Читать книгу kleine Ewigkeit - H. Loof - Страница 4

Prolog

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Es war ein wirklich heißer Sommertag. Die sengende Hitze trieb die meisten Menschen in ihre Häuser. Nur vereinzelnd waren Personen unterwegs. Arvin stand am Rande der Straße und wischte sich mit einem weißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Wieder einmal machte er sich Gedanken über die Vergangenheit. Damals hatte niemand mehr Stofftaschentücher. Es gab eigentlich ausschließlich Papiertaschentücher. Nur heute war Papier zu einem kostbaren Gut geworden und keiner würde es für so etwas Profanes wie ein Taschentuch verwenden.

„Herr Müller, sind sie soweit?“

Die Frage riss ihn aus seinen Überlegungen. Mit einem Kopfnicken bejahte er sie und machte sich daran, die Kutsche zu besteigen. Es erzeugte ein komisches Gefühl bei ihm, mit dem Nachnamen angesprochen zu werden. Nur selten wurden noch die vollen Namen verwendet. Zu wenige hatten den großen Krieg überlebt, als dass es sich noch lohnen würde. Mit ganzen Namen hieß er Arvin Bertram Müller. Das interessierte aber im Grunde keinen mehr.

Die Kutsche setzte sich ruckartig in Bewegung und der Kutscher lenkte sie auf die staubige Straße Richtung Enklave. Es war eine der wenigen Kutschen die von echten Pferden gezogen wurden. Die Tiere hatten die Verkleinerung nicht so gut überstanden und konnten sich einfach nur schlecht mit der neuen Größe arrangieren. Daher gab es nur wenige Tiere und es wurden auch nur wenige Neue geboren. Ratten waren die neuen Pferde in dieser Welt. Allerdings lebten sie nicht so lange und waren auch viel schwerer zu bändigen. Dafür vermehrten sie sich schnell. Vor ein paar Jahren gab es auch noch richtige Autos, die von einem Elektromotor betrieben wurden. In der Technik kannte sich aber niemand wirklich aus und die notwendigen Batterien konnten einfach nicht mehr hergestellt werden. So stand nun das letzte Auto in einer kleinen Halle und rostete vor sich hin.

Sie passierten die Stadttore und Arvin warf einen Blick zurück. Neu Braunschweig war immer noch eine schöne Stadt. Sie hatte den Krieg fast unbeschadet überstanden. Überhaupt hatte die Gegend wenig abbekommen, so dass die tödliche radioaktive Strahlung kaum erhöht war. Im Osten herrschte eine so hohe Strahlung, dass selbst ein Jungmensch daran starb. Berlin und die ganze Umgebung waren eines der Hauptziele in dem großen Krieg gewesen. Die anderen Himmelsrichtungen sahen wahrscheinlich ähnlich aus. Er wusste zwar nichts Konkretes, aber ihm war niemand bekannt, der jemals von weit her angereist war.

Nun saß er also hier in dieser Kutsche in einer Art postapokalyptischen Welt und war auf den Weg zu dem Lager, in dem die Kinder wohnten. Wobei, es handelte sich dabei nicht um kleine Kinder, sondern die Menschen die nach dem großen Krieg geboren wurden und dieser lag immerhin schon mehr als 40 Jahre zurück. Die Leute in Neu Braunschweig wollten mit ihnen am liebsten nichts zu tun haben. Sie waren anders. Fast alle hatten nicht die Gabe der ewigen Jugend und damit auch nicht die Krankheitsresistenz geerbt. Es schmerzte, wenn man mitansehen musste, wie seine eigenen Kinder älter und kränker wurden und langsam starben, während man selber bester Gesundheit war. So hat man schließlich vor gut 10 Jahren jeden, der nicht im Besitz der ewigen Jugend war, aus der Stadt entfernt und ihnen ein Lager gebaut. Auch in den umliegenden Städten wurde die Praxis übernommen. So musste sich die Bevölkerung nicht mit den unangenehmen Tatsachen beschäftigen.

Nur ein paar Leute hielten den Kontakt aufrecht. Arvin war einer von ihnen und war der Meinung, dass hier ein großer Fehler gemacht wurde. Jedes Mal, wenn er das Lager inspizierte, schlug ihm mehr Ablehnung und in letzter Zeit sogar Hass entgegen. Er konnte es den Bewohnern auch nicht wirklich verübeln. Sie waren Ausgestoßene. Verstoßen und vergessen von ihren Eltern. Wer würde da nicht wütend werden?

Die Menschheit hatte so viele Fehler begangen, aber nichts daraus gelernt. Vor dem großen Krieg, nachdem man endlich das Problem der Überbevölkerung und des Hungers erfolgreich beseitigt hatte, in dem die gesamte Menschheit und die großen Tiere auf ein Fünftel der ursprünglichen Größe geschrumpft wurden und dabei sogar das Altern besiegt hatte, sah es für eine kurze Zeit so aus, als ob jetzt alle in Frieden leben konnten. Aber das war ein gewaltiger Trugschluss. Arvin fragte sich manchmal, ob es nicht möglich gewesen wäre, die menschliche Natur gleich mit zu verändern. Aber das hatte man nicht und nun war die Menschheit wieder ziemlich am Anfang angelangt. Mit Sehnsucht dachte er daran zurück, wie einfach es gewesen war, auf Informationen zuzugreifen. Man musste einfach nur im Netz suchen. Es war alles elektronisch gespeichert und für jedermann leicht einzusehen. Nur war das auch das eigentliche Verhängnis gewesen. Der Krieg hatte nicht nur Städte und Menschen zerstört. Er hatte auch das Netz zerstört und ohne dieses Onlinewissen gab es keinen mehr, der die Technik reparieren oder in den Fabriken die Abläufe steuern konnte. Der Niedergang nach dem Krieg ging stetig voran und Arvin fragte sich, auf welcher Stufe sie wohl landen würden und ob es überhaupt wieder ein Zurück zur alten Größe der Menschheit gab.

Hätte man doch bloß noch echte Bücher aus Papier gehabt, dachte Arvin schwermütig.

Der Weg zu dem Lager war fast geschafft und Arvin konzentrierte sich wieder auf seine eigentliche Aufgabe. Er sollte das Lager inspizieren und dabei die Missstände aufschreiben. Nur würde es nichts helfen. Niemand aus der Stadtverwaltung würde auch nur den kleinen Finger rühren, um Abhilfe zu schaffen. Schon die ersten Häuser, an denen sie vorbeikamen, machten einen desolaten Eindruck. Das Lager bestand nur aus einer großen Anzahl schnell zusammengezimmerten Baracken. Es gab keinen Wall oder Zaun, um wenigstens etwas Schutz vor den wilden Tieren zu gewährleisten. Und leider existierten wirklich ein paar Tiere, die den Menschen gefährlich werden konnten, da bei der Verkleinerung nicht alle Tiere mitberücksichtigt wurden. Überhaupt war es eine Schande, wie die Menschen hier leben mussten. Nicht mal fließend Wasser gab es und natürlich auch keine sanitären Anlagen. Abgerissene, dreckige Gestalten beobachteten die Kutsche auf dem Weg zum großen Platz. Der Kutscher fuhr langsam und Arvin schaute sich intensiv um. Im Grunde hatte sich nichts geändert, seit seinem letzten Besuch und trotzdem hatte er das Gefühl, als ob es diesmal anders war. Er wusste nicht warum und konnte es einfach nicht an irgendetwas Speziellem festmachen. Ein mulmiges Gefühl breitete sich immer weiter in Arvin aus und es bildete sich ein großer Kloß im Hals.

Endlich hatte die Kutsche ihr Ziel erreicht und Arvin stieg aus. Er wurde schon von einigen Personen erwartet, die vor dem einzigen, etwas besseren Haus in diesem Lager standen. Arvin streckte sich noch mal und wischte sich wieder mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, bevor er auf die Gruppe zuging. In den Gesichtern konnte er Ablehnung und sogar unverhohlenen Hass lesen. Das mulmige Gefühl verstärkte sich und Arvin versuchte den immer größer werdenden Kloß herunterzuschlucken, was ihm nicht gelang.

„Seid gegrüßt. Ich bin gekommen, um nachzusehen, was ihr benötigt?“, begrüßte er die Menschen.

„Warum? Ihr helft uns doch sowieso nicht. Warum kommst Du überhaupt noch hierher?“, kam die Gegenfrage aus der Gruppe.

„Auch bei uns wird es immer schwieriger. Wir tun was wir können.“, versuchte Arvin den Frager zu beschwichtigen.

Dabei wusste er, dass es eine Lüge war. Aber was sollte er den armen Menschen sonst sagen? Er konnte ihnen doch nicht erzählen, dass in Neu Braunschweig genug leere Häuser standen, um fast alle aus diesem Lager aufzunehmen. Nur wollte das niemand. Keiner wollte alte oder kranke Menschen um sich herumhaben. Man wollte einfach nicht an diese unangenehmen Dinge erinnert werden und lieber unter sich bleiben. Es gab sogar Stimmen, die vorschlugen das Lager zu zerstören und die Nicht-Jungmenschen fortzujagen, damit sie auch nicht in der Nähe von Neu Braunschweig verweilten.

„Ihr tut was ihr könnt? Ihr sitzt gemütlich hinter eurer großen Mauer und wir interessieren Euch einen Scheißdreck.“, rief eine verhältnismäßig junge Frau.

Zustimmendes Gemurmel, kam aus der Gruppe und die Stimmung wurde noch feindseliger.

„So ist das nicht. Auch wir haben unsere Probleme.“, versuchte Arvin weiter zu beschwichtigen.

„Eure Probleme! Ihr wisst doch gar nicht was Probleme sind! Heute sind 5 Menschen gestorben. Zwei von wilden Tieren zerrissen und drei, weil wir in diesem Dreck einfach krank werden.“

Es war ein großer Mann, den Arvin nicht kannte, der jetzt direkt vor ihm stand und ihn böse anschaute. Arvin kannte so gut wie alle Menschen im Lager und ein Mann der alle anderen überragte, hätte er in den Jahren nie übersehen können. Er musste von Außerhalb kommen. Als Arvin jetzt die Gruppe intensiver musterte, konnte er nur ein bekanntes Gesicht sehen. Die Erkenntnis traf Arvin hart. Er hätte nie gedacht, dass die Lagerbewohner Kontakt zu anderen, außer ihm hätten.

„Ich versuche Euch zu helfen! Nennt mir Eure Sorgen und Probleme und ich verspreche Euch, ich werde sie dem Rat vortragen!“, als Arvin das sagte, blickte er starr auf den Hünen und machte einen Schritt rückwärts.

Der Mann verzog sein Gesicht zu einem höhnischen Grinsen.

„Das glaube ich Dir sogar. Du gehst zurück zu Deinen Leuten und dann erzählst Du ihnen von uns. Und was passiert dann? Interessiert sie das überhaupt oder machen sie sogar ein paar Witze über die Untermenschen im Lager?“

Das Gesicht von dem Riesen verfärbte sich langsam rot vor Wut.

„So ist das nicht!“, stammelte Arvin und machte noch einen Schritt rückwärts.

Die Situation lief langsam aus dem Ruder und Arvin wollte nur noch schnell in die Kutsche steigen und zurück in die Stadt fahren.

„Ach wirklich? Es ist doch überall das Gleiche. Auch in Wolfengart hatten sie uns einfach wie Dreck behandelt. Das haben sie inzwischen bereut. Und hier? Hier ist es genauso!“

„Ihr stammt aus Wolfengart? Was habt ihr gemacht?“, fragte Arvin nun schon ängstlich nach.

„Wir haben uns das genommen, was uns zusteht und genau das Gleiche werden wir auch hier machen.“, während der Riese das sagte, zog er ein langes Messer aus dem Gürtel.

Arvin starrte wie hypnotisiert auf das Messer in der Hand seines Gegenübers.

„Das könnt ihr nicht machen. Wir sind doch alle Menschen!“, versuchte Arvin noch einmal die Leute zu beruhigen.

Plötzlich spürte er einen grausamen Schmerz im Bauch. Er schaute runter. In seinem Bauch steckte das Messer. Immer noch gehalten von der Pranke des Riesen. Als er wieder aufschaute und in die Augen seines Gegenübers blickte, konnte er nur abgrundtiefen Hass darin erblicken.

„Wir werden jetzt nach Neu Braunschweig ziehen und alle Jungmenschen töten.“, dabei drehte er das Messer etwas, so dass eine erneute Schmerzwelle durch Arvins Körper wogte.

„Und Du kannst mir eins glauben. Dein Tod hier ist nichts im Vergleich dazu, was wir den Einwohnern der Stadt antun werden.“

Das Messer wurde wieder herausgezogen und Arvin sackte zu Boden und blieb einfach liegen. Er hatte nicht mehr die Kraft sich zu bewegen. Das Blut lief aus der Wunde auf die staubige Straße und sickerte langsam in den Boden. Nur am Rande bekam er noch mit, wie der Kutscher um sein Leben bettelte, bevor er erschlagen wurde.

***

Der Schmerz pochte dumpf durch seinen Körper. Mit Mühe öffnete Arvin ein Auge und musste feststellen, dass tiefe Nacht herrschte. Er lag immer noch an der gleichen Stelle im Dreck. Langsam bewegte er das rechte Bein und sofort überflutete ihn eine starke Schmerzwelle. Zwei Minuten blieb er reglos liegen, bevor er wieder Anstalten machte sich zu bewegen. Diesmal war er auf den Schmerz vorbereitet und schaffte es sogar sich aufzusetzen. Schwer atmend saß er da und begutachtete seine Wunde im Bauch, trotzdem er kaum etwas sehen konnte in der Finsternis. Zumindest stellte er fest, dass die Wunde kaum noch blutete, was wirklich verwunderlich war. Mühsam schleppte sich Arvin zu der Kutsche.

Irgendwie seltsam. Warum haben sie die Kutsche nicht mitgenommen, schoss es ihm durch den Kopf.

Als er es endlich geschafft hatte, bei der Kutsche anzukommen, kletterte er unter größten Anstrengungen darauf. Er schaute noch mal zu dem Leichnam des Kutschers, dessen Name ihm einfach nicht einfallen wollte. Es sah beinahe so aus, als ob der halbe Kopf fehlte. In diesem Moment war Arvin froh, dass die Dunkelheit die grausamen Einzelheiten verbarg. Am Horizont erweckte ein flackernder Lichtschein seine Aufmerksamkeit. Dort lag Neu Braunschweig. In Gedanken fragte er sich, wie viele Bewohner wohl dem wütenden Mob entkommen waren und ob die Stadt jetzt gerade abbrannte. Die Einwohner hatten nicht die geringste Chance gehabt, das war Arvin bewusst. Kaum einer der Jungmenschen hatte eine Waffe und noch weniger konnten damit umgehen.

Wir sind einfach zu träge und dabei auch noch zu selbstgefällig geworden, dachte Arvin bitter.

Eine ganze Weile saß er auf dem Kutschbock, schaute in Richtung Neu Braunschweig und überlegte verzweifelt was er nun tun sollte. Zur Stadt konnte er nicht zurück und scheinbar hatte das gleiche Schicksal auch schon andere Städte ereilt. Er musste einen Platz finden, an dem er seine Verletzung auskurieren konnte. Gab es noch eine Stadt zu der er hinkonnte? Würde er es überhaupt mit seiner Verletzung zu einer entfernten Stadt schaffen?

Er löste die Bremse der Kutsche und gab den noch vorgespannten Pferden zu verstehen, sich in Bewegung zu setzen. Als er sich auf der schlecht ausgebauten Straße langsam von Neu Braunschweig entfernte, hatte er immer noch kein Ziel vor Augen.

Wir sind selbst schuld! Warum können wir nicht einfach nur friedlich miteinander leben?

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