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b) Überprüfung der präsidentiellen Verfügungen durch die anderen beiden Staatsgewalten

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Der Kongress kann eine Durchführungsanordnung unterlaufen, indem er eventuell notwendige Finanzmittel nicht bereitstellt[1]; hier setzt sich das Budgetrecht des Parlaments durch. Denkbar ist es weiterhin, dass der Kongress ein Gesetz erlässt, welches eine präsidentielle Verfügung aufhebt[2]. Solche Gesetze sind allerdings sehr selten, auch weil der Kongress mit einem Veto des Präsidenten rechnen muss, welches dann nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit überstimmt werden kann[3]. Weniger als 4 % der präsidentielle Durchführungsanordnungen sind vom Kongress verändert oder aufgehoben worden[4].

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Der Steel-Seizure-Fall bildet seit langer Zeit einen wichtigen Meilenstein der Kontrolle präsidentieller Durchführungsanordnungen durch den Supreme Court. Während des Koreakrieges verfügte Präsident Truman 1952 per executive order[5], dass stahlerzeugenden Unternehmen unter eine zeitlich begrenzte staatliche Zwangsverwaltung zu nehmen waren. Truman befürchtete, dass anderenfalls die Stahlproduktion zum Erliegen können komme, weil sich die Arbeitgeber Lohnerhöhungen verweigerten und die Gewerkschaften mit Streik gedroht hatten. Das streikbedingte Ruhen der Stahlproduktion hätte wiederum negative Auswirkungen auf die Versorgung der amerikanischen Truppen mit Waffen und Ausrüstung haben können.

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Aus deutscher Perspektive wäre die rechtliche Lösung dieses Falles klar: Da Truman keine gesetzliche Ermächtigung für den Eigentumseingriff vorweisen konnte[6], was er auch selbst einräumte, würde man diesen Eingriff wegen des Vorbehalts des Gesetzes als verfassungswidrig bewerten. Der Supreme Court, den die Stahlunternehmen anriefen, kam zwar ebenfalls zu dem Ergebnis der Verfassungswidrigkeit, allerdings waren die Argumentationen der verschiedenen Richter deutlich komplexer und vielfältiger[7]. Drei Richter vertraten die abweichende Meinung, das Vorgehen des Präsidenten sei verfassungsgemäß, da eine Notlage vorläge, in der rasch und entschlossen gehandelt werden müsse[8]. Die Enteignung sei nicht verfassungsrechtlich verboten, solange die Eigentümer entschädigt würden[9]. Dass die Verfassung zu den Notstandskompetenzen schweige, heiße nicht, dass der Präsident keine Handlungsmöglichkeiten haben solle[10]. Vielmehr sei aus den Regelungen über die Präsidentschaft und aus historischen Argumenten[11] abzuleiten, dass Präsidenten in Krisensituationen auch ohne parlamentarische Ermächtigung handeln dürften[12]. So stelle sich auch die Verfassungspraxis sowie eine Reihe von Präzedenzfällen dar; Beschlagnahmen durch Präsidenten in Kriegszeiten seien bislang durchgehend gebilligt worden[13]. Präsident Truman habe den Kongress überdies rechtzeitig über die Zwangsverwaltung der Stahlbetriebe informiert, der aber keine (gesetzlichen) Gegenmaßnahmen für nötig gehalten habe[14].

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Von den sechs Richtern, die von der Verfassungswidrigkeit der Zwangsverwaltung überzeugt waren, wurden sehr unterschiedliche Begründungen vorgelegt. Zunächst wurde eine Ermächtigung des Präsidenten aus seiner Funktion als Oberbefehlshaber abgelehnt, weil es nicht direkt um die Streitkräfte, sondern um einen arbeitsrechtlichen – und damit einen innenpolitischen – Konflikt ging, der nur indirekt Folgen für die Streitkräfte hatte[15]. Aber auch die sonstigen exekutiven Befugnisse des Präsidenten wurden nicht als ausreichende Ermächtigung angesehen, weil es hier um Gesetzgebung gehe – wie andere Gesetze über die Zulässigkeit von Enteignungen zeigten[16] – und dies die Aufgabe des Kongresses darstelle[17]. Der Wortlaut der Verfassung (Art. I, section 1 USC) ordne alle gesetzgeberischen Befugnisse dem Parlament zu; Art. I, section 8, cl. 18 USC bekräftige diese Gesetzgebungsaufgabe des Parlaments[18]. Justice Douglas ergänzt diese Überlegungen mit einem systematischen Argument[19]: Die Zwangsverwaltung der Stahlunternehmen stelle ein zeitweise Enteignung dar, die nach dem 5. Zusatzartikel entschädigungspflichtig sei. Weil der Präsident allein, d.h. am Kongress vorbei, überhaupt keine finanziellen Leistungen bewilligen dürfe, seien ihm Enteignungen untersagt, da diese ohne gleichzeitige Entschädigung verfassungswidrig seien.

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Eine vermittelnde Lösung bildet drei unterschiedliche Modelle[20]:

Handelt der Präsident mit gesetzlicher Ermächtigung, ist seine Macht am stärksten und die gerichtliche Kontrolle muss sehr zurückhaltend ausfallen.
Fehlt ein Gesetz, kann sich der Präsident nur auf seine eigenen Befugnisse stützen. Hier gibt es Raum für Zweifel, ob die Legislative oder die Exekutive zuständig ist. Je nach Situation und Problematik kann ein Handeln des Präsidenten hier zulässig oder unzulässig sein.
Wendet sich der Präsident gegen den ausdrücklichen oder konkludent erkennbaren Willen des Parlaments, hat er die geringsten Handlungsmöglichkeiten. Hier ist eine sorgfältige gerichtliche Kontrolle angebracht, um die Rechte des Parlaments zu wahren.

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Der Zwangsverwaltungsfall wird dann in die letztgenannte Kategorie eingeordnet und als verfassungsrechtlich unzulässig bewertet[21]. Aus deutscher Perspektive ist es erstaunlich, dass die dritte Kategorie überhaupt existiert, dass es also als grundsätzlich möglich betrachtet wird, dass ein Exekutivorgan sich gegen den Willen der Legislative stellt.

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Justice Frankfurter bringt eine weitere, ganz anders strukturierte Begründung für die Verfassungswidrigkeit[22]: Wenn es keine textlich eindeutige Kompetenzverteilung gebe, müsse nach einer langjährigen Verfassungspraxis gefahndet werden. Wenn diese zugunsten des Präsidenten nachweisbar sei, seien seine Anordnungen verfassungsrechtlich zulässig. Diese ständige Verfassungspraxis existiere indes für die Anordnung von Zwangsverwaltungen nicht[23].

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David Currie leitet aus der geschilderten Entscheidung ab, dass der Präsident nicht gegen das Gesetz handeln dürfe und dass er im Allgemeinen eine gesetzliche Grundlage für sein Handeln benötige[24]. So eindeutig ist der Steel-Seizure-Case jedoch nicht. Sowohl die abweichende Meinung als auch eine Reihe von Richtern der Mehrheitsmeinung lassen dem Präsidenten zumindest Notfallbefugnisse, wenn nicht sogar noch mehr Legislativmacht. Es fehlt ferner eine klare Aussage darüber, wo die Notfallkompetenz des Präsidenten endet[25].

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Erica Newland hat über 150 Entscheidungen US-amerikanischer Gerichte, die sich auf präsidentielle Verfügungen beziehen, im Detail analysiert[26]. Sie stellt zusammenfassend fest, dass die Gerichte die Rechtssetzung durch executive orders des Präsidenten auf Kosten der Rechtssetzungskompetenzen des Kongresses in verschiedener Hinsicht gestärkt haben[27].

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So wurde es als verfassungsrechtlich zulässig bewertet, dass ein späteres Parlamentsgesetz eine vorausgehende Durchführungsanordnung des Präsidenten nachträglich legitimierte[28]. Fehlt eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung oder nachträgliche Billigung des Kongresses, wird die Finanzierung einer präsidentiellen Verfügung als konkludente Zustimmung angesehen[29]. Selbst das Schweigen des Parlaments in Kenntnis einer Durchführungsanordnung des Präsidenten wird bisweilen als Zustimmung gedeutet[30]. Die letztgenannte Variante ist besonders dann bedenklich, wenn, wie im Bereich der nationalen Sicherheit üblich, eine Durchführungsanordnung zwar grundsätzlich bekannt ist, die Details ihrer Nutzung aber gerade geheim gehalten werden[31].

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Wenn Durchführungsanordnungen des Präsidenten und Bundesgesetze in Konflikt geraten, wäre die Erwartung, dass sich die gesetzliche Regelung durchsetzt. Entscheidungen in diese Richtung gibt es auch. So hob ein Berufungsgericht eine präsidentielle Verfügung auf[32], die Bundesbehörden verbot, Verträge mit Unternehmen abzuschließen, die rechtmäßig streikende Arbeitnehmer dauerhaft ersetzten; denn diese Ersetzungsbefugnis war im National Labor Relations Act vorgesehen[33].

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Es gibt jedoch ebenfalls Entscheidungen, die beide Rechtsakte auf eine Ebene stellen und einen möglichst harmonischen Ausgleich zwischen ihnen anstreben[34]. Der Durchführungsanordnung wird so der gleiche Rang wie einem Bundesgesetz gegeben[35]. Auch im Verhältnis zu Gesetzen der Bundesstaaten sollen präsidentielle Durchführungsanordnungen stärker sein[36]. Hier wird die supremacy clause des Art. VI, section 2 USC herangezogen, die allerdings von verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzen spricht, nicht von Verfügungen des Präsidenten.

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In einer weiteren Entscheidung wird die Rückwirkung einer präsidentiellen Verfügung dadurch gerechtfertigt, dass dies die Absicht des Präsidenten gewesen sei[37]; ungeklärt bleibt, ob das Gesetz, welches zu Durchführungsanordnungen ermächtigte, ebenfalls eine Rückwirkung zugelassen hätte[38]. Solche Judikate drängen die Rechtssetzungsmacht des Kongresses zurück[39].

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Diese Entscheidungen überraschen auch deshalb, weil es ansonsten unumstritten ist, dass Gesetze nur vom Kongress und nicht vom Präsidenten aufgehoben oder geändert werden dürfen[40]. Die Gewaltenteilung wäre nach Auffassung des Supreme Court schwer gefährdet, wenn der Präsident allein Gesetze aufheben dürfte[41]. Der Präsident darf ferner die Ausführung eines Gesetzes nicht verweigern. Denn er hatte vorher die Möglichkeit, durch sein Veto das Gesetz zu verhindern, deshalb wäre die nachträgliche Nichtbefolgung ein Widerspruch zur Systematik der US-Verfassung[42]. Hinzu kommt, dass es Fälle geben kann, in denen der Kongress ein Gesetz beschlossen hat, um die Befugnisse des Präsidenten in einem bestimmten Sektor einzuschränken. Könnte der Präsident dieses Gesetz missachten, wäre die Gewaltenteilung unterminiert[43].

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Executive orders werden auch für die Interpretation von Gesetzen herangezogen, obwohl die Urheber verschieden sind; so hat es der Präsident in der Hand, durch den Erlass von Verfügungen die Anwendung eines unklar formulierten Gesetzes in seinem Sinne zu steuern[44].

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Ein letztes Problem der präsidentiellen Durchführungsanordnungen besteht in der Bindungswirkung für Bürgerinnen und Bürger und den Präsidenten selbst. Hier gilt, dass Dritte sich vor Gericht nur dann auf die Regeln einer Durchführungsanordnung berufen können, wenn diese selbst ausdrücklich einklagbare Rechte schafft[45]. Beruht die präsidentielle Verfügung auf einer gesetzlichen Ermächtigung, die eventuell drittschützend ist, wirkt die Konzentration auf die Durchführungsanordnung wenig plausibel[46]. Der Präsident hat es nämlich erneut in der Hand, durch den Erlass einer den Drittschutz ausschließenden Verfügung das Gesetz zu verkürzen. Dass eine Durchführungsanordnung den Zugang zu den Gerichten eröffnet ist extrem selten[47], betroffenen Bürgern bleibt im Regelfall nur die Möglichkeit an den Präsidenten zu appellieren, die Durchführungsanordnung zu ändern[48].

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Der Präsident selbst wiederum ist nicht an seine eigenen Durchführungsanordnungen gebunden[49]. Er kann sie jederzeit offiziell aufheben oder sie schlicht nicht mehr beachten[50]. Im letztgenannten Fall ist die Durchführungsanordnung zwar noch im Federal Register veröffentlicht, wird aber nicht mehr befolgt, was das Gegenteil von Rechtssicherheit darstellt[51]. Insgesamt befremdet das Ergebnis, dass die von Durchführungsanordnungen Betroffenen diese befolgen müssen, wohingegen ihr Urheber ungebunden bleibt[52].

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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Durchführungsanordnungen dem US-Präsidenten weitgehende Machtbefugnisse einräumen[53]. Dies wäre nicht so gravierend, wenn die Durchführungsanordnungen nur den Charakter von Verwaltungsvorschriften hätten, d.h. allein Interna des Dienstbetriebs der Bundesbehörden regelten. Obwohl es zahlreiche executive orders dieser Prägung gibt, existieren ebenfalls viele mit direkter Auswirkung auf Bürger, Wirtschaft und Gesellschaft. Deshalb erscheint es aus Sicht der Gewaltenteilung bedenklich, dass die Präsidenten Kontrollen durch den Kongress oder die Gerichte nur im Ausnahmefall fürchten müssen[54]. Es war gerade ein Anliegen der Väter der Verfassung, durch die Gewaltenteilung eine Situation zu verhindern, in der eine Gewalt die Regeln erlässt, die sie dann selbst ausführt[55]; genau dies erscheint aber bei jenen präsidentiellen Durchführungsanordnungen möglich, die über verwaltungsinterne Regeln hinausgehen.

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Vergleichbare unilaterale Handlungsmöglichkeiten haben in Deutschland weder der Bundespräsident noch die Bundeskanzlerin. Selbst in Notstandssituationen wird zunächst auf freiwillige Anforderung von Hilfe durch das betroffene Bundesland gesetzt (Art. 35 Abs. 2 GG und Art. 91 Abs. 1 GG). Erst wenn mehrere Bundesländer betroffen sind (Art. 35 Abs. 3 GG) oder das betroffene Bundesland nicht bereit bzw. nicht in der Lage ist, die Gefahr abzuwehren (Art. 91 Abs. 2 GG), darf die Bundesregierung als Kollegium weitere Maßnahmen einleiten. Diese sind dann einzustellen, wenn die Gefahr abgewehrt ist oder wenn der Bundesrat dies verlangt. Diese befristeten Möglichkeiten der Bundesintervention, die zudem noch unter der Kontrolle des Bundesrates stehen, bleiben hinter den exekutiven Standardbefugnissen des US-Präsidenten weit zurück.

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Die Steuerung der deutschen Bundesverwaltung ist in großem Umfang Aufgabe der Bundesminister, die Verwaltungsvorschriften für ihre jeweiligen Ressorts erlassen. Exekutivische Rechtssetzung ist nach Art. 80 Abs. 1 GG durch die Bundesregierung oder Bundesminister möglich, jedoch in Inhalt, Zweck und Ausmaß an ein ermächtigendes Gesetz gebunden. Sobald es um Eingriffe in Freiheit oder Eigentum der Bürger geht oder wesentliche Entscheidungen getroffen werden sollen (Wesentlichkeitstheorie), muss nach der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes eine parlamentarisch gebilligte Rechtsgrundlage vorliegen[56].

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Auch in der Weimarer Reichsverfassung gab es keine allgemeinen exekutivischen Kompetenzen des Reichspräsidenten; er war nur in Notsituationen, d.h. bei erheblicher Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zum Eingreifen ermächtigt[57].

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