung wieder auf; und während seine Stahlfeder über das Papier glitt, ging er schlagfertig auf jeden Scherz ein. Abends wollte er bei seinem Advokaten speisen und am nächsten Morgen nach Belgien reisen.

Die anderen unterhielten sich über Tagesfragen: über das Porträt von Cherubini, das Amphitheater der schönen Künste, die nächste Ausstellung. Pellerin schimpfte auf die Akademie. Klatschereien, Diskussionen kreuzten sich. Der niedrige Raum war so voll, daß man sich nicht rühren konnte, und das Licht der rosa Kerzen leuchtete durch den Tabaksrauch wie Sonnenstrahlen durch den Nebel.

Die Tür neben dem Divan öffnete sich, und eine große, schlanke Dame trat mit ungestümen Bewegungen ein, bei denen alle Berloques ihrer Uhr auf dem schwarzen Taffetkleide aneinander klirrten.

Es war die Dame, die er im letzten Sommer im Palais-Royal gesehen. Einige redeten sie mit ihrem Namen an und wechselten einen Händedruck mit ihr. Hussonnet hatte endlich fünfzig Franken herausgeschlagen; es schlug sieben Uhr und alle gingen.

Arnoux forderte Pellerin auf, zu bleiben und führte Mademoiselle Vatnaz in das Kabinett.

Frédéric hörte nicht, was sie sprachen, sie flüsterten. Doch auf einmal erhob sich die weibliche Stimme:

»Sechs Monate warte ich schon, seit die Sache in Angriff genommen wurde.«

Es folgte ein langes Schweigen, Mademoiselle Vatnaz kam wieder zum Vorschein. Arnoux hatte ihr wohl noch etwas versprochen.

»Später werden wir sehen!«

»Adieu, Sie Glücklicher!« sagte sie, als sie fortging.

Arnoux trat hastig in das Kabinett zurück, wichste seinen Schnurrbart, zog die Hosenträger herauf, um die Stege zu straffen, wusch sich die Hände und sagte:

»Ich brauche also zwei Türgesimse, zu zweihundertfünfzig das Stück, Genre Boucher, abgemacht?«

»Meinetwegen,« sagte der Künstler, der rot geworden war.

»Gut! und vergessen Sie meine Frau nicht!«

Frédéric begleitete Pellerin bis oben an das Faubourg Poissonière und bat ihn um die Erlaubnis, ihn manchmal besuchen zu dürfen, eine Gunst, die ihm freundlichst gewährt wurde.

Pellerin las alle Werke über Ästhetik, um die wahre Theorie des Schönen zu entdecken, überzeugt, wenn er sie gefunden, Meisterwerke schaffen zu können. Er umgab sich mit allen erdenklichen Hilfsmitteln, mit Zeichnungen, Skulpturen, Modellen, Gravüren, er suchte, quälte sich. Er klagte das Wetter, seine Nerven, sein Atelier an, ging aus, um Inspirationen zu finden, zitterte, wenn er sie nahe glaubte, ließ sein Werk dann im Stich und träumte von einem neuen, das viel schöner werden sollte. Von seiner Ruhmbegierde verfolgt, vergeudete er seine Tage in Diskussionen, glaubte an tausend Albernheiten, an Systeme, Kritiken, an die Bedeutung von Gesetzen, einer Reform der technischen Ausdrucksmittel und hatte mit fünfzig Jahren noch nichts weiter als Entwürfe hervorgebracht. Sein unerschütterlicher Stolz bewahrte ihn vor Enttäuschungen, aber er war immer gereizt, und in einer gekünstelten und zugleich natürlichen Erregung, die einen zum Komödianten macht.

Beim Eintritt fiel der Blick auf zwei große Gemälde, auf denen die ersten, hier und da aufgesetzten Töne braune, rote und blaue Flecken auf der weißen Leinwand bildeten. Ein Netz von Kreidelinien spannte sich darüber wie die Maschen eines zwanzigmal ausgebesserten Gewebes; es war ganz unmöglich, etwas davon zu verstehen. Pellerin erklärte den Gegenstand dieser beiden Kompositionen, indem er mit dem Daumen die fehlenden Partien andeutete. Das eine sollte den »Wahnsinn des Nebukadnedzar«, das andere den »Brand Roms unter Nero« darstellen. Frédéric bewunderte sie.

Er bewunderte wüste Frauenakte, Landschaften mit einem Überfluß von sturmgepeitschten Bäumen, und besonders phantastische Federzeichnungen, Erinnerungen an Callot, Rembrandt und Goya, deren Bilder er nicht kannte. Pellerin schätzte diese Jugendarbeiten nicht mehr; jetzt war er für den großen Stil; er dogmatisierte beredt über Phidias und Winckelmann. Die Gegenstände um ihn her verstärkten die Macht seiner Worte: man sah einen Totenschädel auf einem Betpult, einen Yatagan, eine Mönchskutte, die Frédéric anprobierte.

Kam er früh, so traf er ihn in seinem schlechten Gurtenbett, das ein Teppichfetzen bedeckte; denn Pellerin, der regelmäßig die Theater besuchte, ging spät zu Bett. Eine alte Frau in Lumpen bediente ihn, er speiste in einer Garküche und hatte keine Geliebte. Seine bunt zusammengewürfelten Kenntnisse machten seine Paradoxe amüsant. Sein Haß gegen das Gemeine und gegen das Spießbürgerliche ergoß sich in Sarkasmen von so prächtigem Enthusiasmus, und er hatte eine solche Verehrung für die alten Meister, daß sie ihn fast bis zu ihnen emporhob.

Warum aber sprach er niemals von Madame Arnoux? Ihren Mann dagegen nannte er bald einen guten Kerl, bald einen Charlatan. Frédéric erwartete vertrauliche Mitteilungen von ihm.

Als er eines Tages in seinen Mappen blätterte, fand er in dem Porträt einer Zigeunerin etwas von Mademoiselle Vatnaz, und da er sich für ihre Person interessierte, wollte er ihren Stand wissen.

Pellerin glaubte, daß sie früher Erzieherin in der Provinz gewesen war, jetzt gab sie Unterricht und versuchte, für kleine Blätter zu schreiben.

Nach ihrem Benehmen Arnoux gegenüber konnte man sie, Frédérics Meinung nach, für seine Geliebte halten.

»Ach was, er hat andere!«

Da wandte der junge Mann sich, über die eigenen Gedanken errötend, beschämt ab und fügte entschlossen hinzu:

»Seine Frau vergilt es ihm wohl.«

»Durchaus nicht! Sie ist anständig.«

Frédéric hatte Gewissensbisse und zeigte sich häufiger in der Redaktion.

Die großen Buchstaben, die den Namen Arnoux auf der Marmorplatte über dem Laden bildeten, schienen ihm ganz seltsam und voll Bedeutung, wie eine heilige Inschrift. Das breite, abschüssige Trottoir erleichterte ihm das Gehen, die Türen öffneten sich fast von selbst; und der vom Anfassen glatte Türgriff hatte die Weichheit und fast das Wesen einer Hand in der seinen. Unvermerkt wurde er ebenso pünktlich wie Regimbart.

Täglich setzte sich Regimbart an den Kamin in seinen Fauteuil, bemächtigte sich des »National«, gab ihn nicht mehr aus der Hand und drückte seine Gedanken durch Ausrufe oder bloßes Achselzucken aus. Von Zeit zu Zeit trocknete er sich die Stirn mit seinem wurstförmig gerollten Taschentuch, das er auf der Brust zwischen zwei Knöpfen seines grünen Überrocks trug. Er hatte eine Hose an mit Bügelfalte, Stiefeletten, eine lange Krawatte; und ein Hut mit aufgeschlagener Krempe machte ihn schon von weitem kenntlich in der Menge.

Um acht Uhr morgens stieg er die Höhen des Montmartre hinunter, um den Weißwein in der Rue Notre-Dame-des-Victoires zu trinken. Sein Frühstück, dem mehrere Partien Billard folgten, währte bis drei Uhr. Darauf begab er sich nach der Panorama-Passage, um einen Absinth zu nehmen. Nach der Sitzung bei Arnoux ging er in die Wirtschaft Bordelais, um Wermut zu trinken; dann, anstatt zu seiner Frau zurückzukehren, zog er es vor, in einem kleinen Café, Place Gaillan, allein zu speisen, wo er »häusliche Gerichte«, »Hausmannskost« vorgesetzt haben wollte! Endlich suchte er ein anderes Café auf, wo er bis Mitternacht blieb, bis ein Uhr morgens, bis zu dem Moment, wo das Gas ausgelöscht, die Fensterläden geschlossen wurden, und der erschöpfte Wirt ihn beschwor, zu gehen.

Und nicht einmal die Liebe zu Getränken zog Regimbart an diese Orte, sondern nur die alte Gewohnheit, dort über Politik zu sprechen; mit dem Alter hatte seine Begeisterung abgenommen, und nur eine mürrische Schweigsamkeit war ihm geblieben. Beim Anblick seines ernsten Gesichts hätte man glauben können, er wälze die Welt in seinem Kopf. Nichts kam dabei heraus, und niemand, selbst seine besten Freunde, sahen ihn je arbeiten, obwohl er vorgab, ein Geschäftsbüro zu halten.

Arnoux schien ihn unendlich zu schätzen. Er sagte eines Tages zu Frédéric:

»Dieser Mann weiß viel! Er ist ein bedeutender Mensch!«

Ein anderes Mal breitete Regimbart auf seinem Pult Papiere aus, die Kaolin-Minen in der Bretagne betrafen; Arnoux verließ sich auf seine Erfahrung.

Frédéric war Regimbart gegenüber von übertriebener Aufmerksamkeit, – so sehr, daß er ihm mitunter sogar einen Absinth anbot; und obwohl er ihn für beschränkt hielt, blieb er doch oft eine volle Stunde in seiner Gesellschaft, und einzig, weil er der Freund Jacques Arnoux’ war.

Nachdem er zeitgenössischen Meistern zum ersten Erfolg verholfen, hatte dieser Kunsthändler, ein Mann des Fortschritts, immer unter Wahrung der artistischen Allüren versucht, seine pekuniären Vorteile wahrzunehmen. Er trachtete nach Selbständigkeit der Kunst, nach Solidem bei wohlfeilen Preisen. Alle Pariser Luxus-Industrien waren von seinem Einfluß abhängig, der für die kleinen Dinge gut, für die großen verderblich war. Mit seiner Sucht, die Meinung zu beeinflussen, lenkte er die geschickten Künstler von ihren Zielen ab, ruinierte die Starken, beutete die Schwachen aus und machte die Mittelmäßigen berühmt; und dies alles erreichte er durch seine Verbindungen und durch seine Revue. Die Farbenkleckser strebten ehrgeizig danach, ihre Werke in seinem Fenster zu sehen, und die Dekorateure nahmen bei ihm die Modelle für Einrichtungen. Frédéric betrachtete ihn gleichzeitig als Millionär, als Dilettant und als Mann der Tat. Allein vieles setzte ihn in Erstaunen, denn dieser Monsieur Arnoux war ein gewiegter Geschäftsmann.

Er erhielt aus Deutschland oder Italien eine Leinwand, die für fünfzehnhundert Francs in Paris gekauft war, und verkaufte sie dann, indem er eine Rechnung vorlegte, die auf einen Preis von viertausend lautete, aus Gefälligkeit für dreitausendfünfhundert. Einer seiner gewöhnlichen Kniffe mit den Malern war, daß er unter dem Vorwand, eine Gravüre herausgeben zu wollen, eine Verkleinerung ihres Bildes von ihnen verlangte; er verkaufte dann die Verkleinerung, und die Gravüre erschien nie. Denen, die sich beklagten, ausgebeutet zu werden, antwortete er mit einem Klaps auf den Bauch. Im übrigen war er ein vortrefflicher Mensch, verschwendete Zigarren, duzte Unbekannte, und begeisterte er sich für ein Werk oder für einen Menschen, so war er doppelt eifrig in seinem Geschäft mit Korrespondenzen und Reklamen. Er hielt sich für sehr anständig, und in seinem Bedürfnis, sich mitzuteilen, erzählte er naiv seine Schliche.

Um einen Kollegen zu ärgern, der ein anderes Kunstblatt durch ein großes Fest einweihte, bat er Frédéric eines Tages unter seinen Augen, kurz vor Beginn der Feier, Billets zu schreiben, durch die die Gäste wieder ausgeladen werden sollten.

»Es geht nicht gegen die Ehre, wissen Sie!«

Und der junge Mann wagte nicht, ihm diesen Dienst abzuschlagen.

Am nächsten Tage, als er mit Hussonnet in sein Bureau trat, sah Frédéric durch die Tür (oben auf der Treppe) den Saum eines Kleides verschwinden.

»Bitte tausendmal um Entschuldigung!« sagte Hussonnet. »Wenn ich gewußt hätte, daß Damen hier sind…«

»O, das war meine Frau,« erwiderte Arnoux. »Sie kam im Vorübergehen herauf, mir eine kleine Visite zu machen.«

»Wie, hier?« sagte Frédéric.

»Jawohl! sie geht jetzt zurück nach Haus.«

Alles ringsum verlor plötzlich seinen Reiz. Was er eben dunkel empfand, schwand wieder oder war vielmehr niemals gewesen. Er fühlte eine unsagbare Bestürzung, einen Schmerz wie über einen Verrat.

Arnoux, der in seinem Schubfach kramte, lächelte. Machte er sich über ihn lustig? Der Kommis legte ein Paket feuchter Papiere auf den Tisch.

»Ah! Die Plakate!« rief der Kaufmann. »Ich komme heute nicht zu meinem Mittagessen.«

Regimbart nahm seinen Hut.

»Wie, Sie gehen fort?«

»Sieben Uhr!« sagte Regimbart.

Frédéric folgte ihm.

An der Ecke der Rue Montmartre drehte er sich um; er sah die Fenster der ersten Etage und lachte innerlich mitleidig über sich selber, als er sich erinnerte, mit welcher Liebe er sie oft betrachtet hatte! Wo wohnte sie denn? Wie ihr jetzt begegnen? Und stärker denn je empfand er seine Sehnsucht und namenlose Einsamkeit!

»Nehmen Sie einen?« sagte Regimbart.

»Einen Absinth?«

Und seinem Drängen nachgebend, ließ Frédéric sich in die Wirtschaft Bordalais führen. Während er, auf den Ellbogen gestützt, die Karaffe betrachtete, schweiften die Blicke seines Gefährten nach rechts und links. Da bemerkte er das Profil Pellerins auf dem Trottoir, klopfte lebhaft an die Scheibe, und kaum hatte der Maler sich gesetzt, als Regimbart ihn fragte, warum man ihn nicht mehr in der Kunsthandlung sehe.

»Lieber krepieren, als dahin zurückkehren! Das ist ein Vieh, ein Philister, ein Lump, ein Narr!«

Diese Beleidigungen taten Frédérics Zorn wohl und doch verletzen sie ihn, denn ihm schien, daß sie Madame Arnoux ebenfalls trafen.

»Was hat er Ihnen denn getan?« fragte Regimbart.

Pellerin stampfte mit dem Fuß auf den Boden und schnaufte, anstatt zu antworten.

Er ließ sich zu unsauberen Geschäften herbei, wie Porträts in zweierlei Kreide oder Nachahmungen großer Meister für wenig bewanderte Amateure anzufertigen; und da diese Arbeiten ihn demütigten, zog er es gewöhnlich vor, zu schweigen. Aber »der schmutzige Geiz« Arnoux’ erbitterte ihn. Er machte sich Luft.

Einem Auftrag zufolge, dessen Zeuge Frédéric gewesen, hatte er ihm zwei Bilder gebracht, die der Kaufmann sich alsdann erlaubte zu kritisieren! Er hatte die Komposition getadelt, die Farbe, die Zeichnung, vor allem die Zeichnung, kurz, er hatte sie auf keinen Fall gewollt. Allein durch einen fälligen Wechsel gezwungen, hatte Pellerin sie dem Juden Isaac überlassen; und vierzehn Tage später verkaufte Arnoux sie für zweitausend Francs an einen Spanier.

»Nicht einen Sou weniger! Was für eine Gemeinheit; und er verübt noch andere, bei Gott! Wir werden ihn eines Tages vor dem Strafgericht sehen!«

»Wie Sie übertreiben!« sagte Frédéric mit schüchterner Stimme.

»Gut! meinetwegen! ich übertreibe!« schrie der Künstler, mit der Faust heftig auf den Tisch schlagend.

Diese Heftigkeit gab dem jungen Manne seine ganze Sicherheit wieder. »Freilich hätte sich Arnoux besser benehmen können, indessen wenn er diese beiden Bilder…«

»Schlecht fand! Heraus mit dem Wort! Kennen Sie sie? Ist das Ihr Fach? Denn wissen Sie, ich gebe nichts auf Amateure!«

»Ach! die Sache geht mich ja nichts an,« sagte Frédéric.

»Welches Interesse haben Sie denn daran, ihn zu verteidigen?« entgegnete Pellerin kalt.

»Aber… weil ich sein Freund bin.«

»Küssen Sie ihn in meinem Namen! Guten Abend!«

Und wütend ging der Maler hinaus, selbstverständlich ohne an seine Zeche zu denken.

Frédéric hatte, indem er Arnoux verteidigte, sich selbst vergessen. In der Hitze seiner Beredsamkeit ergriff ihn plötzlich eine große Zärtlichkeit für diesen guten, intelligenten Mann, den seine Freunde verleumdeten und der jetzt ganz allein, verlassen bei der Arbeit saß. Er konnte dem lebhaften Bedürfnis, ihn sofort wiederzusehen, nicht widerstehen.

Zehn Minuten später öffnete er die Tür des Ladens.

Arnoux stellte mit seinem Kommis Monstre-Plakate für eine Gemälde-Ausstellung zusammen.

»Nun, was führt Sie zurück?«

Diese so einfache Frage brachte Frédéric in Verlegenheit; und da er nicht wußte, was er darauf antworten sollte, fragte er, ob nicht zufällig seine Brieftasche gefunden worden sei, eine Brieftasche aus blauem Leder.

»In der Sie Ihre Damenbriefe aufbewahren?« sagte Arnoux.

Frédéric verteidigte sich errötend wie ein junges Mädchen gegen eine solche Vermutung.

»Ihre Verse also?« entgegnete Arnoux.

Er nahm die ausgebreiteten Proben in die Hand, besprach ihre Form, die Farbe, die Umrahmung, und Frédéric fühlte sich durch sein gleichgültiges Wesen, vor allem aber durch seine über die Plakate gleitenden Hände – volle, ein wenig weichliche Hände mit flachen Nägeln – immer mehr abgestoßen. Endlich erhob sich Arnoux, und mit einem »Das wäre gemacht!« faßte er ihn ungezwungen unters Kinn. Diese Vertraulichkeit mißfiel Frédéric, er trat etwas zurück, dann überschritt er, zum letztenmal in seinem Leben, wie er glaubte, die Schwelle des Büros. Selbst Madame Arnoux verlor in seinen Augen durch die Gewöhnlichkeit ihres Gatten. –

In derselben Woche erhielt er einen Brief, in dem Deslauriers ihm ankündigte, daß er am nächsten Donnerstag in Paris eintreffen würde. Er warf sich nun mit Leidenschaft auf diese tiefere und ernsthaftere Freundschaft. Ein solcher Mann war mehr wert als alle Frauen. Er brauchte jetzt weder Regimbart noch Pellerin oder Hussonnet, niemand! Um seinen Freund besser unterzubringen, kaufte er ein eisernes Bett, einen zweiten Sessel, teilte sein Bettzeug; und am Donnerstagmorgen kleidete er sich an, um Deslauriers entgegenzugehen, als die Glocke an seiner Tür ertönte und Arnoux eintrat.

»Nur ein Wort! Ich erhielt gestern eine schöne Forelle aus Genf, wir rechnen auf Sie, gleich heute, um sieben Uhr pünktlich… In der Rue Choiseul 24b… Vergessen Sie es nicht!«

Frédéric mußte sich setzen. Seine Knie wankten. Er wiederholte unablässig: »Endlich! endlich!« Dann schrieb er an seinen Schneider, seinen Hutmacher und seinen Schuhmacher, und ließ diese drei Billets von drei verschiedenen Dienstmännern fortbringen. Der Schlüssel drehte sich im Schloß, und der Portier erschien mit einem Koffer auf der Schulter.

Als Frédéric Deslauriers erblickte, fing er an zu zittern wie eine ehebrecherische Frau unter dem Blick ihres Mannes.

»Was hast du?« sagte Deslauriers, »du mußt meinen Brief doch erhalten haben?«

Frédéric hatte nicht die Kraft zu lügen.

Er breitete die Arme aus und warf sich an seine Brust.

Dann erzählte der Schreiber seine Geschichte. Sein Vater hatte die Vormundschaftsrechnung nicht vorlegen wollen, indem er vorgab, daß diese in zehn Jahren verjährt sein würde. Aber Deslauriers, der im Prozeßwesen gut beschlagen war, hatte endlich das ganze Erbteil seiner Mutter, netto siebentausend Francs, herausbekommen, die er hier in einer alten Brieftasche bei sich trug.

»Das ist ein Rückhalt für den Fall der Not. Ich muß sehen, sie anzulegen, und mich selbst morgen früh unterzubringen. Für heute bin ich vollkommen frei und stehe ganz zu deiner Verfügung, alter Junge!«

»O! Geniere dich nicht!« sagte Frédéric. »Wenn du heute abend etwas Wichtiges vorhast…«

»Warum nicht gar! Da wäre ich ja ein schöner Lump!«

Dieses zufällig hingeworfene Epitheton traf Frédéric mitten ins Herz wie eine beleidigende Anspielung.

Der Hausmeister hatte auf den Tisch neben dem Kamin zwei Kotelettes, Geflügel, eine Languste, ein Dessert und zwei Flaschen Burgunder gestellt. Eine so festliche Aufnahme rührte Deslauriers.

»Du behandelst mich wie einen König, auf mein Wort!«

Sie plauderten von ihrer Vergangenheit, von der Zukunft; und von Zeit zu Zeit reichten sie sich über den Tisch die Hände und sahen sich eine Minute mit Rührung an. Aber ein Bote brachte einen neuen Hut. Deslauriers bemerkte laut, wie glänzend der Hutkopf sei.

Darauf brachte der Schneider selbst den Frack, den er noch etwas aufgebügelt hatte.

»Man könnte glauben, du wollest Hochzeit machen,« sagte Deslauriers.

Eine Stunde später erschien unvermutet ein drittes Individuum und zog aus seinem Beutel ein Paar glänzende Lackstiefel. Während Frédéric sie probierte, betrachtete der Schuster schmunzelnd das Schuhwerk des Provinzialen.

»Der Herr braucht nichts?«

»Danke!« erwiderte der Schreiber und zog seine alten Schnürschuhe unter seinen Stuhl zurück.

Diese Demütigung genierte Frédéric. Er hielt mit seinem Geständnis zurück. Plötzlich rief er, wie wenn ihm etwas einfiele:

»Ach, Donnerwetter; ich vergaß!«

»Was denn?«

»Ich bin heute abend zum Diner eingeladen.«

»Bei Dambreuse? Warum sprachst du in deinen Briefen niemals von ihnen?«

»Nicht bei Dambreuse, sondern bei Arnoux.«

»Du hättest mich vorher benachrichtigen sollen!« sagte Deslauriers. »Ich wäre einen Tag später gekommen.«

»Unmöglich!« entgegnete Frédéric barsch. »Ich wurde erst heute morgen eingeladen, soeben.«

Und um sein Vergehen gutzumachen und seinen Freund abzulenken, knüpfte er die verwickelten Schnüre seines Koffers auf und brachte seine Sachen in der Kommode unter. Er wollte ihm sein eigenes Bett abtreten und selbst im Alkoven schlafen. Dann, gegen vier Uhr, begann er mit den Vorbereitungen seiner Toilette.

»Du hast noch lange Zeit!« sagte der andere.

Endlich kleidete er sich an und ging.

»So sind die Reichen!« dachte Deslauriers.

Und er speiste in der Rue Saint-Jacques bei einem kleinen Speisewirt, den er kannte.

Frédéric blieb mehrmals auf der Treppe stehen, so sehr schlug ihm das Herz. Einer seiner zu engen Handschuhe platzte, und während er den Riß unter seiner Hemdmanschette zu verbergen suchte, faßte ihn Arnoux, der hinter ihm heraufkam, beim Arm und ließ ihn eintreten.

In dem chinesisch ausgestatteten Vorzimmer standen Bambusmöbel in den Ecken und von der Decke hing eine gemalte Laterne herab. Als er den Salon durchschritt, stolperte Frédéric über ein Tigerfell. Die Kerzen waren noch nicht angesteckt, aber ganz hinten im Boudoir brannten zwei Lampen.

Die kleine Martha kam, um zu sagen, daß ihre Mutter sich ankleidete. Arnoux hob sie bis zu seinem Munde empor, um sie zu küssen; dann ließ er Frédéric, da er selbst im Keller gewisse Weinflaschen wählen wollte, mit dem Kinde allein.

Sie war seit der Reise nach Montereau sehr gewachsen. Ihr braunes Haar fiel in langen, geringelten Locken auf die nackten Arme herab. Ihr Kleid, bauschiger als das Röckchen einer Tänzerin, ließ ihre rosigen Waden sehen, und das ganze hübsche Persönchen duftete frisch wie ein Bukett. Sie nahm die Komplimente des jungen Mannes mit koketter Miene entgegen, blickte ihn prüfend an und verschwand, sich zwischen den Möbeln durchwindend wie eine Katze.

Er empfand keinerlei Verwirrung mehr. Die mit Papierspitzen verhängten Lampenglocken verbreiteten ein milchiges Licht und milderten den Ton der in malvenfarbener Seide gehaltenen Wände. Durch die Stäbe des Ofenschirms, der einem großen Fächer glich, sah man die Kohlenglut im Kamin; vor der Uhr stand ein Kästchen mit Silberschließen. Hier und dort lagen intime Gegenstände: eine Puppe mitten auf dem Kanapee, ein Tuch auf der Rücklehne eines Stuhls, und auf dem Nähtisch ein baumwollenes Strickzeug, von dem zwei Elfenbeinnadeln mit den Spitzen nach unten herabhingen. Es war alles in allem ein friedlicher, trauter, hübscher Raum.

Arnoux kam wieder herein, und unter der andern Portiere erschien Madame Arnoux. Da der Schatten auf sie fiel, unterschied er anfangs nur ihren Kopf. Sie trug ein Kleid von schwarzem Samt und im Haar ein langes, algerisches Netz aus Maschen von roter Seide, das, um ihren Kamm geschlungen, auf ihre linke Schulter herabfiel.

Arnoux stellte Frédéric vor.

»O! ich erkenne den Herrn wieder,« sagte sie.

Dann kamen alle Gäste fast zu gleicher Zeit. Dittmer, Lovarias, Burrieu, der Komponist Rosenwald, der Dichter Théophile Lorris, zwei Kunstkritiker, Kollegen Hussonnets, ein Papier-Fabrikant, und endlich der berühmte Pierre-Paul Meinsius, der letzte Repräsentant der monumentalen Malerei, der an seinem Ruhm dasselbe Vergnügen hatte wie an seinen achtzig Jahren und seinem dicken Bauch.

Als man ins Speisezimmer ging, nahm Madame Arnoux seinen Arm. Ein Stuhl war für Pellerin leergeblieben. Arnoux mochte ihn gern, obwohl er ihn ausbeutete. Überdies fürchtete er seine scharfe Zunge – so sehr, daß er, um ihn zu besänftigen, in der Kunsthandlung sein Porträt, von den übertriebensten Lobsprüchen begleitet, veröffentlicht hatte; und Pellerin, der empfänglicher für Ruhm war als für Geld, erschien ganz atemlos gegen neun Uhr. Frédéric glaubte sie längst wieder ausgesöhnt.

Die Gesellschaft, die Speisen, alles gefiel ihm. Der Saal, einem mittelalterlichen Raum ähnlich, war in gedämpftem Kupfer gehalten. Eine holländische Etagère stand vor einem Tschibukständer, und die verschiedenen böhmischen Gläser rund um den Tisch wirkten inmitten der Blumen und Früchte wie eine Garten-Illumination.

Er konnte unter zehn Senfsorten wählen. Er aß Daspachio, Curry, Ingwer, Amseln aus Corsika, römische Lerchen; er trank seltene Weine, Lip-fraoli und Tokayer. Arnoux setzte seinen Stolz darein, gut zu bewirten. Mit Rücksicht auf die Delikatessen stellte er sich gut mit allen Postbeamten und stand mit den Köchen großer Häuser in Verbindung, die ihm Saucen lieferten.

Aber besonders gefiel Frédéric die Unterhaltung. Seinem Geschmack an Reisen kam Dittmer entgegen, der vom Orient erzählte; seine Neugierde in Theaterangelegenheiten wurde durch Anhören von Rosenwalds Plaudereien über die Oper befriedigt, und die schreckliche Existenz der Bohème erschien ihm komisch durch Hussonnets Fröhlichkeit, der in pittoresker Weise erzählte, wie er sich einen ganzen Winter nur von Holländer Käse ernährt hatte. Durch eine Diskussion über die florentinische Schule zwischen Lovarias und Burrieu lernte er Meisterwerke kennen; es eröffneten sich ihm neue Horizonte, und er vermochte schwer seine Begeisterung zurückzuhalten, als Pellerin rief:

»Lassen Sie mich in Ruh mit Ihrer abscheulichen Realistik! Was will das sagen, Realistik? Die einen sehen schwarz, die andern blau, die Menge sieht einfältig. Es gibt nichts weniger Realistisches als Michel-Angelo, nichts Gewaltigeres! Die Sorge um die äußere Wahrheit kennzeichnet unsern heutigen Tiefstand, und alle Kunst wird, wenn man so fortfährt, was weiß ich zu welchem Kram, handele es sich um Religion oder Poesie, um Politik oder öffentliche Interessen. Man erreicht ihren Zweck, ja, ihren Zweck! – der darin besteht, uns eine unpersönliche Exaltation zu verschaffen, nicht mit kleinen Werken, trotz aller ihrer Feinheiten in der Ausführung. Da sind zum Beispiel die Bilder von Bassolier: sie sind hübsch, kokett, sauber und nicht plump! Die kann man in die Tasche stecken, auf die Reise mitnehmen! Liebhaber kaufen sie für zwanzigtausend Francs; es sind nicht für einen Groschen Ideen darin; allein ohne Idee nichts Großes, ohne Größe nichts Schönes! Der Olymp ist ein Berg! Das stolzeste Monument werden immer die Pyramiden sein! Üppigkeit ist mehr wert als Geschmack, die Wüste mehr als ein Trottoir und ein Wilder mehr als ein Haarkünstler.«

Frédéric betrachtete Madame Arnoux, während er diese Dinge anhörte. Sie fielen in seine Seele wie Erzstücke in einen Schmelzofen, verstärkten seine Leidenschaft und erweckten seine Liebe.

Er saß drei Plätze weit von ihr, auf derselben Seite. Zuweilen neigte sie sich ein wenig vor, indem sie den Kopf wandte, um einige Worte an ihr Töchterchen zu richten, und wenn sie dabei lächelte, bildete sich ein Grübchen in ihrer Wange, was ihrem Antlitz einen Ausdruck noch zarterer Güte verlieh.

Bei den Likören verschwand sie. Die Unterhaltung wurde sehr frei; Monsieur Arnoux glänzte darin, und Frédéric war erstaunt über den Cynismus dieser Männer. Indessen bildete ihre ausschließliche Beschäftigung mit den Frauen etwas wie einen Ausgleich zwischen ihnen und ihm, und das hob ihn in der eigenen Achtung.

Als er wieder in den Salon zurückgekehrt war, nahm er, um seine Fassung wiederzugewinnen, eins der Alben, die auf dem Tisch lagen. Die großen Künstler der Zeit hatten es mit Zeichnungen geschmückt, hatten Prosa, Verse oder einfach ihren Namenszug hineingeschrieben; unter den berühmten Namen fanden sich viele Unbekannte, und die seltensten Gedanken zeigten sich unter einer Flut von Albernheiten. Alle enthielten eine mehr oder weniger direkte Huldigung für Madame Arnoux. Frédéric hätte sich gescheut, eine Zeile dazuzuschreiben.

Sie ging in ihr Boudoir, um das Kästchen mit den Silberschließen zu holen, das er auf dem Kamin bemerkt hatte. Es war ein Geschenk ihres Mannes, eine Arbeit aus der Zeit der Renaissance. Die Freunde Arnoux’ machten ihm Komplimente, seine Frau dankte ihm; von Rührung ergriffen, gab er ihr vor allen einen Kuß.

Man plauderte in Gruppen, hier und dort; der gute Meinsius saß mit Madame Arnoux in der Nähe des Kamins auf einer Polsterbank; sie neigte sich zu seinem Ohr, wobei ihre Köpfe sich berührten; – und Frédéric hätte für einen berühmten Namen und weiße Haare gern hingenommen, taub, häßlich und hinfällig zu sein, nur, um in die Lage zu kommen, die ihn zu gleicher Intimität berechtigte. Er verwünschte seine Jugend und überließ sich seiner Qual.

Aber dann kam sie in die Ecke des Salons, wo er stand, und fragte ihn, ob er einige der Gäste kenne, ob er die Malerei liebe und wie lange er in Paris studiere. Jedes Wort aus ihrem Munde schien Frédéric etwas Neues, etwas, das ausschließlich zu ihrer Person gehöre. Er betrachtete aufmerksam die Fransen ihres Kopfputzes, die ihre nackten Schultern mit den Spitzen liebkosten, und er wandte seine Augen nicht mehr davon ab, versenkte den Blick in dieses blendende Fleisch, allein er wagte nicht, seine Lider zu heben, um ihr gerade ins Antlitz zu schauen.

Rosenwald unterbrach sie, indem er Madame Arnoux bat, etwas zu singen. Während er präludierte, wartete sie, ihre Lippen öffneten sich und ein weicher, langgezogener Ton stieg empor.

Frédéric verstand nichts von den italienischen Worten. Es begann mit einem ernsten Rhythmus, wie ein Kirchengesang, dann sich crescendo belebend, vermehrten sich die sonoren Töne und verhallten allmählich, und mit getragenem, vollem Klang wiederholte sich die liebliche Melodie.

Sie stand neben dem Klavier, die Arme herabhängend, mit verlorenem Blick. Zuweilen beugte sie sich etwas vor und kniff die Lider für einen Moment zusammen, um die Noten zu lesen. Ihre volle Altstimme nahm in der Tiefe einen düsteren Klang an, der erschütterte, und ihr schöner Kopf mit den langen Brauen neigte sich dann auf die Schulter; ihre Brust hob sich, sie breitete die Arme aus, ihr Hals, dem die Läufe entströmten, bog sich weich wie unter leisen Küssen, zurück; sie schmetterte drei hohe Töne heraus, dem noch ein höherer folgte, und schloß dann nach einer Pause mit einer Fermate.

Rosenwald verließ den Flügel nicht. Er fuhr fort, für sich selber zu spielen. Von Zeit zu Zeit verschwand einer der Gäste. Um elf Uhr, als die letzten sich verabschiedeten, ging Arnoux mit Pellerin, unter dem Vorwand, ihn begleiten zu wollen, fort. Er gehörte zu denen, die sich krank dünken, wenn sie nach Tisch nicht ihren Spaziergang gemacht haben.

Madame Arnoux war in das Vorzimmer getreten. Dittmer und Hussonnet verabschiedeten sich, sie reichte ihnen die Hand. Auch Frédéric reichte sie die Hand, und er fühlte, wie es jede Pore seiner Haut durchströmte.

Er verließ seine Freunde, es drängte ihn, allein zu sein. Sein Herz floß über. Warum diese dargebotene Hand? War es eine unüberlegte Bewegung oder eine Ermutigung? »Dummheit! Ich bin ein Narr!« Was lag übrigens daran, da er sie jetzt ganz nach Belieben besuchen, in ihrer Atmosphäre leben durfte.

Die Straßen waren öde. Zuweilen kam ein schwerer Karren vorüber, der das Pflaster erschütterte. Die Häuser mit ihren grauen Fassaden und geschlossenen Fenstern reihten sich aneinander; und er dachte verächtlich an alle diese menschlichen Wesen, die hinter den Mauern schliefen und existierten, ohne sie zu kennen, von denen nicht einer ahnte, daß sie lebte! Er hatte weder Bewußtsein von Ort noch Raum, noch von irgend etwas; und müßig weiterschlendernd, indem er mit dem Stock die Rolljalousien der Läden streifte, ging er aufs Geratewohl, erregt und überwältigt, immer geradeaus. Eine feuchte Luft hüllte ihn ein, und er fand sich am Rande des Quais.

Die Gaslampen leuchteten unbestimmt in zwei geraden Linien, und lange rote Flammen flackerten in der Tiefe des Wassers. Es hatte die Farbe des Schiefers, während zu beiden Seiten des Flusses der klarere Himmel sich auf große Schattenmassen senkte. Gebäude, die man nicht unterschied, vertieften die Dunkelheit. Ein leuchtender Dunst schwebte über den Dächern drüben; alle Geräusche verloren sich in einem einzigen Gesumm; es wehte ein leiser Wind.

Er war mitten auf dem Pont-Neuf stehen geblieben und atmete mit bloßem Kopf und nackter Brust die Luft ein. Währenddem fühlte er tief in sich ein Unbezwingbares, eine Welle von Zärtlichkeit aufsteigen, die ihn überwältigte wie jene ruhelosen dort unten. Eine Kirchenuhr schlug eins, ganz langsam, wie eine Stimme, die ihn rief.

Da ergriff ihn einer jener seelischen Schauer, die uns in höhere Sphären heben. Er fühlte Fähigkeiten in sich, deren Wesen er noch nicht kannte. Er fragte sich ernsthaft, ob er ein großer Dichter oder ein großer Maler werden solle; – und er entschied sich für die Malerei, da diese ihn Madame Arnoux nähern müsse. Er hatte also seinen Beruf gefunden! Sein Lebensziel war ihm jetzt klar und die Zukunft gewiß.

Als er seine Tür geschlossen hatte, hörte er jemand in dem dunklen Kabinett neben dem Zimmer schnarchen. Es war der andere. Er hatte nicht mehr an ihn gedacht.

Zufällig sah er sein Gesicht im Spiegel. Er fand sich schön; – und er blieb eine Minute stehen, sich zu betrachten.

Die Erziehung der Gefühle

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