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Die frühen Jahre
ОглавлениеEine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist mein Gefühl der Entthronung mit zweieinhalb Jahren durch die Geburt meiner Schwester. Meine Eltern hatten mich nicht gerade ideal darauf vorbereitet. Plötzlich war ich nicht mehr der Einzige – was damals ein einschneidendes Erlebnis für mich war. Ab diesem Zeitpunkt wurde ich schwierig, wollte Aufmerksamkeit, tat die unmöglichsten Dinge, um mich bemerkbar zu machen und hielt die Stille, die später eine elementare Kraftquelle für mich wurde, zu Hause nicht aus. Ich war ein neugieriges, lebhaftes Kind mit einem starken Willen – aber sicher kein einfaches Kind. Trotzdem hatte ich immer ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Schwester und wir mögen uns sehr. Mit ungefähr sechs Jahren entdeckte ich die Musik für mich. Ich begann Klavier zu spielen und sah an der Reaktion meiner Eltern, dass sie Freude daran hatten, dass ich etwas »Sinnvolles« tat. Ich merkte, dass Musik ein gutes Ventil war, um die Zustimmung, Anerkennung und Liebe zu bekommen, die ich dringend gebraucht hatte. Mein Vater war selten zu Hause, was auch für meine Mutter nicht leicht war; ich musste funktionieren, irgendwie alleine zurechtkommen. Wenn mein Vater zu Hause war, empfanden wir das wie ein Fest. Ich erinnere mich gut daran, wie schwer es für mich und natürlich auch für meine Schwester war, wenn er wieder wegfuhr. Ich glaube, von ganz klein auf habe ich immer meinen Vater gesucht. Ziemlich sicher war das der erste Impuls für meine intensive Beschäftigung mit Musik. Wenn ich ihn in den Ferien besuchte, sah ich, wie er mit Orchestern arbeitete, Opern und Konzerte dirigierte. Als ich noch kleiner war, gingen wir in Zürich am Sonntag in die Kantine des alten Opernhauses, wo mein Vater Kollegen von früher traf. Er war in den Sechzigerjahren dort Kapellmeister gewesen. Ich kann mich gut daran erinnern, wie er mir den Orchestergraben zeigte und die Bühne, was mich natürlich faszinierte. Meine Mutter war Tänzerin an diesem Opernhaus gewesen und meine Eltern hatten sich dort auch kennengelernt. Manchmal ging auch sie mit mir ehemalige Kolleginnen oder Maskenbildnerinnen besuchen. Die ganze Theaterwelt mit Perücken, Masken und Kostümen fand ich faszinierend. Auch ins Balletttraining, das sie bis zum heutigen Tag macht, nahm sie mich oft mit. Ich saß dann neben der Pianistin und durfte ihr umblättern.
Die erste Oper, die ich mich erinnere gesehen zu haben, war die Zauberflöte unter der Leitung meines Vaters bei einer Generalprobe in Lausanne. Mit sieben oder acht Jahren beeindruckte mich das unglaublich: die Musik, die Dialoge, die Handlung, einfach alles. Ich spürte plötzlich, was Oper mit mir anzustellen in der Lage ist. Ich war so beeindruckt, dass ich spontan zu Hause die ganze Bühne aus Papier nachbaute.
Als mein Vater Chefdirigent in Basel war, nahm er mich dort zu einer Generalprobe von Der fliegende Holländer mit. Er brachte mich auf den obersten Rang, damit ich alles gut sehen konnte und niemanden störte. Als der Vorhang aufging, sah ich ein riesiges Schiff und einen großen Chor, was mich zunächst beeindruckte. Aber danach verstand ich die Handlung nicht und begann mich zu langweilen, denn mein Vater hatte mir zuvor nicht erzählt, worum es in dieser Oper geht. Ein großer Fehler, denn ich begann während der fast zweieinhalb Stunden im Foyer herumzulaufen, irgendwann landete ich auf der Bühne und in der letzten halben Stunde im Orchestergraben. Dort sah ich meinen Vater dirigieren, der mich kurz sehr erstaunt anschaute. Meine erste Wagner-Erfahrung war also nicht sehr erhellend, aber zumindest wusste ich von da an genau, wie ein Opernhaus von innen aussieht.
Mit neun Jahren fand ich dann zu Hause die Partitur und die Schallplatte von Das Rheingold, und da ich den Titel faszinierend fand, wurde ich neugierig. Es gab auch ein Buch mit Bildern von Ul de Rico, jenem Künstler, der die Illustrationen zum Film Die unendliche Geschichte gemacht hat, in dem er die Geschichte vom Ring des Nibelungen mit Fantasy-Bildern nacherzählte. Das animierte mich, mir Rheingold anzuhören, und ich war begeistert. Mein Vater nahm in dieser Zeit die Musik zum berühmten Parsifal-Film von Hans-Jürgen Syberberg auf, worauf er sehr stolz war. Er spielte in diesem Film auch die Rolle des Amfortas, und es beeindruckte mich, ihn im Kino zu sehen. Da ich die Playbacktechnik noch nicht kannte, war ich sehr überrascht, meinen Vater singen zu hören. Die Handlung von Parsifal verstand ich natürlich nicht und langweilte mich dementsprechend, vor allem, weil immer, wenn Freunde zu uns kamen, die Szenen meines Vaters vorgespielt wurden und ich sie immer wieder anschauen musste. Bald dachte ich: »Ich hasse Parsifal.«
Mit elf Jahren war ich zum ersten Mal in Amerika. Mein Vater dirigierte in Seattle die Walküre. Dieser dreiwöchige Aufenthalt war unser Sommerurlaub. Autobahnen, Hochhäuser, McDonald’s – all das war für mich ungewohnt, aber die Proben zu Walküre schlugen bei mir augenblicklich ein.
Den Beruf meines Vaters empfand ich als sehr spielerisch, schön und natürlich. Er hatte eine sehr gute Art, mit dem Orchester zu arbeiten, und gestaltete die Proben mit Humor und Intelligenz. Man merkte, dass er gern mit anderen Musik machte. Heute weiß ich, dass er mit seiner eher antiautoritären Art seiner Zeit weit voraus war.
In der Schule war ich nur »das Kind ohne Vater«. Die Schulkollegen wussten nichts von seiner Berühmtheit, denn als Chef des Orchestre de la Suisse Romande in Genf war er ja in der französischen Schweiz und die wurde in Zürich nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Später wurde mir klar, dass die Lehrer oder mein Chorleiter natürlich sehr wohl wussten, wer er war.
Mein Vater war ein Lebemann mit allem, was dazugehört. Er lebte sein Leben und ließ es sich gut gehen. Doch bei der Arbeit war er sehr ernsthaft und diszipliniert. Mein Vater war eine typische »Schweizer Mischung«: Er erzählte mir, dass der Name Jordan angeblich mit den Kreuzzügen zu tun gehabt habe. Die Familie wanderte dann im Zuge der Gegenreformation in Spanien als Hugenotten, also als französische Protestanten, ins damals deutschsprachige Elsass aus. Bald darauf wurde Basel die neue Heimat. Mein Vater wurde in Luzern geboren und war somit Deutschschweizer, ebenso wie sein Vater. Meine Großmutter hingegen ist Französischschweizerin, in Fribourg geboren, wo mein Vater auch studierte. Deswegen verkörperte er beide Seiten: das Deutschschweizerische, Pragmatische, Rationale, aber vor allem auch das Westschweizerische, Französische und Entspannte. Da er auch beruflich viel Zeit in Lausanne, Genf und Frankreich zubrachte, war er eher frankophil, deshalb sind auch die Vornamen von meiner Schwester Pascale und mir französisch.
Während meiner Schulzeit entwickelte ich dann neben der Musik auch einen starken Bezug zur Literatur. Mein Schulweg zum Gymnasium führte am Schauspielhaus vorbei und die Fotos in den Schaukästen machten mich neugierig. Theater war etwas, das ich von zu Hause her kaum kannte: Es gibt zwar eine Bühne, auf der wie in der Oper Geschichten erzählt werden, aber es wird nicht gesungen. Das war neu für mich. Damals war eine gute Zeit des Zürcher Schauspielhauses. Achim Benning kam damals von Wien nach Zürich und brachte viele hervorragende Schauspieler mit. Die Klassiker, die wir in der Schule lasen, schaute ich mir dann mit meinen Schulkollegen im Schauspielhaus an. Vor allem liebte ich Tschechow. Ich war als Jugendlicher eher melancholisch, daher berührten mich die Figuren von Tschechow in ihrer Vielschichtigkeit. Heute gehe ich aus Zeitgründen viel zu wenig ins Theater bzw. meistens nur, um die Arbeit eines bestimmten Regisseurs zu sehen, der für ein Opernprojekt in Frage kommt. Auch tue ich mich schwer mit Inszenierungen, bei denen ich das Stück nicht mehr wiedererkenne. In der Oper bin ich das ja mittlerweile gewohnt, schließlich habe ich ja schon viele Versionen von den meisten Opern gesehen. Aber im Schauspiel werde ich Shakespeares Sommernachtstraum vielleicht nur zweimal in meinem Leben sehen und da würde ich es lieber doch so sehen, wie es vom Autor gedacht war. Trotzdem hatte ich später sowohl in Paris als auch in Wien wunderbare Theaterabende.
Ich mochte bereits als Kind und Jugendlicher ausschließlich klassische Musik, aber meine Schwester liebte auch das Musical. Ihr Initiationserlebnis war Evita in Zürich, als die Broadway-Kompanie im Opernhaus gastierte und sie im Kinderchor mitsang. Da wir zu Hause Englisch sprachen, konnte sie sich mit den New Yorker Sängern und Tänzern gut unterhalten. Dass übrigens unsere Mutter mit uns Englisch sprach, kommt von ihrer Familiengeschichte. Sie wurde ursprünglich in Aussig an der Elbe geboren, heute heißt diese Stadt Ústí nad Labem. Sie war also Sudetendeutsche und ihre Familie musste am Ende des Krieges das Land verlassen. Sie kamen als Flüchtlinge nach Wien, wo sie in der Vorderbrühl bei Mödling untergebracht wurden. Obwohl sie buchstäblich nichts hatten, erlebte meine Mutter dort wahrscheinlich ihre glücklichsten Kindheitsjahre. Angesichts der Flüchtlingssituation heute erinnerte sie uns immer daran: »Auch wir waren Flüchtlinge.«
Ihr Vater, Friedrich Herkner, hatte an der Kunstakademie in Wien Bildhauerei studiert und kam im Rahmen eines Austauschprogramms zwischen Österreich, Nazideutschland und Irland 1938 als Professor für Bildhauerei an das College of Art in Dublin. Dann wurde er eingezogen und kämpfte im Russlandfeldzug. Es gibt viele in Russland gemalte Bilder von ihm. Da es nach dem Krieg keine Arbeit gab, kehrte er, wie mir meine Mutter erzählte, als Professor nach Dublin zurück. Bald darauf wanderte die ganze Familie nach Irland aus und nahm die irische Staatsbürgerschaft an. Meine Mutter ging in Irland in die Schule, verbrachte dort ihre späteren Kindheitsund Jugendjahre und studierte Tanz. Deswegen habe auch ich einen irischen Pass und meine Mutter sprach mit uns zu Hause immer Englisch, denn sie wollte, dass wir Kinder zweisprachig aufwachsen. Meine Eltern sprachen Hochdeutsch miteinander; niemand von uns sprach Schweizerdeutsch.
Von meiner Mutter habe ich auch ganz sicher die Disziplin. Da mein Vater kaum da war, musste sie alles alleine schaffen. Er hatte damals noch nicht die großen Gagen, man musste also auch sehen, wie man zurechtkam.
Dass ich mit sechs Jahren begann Klavier zu spielen, war eine Idee meiner Mutter. Sie drang darauf, dass ich Unterricht nahm, und sie förderte auch mein Violinspiel, als ich da meiner Schwester nacheifern wollte. Das Klavier war mir wichtig, aber ich war manchmal auch etwas faul. Gott sei Dank hörte mir meine Mutter beim Üben nur aus der Ferne zu und drängte mich nie. Zum Unterschied von meinen Kameraden musste ich damals nur zehn Minuten täglich üben.
Auf der Geige war ich begabt und bekam einen sehr guten Lehrer, den ehemaligen Konzertmeister der Zürcher Oper und des Tonhalle-Orchesters, Elemér Glanz. Ich nahm acht Jahre Geigenunterricht, erreichte in technischer Hinsicht aber nie die erforderliche Präzision. In meinem letzten Studienjahr wechselte ich zur Bratsche. Aber all diese Erfahrungen nützen mir heute natürlich bei der Orchesterarbeit.
Obwohl ich mit meiner Schwester viel gemeinsam musizierte, war sie eher dem Tanz als der Musik zugewandt. Später widmete sie sich intensiv dem Schauspiel und leitet heute sehr erfolgreich ein Kindertheater, zumal ihr die Weitergabe der Kunst an junge Menschen sehr wichtig ist.
Ab dem Alter von acht war ich sechs Jahre lang bei den Zürcher Sängerknaben, wo der Chorleiter Alphons von Aarburg großartige Arbeit leistete. Auch diese wunderbare Idee geht auf meine Mutter zurück. Eines Nachmittags brachte sie mich nach der Schule zu einer Probe, man setzte mich zum Sopran und wir erarbeiteten die Krönungsmesse von Mozart. Sofort machte es mir große Freude, mit anderen gemeinsam Musik zu machen, und ab nun hatte ich auch nicht mehr das Gefühl, allein zu sein: Jede Woche gab es mehrere Proben, vor den Konzerten auch Abendproben. Gerne erinnere ich mich an die Singlager in den Schweizer Bergen mit Stimmbildung, Filmabenden, Fußball- und Pingpongspielen und täglichen Proben. Vieles, was ich dort lernte, kann ich heute gut brauchen, vor allem aber, dass man beim Miteinander-Musizieren viel Freude haben kann, was so wichtig ist, und ebenso die Grundvoraussetzungen des Chorsingens: das gemeinsame Denken, das miteinander zu singen und zu atmen, das Intonieren und den gemeinsamen Ausdruck. Auch die Bandbreite des Repertoires war weit gefasst. In Kirchen sangen wir Musik von Palestrina und Bach bis hin zu Britten – immer wieder auch mit Orchester. Mein erstes Erlebnis in der Tonhalle Zürich war das »Bim-Bam« des Knabenchores in der Dritten Mahler. Mit diesem »Bim-Bam« begann meine Liebe zur Musik Gustav Mahlers. Dirigent war der junge Christoph Eschenbach in seinem ersten großen Chefposten. Dort zu singen, wo ich meinen Vater hatte proben sehen, war etwas ganz Besonderes. Natürlich überforderten mich die ersten drei Sätze der Mahler-Symphonie etwas, aber der letzte Satz überwältigte mich schon damals. Wir sangen auch Brittens War Requiem und Schumanns Faust-Szenen. Später durfte ich auch solo singen und ich trainierte meine Stimme. Mein Vater fand das wunderbar – ich glaube, er war sogar stolz auf mich.
Stark in Erinnerung geblieben sind mir auch die Erlebnisse mit Nikolaus Harnoncourt und Jean-Pierre Ponnelle im Rahmen der Zauberflöte im Zürcher Opernhaus. Claus Helmut Drese war damals Intendant und offenbar hatte er einmal eine schlechte Erfahrung mit den Zürcher Sängerknaben gemacht und wollte daher für die Drei Knaben die Tölzer Sängerknaben engagieren. Viele Interventionen brachten ihn dann doch dazu, eine Arbeitsprobe mit Harnoncourt und den Zürchern zu organisieren. Ich war nicht dabei, aber es muss eine Katastrophe gewesen sein. Trotzdem einigte man sich schließlich darauf, dass die Tölzer die Premiere und die erste Serie singen sollten und wir die Wiederaufnahmen. Ich erinnere mich auch an eine Abendprobe in der Oper, bei der unglaublich dicke Luft war und bei der Ponnelle ständig herumschrie. Wir mussten funktionieren und es war knallhart, sonst war man draußen. Damals lernte ich, dass Qualität mit Arbeit verbunden ist, und dass manchmal auch harte Entscheidungen getroffen werden müssen, um die Qualität einer Aufführung nicht zu gefährden. Als ich in Paris 2014 die Zauberflöte dirigierte, sollte der Kinderchor der Pariser Oper zum Einsatz kommen. Das war jedoch leider aus Qualitätsgründen unmöglich, und ich musste auf den süddeutschen Aurelius Sängerknaben bestehen. Natürlich konnte ich die Enttäuschung des Pariser Kinderchors aus meiner eigenen Erfahrung gut nachvollziehen, aber letztlich sind die Dirigenten für die Qualität einer Aufführung verantwortlich.
In Ponnelles Zauberflöte-Inszenierung durfte ich dann in späteren Vorstellungen den Ersten Knaben singen. Als ich viele Jahre später Harnoncourt wieder traf, erinnerte er sich noch daran. In der Zürcher Oper aufzutreten, war für mich als Kind natürlich etwas ganz Besonderes, und dann plötzlich auf dieser großen Bühne zu stehen, ein ganz merkwürdiges Gefühl, denn sämtliche Proben fanden ausschließlich auf der Probebühne statt. Man wurde dann einfach in ein Kostüm gesteckt und auf die Bühne geschickt. Ich wusste zwar, was ich zu tun und zu singen hatte, trotzdem war es schwindelerregend. Adrenalin schoss durch den Körper und plötzlich stand ich draußen. Auch an das ungewohnte Gefühl, das Publikum nicht zu sehen, erinnere ich mich noch. Davor hatte ich in Kirchen oder in Vortragssälen gesungen, wo man die Menschen sieht, aber an der Oper schaute ich plötzlich in ein schwarzes Loch und musste aufpassen, wenn ich mich auf der Bühne bewegte, nicht in den Graben zu fallen. Alles wahnsinnig aufregend! Ich glaube, es ging ganz gut, denn ich durfte mehrere Vorstellungen singen. Meine Mutter kannte den Tonmeister der Zürcher Oper, der ein ehemaliger Tänzer war. Er machte für sie von einer Vorstellung einen Mitschnitt. Jahre später hörte ich mir das dann auch an und bin zwar nicht unbedingt stolz darauf, aber immerhin: Mozart gut intoniert zu singen, ist bekanntlich wirklich nicht so einfach.
Mit dem Chor auf Reisen zu gehen, genoss ich ebenfalls sehr. Wir sangen in Italien, Österreich und Ungarn – damals noch zur Zeit des Eisernen Vorhangs. Da es ein Austauschprogramm mit dem Kinderchor der Budapester Kodály-Schule gab, wohnte ich bei der Familie des dortigen Konzertmeisters. Das waren aufregende und schöne Zeiten.
Dass man beim Musizieren aufeinander hören muss, lernte ich aber nicht nur im Rahmen des Chorsingens, sondern auch später in noch intensiverer Form im Gymnasium bei der Kammermusik. Mein Vater nahm mir damals das Versprechen ab, nie mit dem Klavierspielen aufzuhören. Heute ist es mir manchmal zu viel, aber als ich mit den Wiener Symphonikern Kammermusik spielte oder zum Beispiel Renée Fleming bei einem Rezital begleitete, merkte ich in den zwei Monaten davor, wenn ich wieder zu üben begann, wie wichtig es ist, sein eigenes Instrument weiter zu beherrschen und auch damit auf die Bühne zu gehen und die Nerven zu bewahren. Es ist einfach schön, selbst ein Instrument zu spielen! Es ist schön, für seine eigenen Töne verantwortlich zu sein und auch einmal nicht von anderen abhängig zu sein. Das, was ich mir vorstelle, direkt mit meinen eigenen Händen zum Klingen zu bringen, ist etwas ganz Besonderes für mich. Durch das Dirigieren habe ich jetzt auch wieder mehr Spaß am Üben gefunden. In Zeiten, in denen ich sechs Stunden am Tag üben musste, war es manchmal nur ein mechanischer Vorgang. Wie oft habe ich dabei auch an andere Sachen gedacht! Als ich in Wien anfing, mit den Symphonikern Kammermusik zu machen, musste ich beim Üben einen effizienteren Weg finden, da ich keine Zeit hatte, immer das ganze Werk durchzuspielen. Ich musste mich auf jene Passagen konzentrieren, die ich nicht perfekt konnte. Wie bei der Arbeit mit dem Orchester darf man sich nicht verzetteln. Man muss gezielt die Stellen proben, wo es wehtut. Für mein Klavierspiel ist dieses Wissen jetzt sehr hilfreich. Ich denke, auch als Kind wäre ein effizienteres Üben von Vorteil und vor allem auch zeitsparend gewesen – das müsste mehr gelehrt werden!
Von meinem Vater lernte ich die erste Musiktheorie. Er erklärte mir jeden Tag zehn Minuten unter anderem die Intervalle oder den Quintenzirkel. Er war von meinem absoluten Gehör fasziniert und manchmal übte er auch mit mir Klavier. In dieser Zeit begann ich meinen Vater wiederzufinden.
In der Schule nahm ich immer wieder an musikalischen Wettbewerben teil und es war mir ein Rätsel, warum ich nie unter den Gewinnern war. Die Erklärung meines Geigenlehrers war, dass ich zwar einen unglaublichen Ausdrucks- und Interpretationswillen hatte, aber in technischer Hinsicht noch dahinter zurückblieb. Ebenfalls zu denken gab mir eine Lehrerin, die auf mich aufmerksam wurde, als ich bei einem Jugendmusikwettbewerb eine Kollegin am Cello begleitete. Sie fasste mich wirklich hart an, aber nahm mich ernst, obwohl ich ja nur der Begleiter war. Ich musste anfangen zu lernen, dass musikalischer Ausdruck nur mit einer wirklich soliden Technik realisiert werden kann.
In der Schule gab es einen sehr guten Klavierlehrer: Boris Mersson. Er war in der Nachkriegszeit in der Schweiz eine wichtige Koryphäe der Musik: ein sehr guter Pianist, Komponist, Dirigent, Jazzmusiker und Kammermusiker. Er hatte sein eigenes Trio und war überhaupt ein Mann mit großer musikalischer Bandbreite. Ohne Frage war die Begegnung mit ihm einer der wichtigsten Bausteine meiner musikalischen Entwicklung. Er hatte eine Pianisten-Klasse am Gymnasium, in die ich aufgenommen wurde. Dort arbeitete er sehr systematisch mit uns. Ich lernte durch ihn, was es heißt, sechs Stunden am Tag zu üben. Da ich damals schon daran dachte, Dirigent zu werden, war er sicher der beste Lehrer für mich. Er war gleichermaßen ausgebildeter Komponist, Pianist, aber auch Dirigent. Die Dirigentenlaufbahn kam für ihn nicht wirklich in Frage, obwohl er Meisterkurse bei Herbert von Karajan und Hermann Scherchen besucht hatte. Für ihn bedeutete Dirigieren nicht viel mehr als »Führen«.
Aber dadurch hatte er eine musikalische Weitsicht, die mir ein »normaler« Klavierlehrer wohl nie hätte vermitteln können. Bei ihm lernte ich auch die musikalischen Standards und Klaviertechniken, lernte Disziplin und Aufmerksamkeit und natürlich das ganze Repertoire von Bach bis Bartók. Viel wurde auch über Musik gesprochen, wofür ich speziell auch dann dankbar war, wenn ich wieder einmal nicht genug geübt hatte. Ein wichtiges Element seines Unterrichts war Bachs Wohltemperiertes Klavier. Er wollte immer, dass ich die Bach-Busoni-Ausgabe spiele, die heutzutage eher verpönt ist, aber – durch Busonis Analysen – pianistisch und musikalisch gesehen ein großes Wissen über Musikgeschichte vermittelt, denn hier schwingen auch Beethoven, Brahms und das spätromantische Erbe mit. Er fand es interessant, sich der musikgeschichtlichen Tradition bewusst zu werden. Der Urtext einer Komposition ist wichtig, aber es gibt auch ein Danach. Zum Beispiel erhebt sich bei Boris Godunow die Frage, warum heutzutage fast immer nur die Urfassung gespielt wird und nicht wieder einmal die Version von Rimski-Korsakow. Natürlich hat sie mit dem ursprünglichem Mussorgski wenig zu tun, aber sie ist lebendige Musikgeschichte. Diese Fassung hat Generationen von Menschen Boris Godunov und Mussorgski nahegebracht, ist großartig instrumentiert und stammt nicht von irgendeinem Musikwissenschaftler, sondern ebenfalls von einem großen Komponisten.
Bei Boris Mersson blieb ich bis zu meinem Klavierdiplom. Später nahm ich dann bei Karl Engel Unterricht, aber das war leider nur eine sehr kurze Begegnung, weil ich bereits ein halbes Jahr später meine erste Stelle in Ulm antrat.
In der dritten Klasse des Gymnasiums arbeitete ich während der Sommerferien im Rahmen eines dreiwöchigen Musiklagers mit Jugendlichen aus aller Welt an Kammermusikstücken, für die ich ein halbes Jahr geübt hatte. Jeden Abend gab es ein »Hauskonzert«. So lernte man auch, vor den viel Besseren zu spielen. Ich wusste, dass ich jeden Tag besser wurde, aber in dieser Zeit war ich mir schon sehr sicher, dass ich dirigieren wollte. Mein Vater sagte jedoch, dass man erst einmal gut Klavier spielen müsse, um Dirigent zu werden. Damals gab es auch einen großen Kampf zwischen meinen Eltern und mir, weil ich zu dieser Zeit die Schule abbrechen wollte, um mich ganz auf die Musik zu konzentrieren. In dieser Situation erwies sich die Leitung des Gymnasiums als sehr konziliant und gewährte mir einen Hospitantenstatus. Das hieß konkret, ich könnte die Schule weiter besuchen, müsste aber nur einen Teil der Fächer belegen. In der übrigen Zeit könnte ich auf der Musiketage üben. Ich traf mit meinen Eltern eine Abmachung: Sollte ich in einem Jahr keine wesentlichen Fortschritte machen, würde ich die Schule wieder voll aufnehmen. Im selben Jahr trat ich auch als Jungstudent ins Konservatorium ein und bereitete mich auf ein Klavierlehrerdiplom vor, das ich dann – zu meiner eigenen Überraschung – sogar mit Auszeichnung bestand. Ich war zwar durch Krisen und Selbstzweifel gegangen – aber ich schaffte es! Dieses Diplom gab mir die Sicherheit eines Berufes und auch das beruhte auf einer Vereinbarung mit meinen Eltern, denn wer garantierte denn, dass ich als Dirigent erfolgreich sein würde? Als schriftliche Arbeiten schrieb ich in der Musiktheorie über die Beethoven-Streichquartette und in der Pädagogik über »Zen in der Kunst des Musizierens«. Inspiration hierfür war das Buch »Zen in der Kunst des Bogenschießens« und ich dachte mir, dass man diese Philosophie auch aufs Musizieren übertragen könnte. Mit sechzehn Jahren hatten mich spirituelle Dinge vermehrt zu interessieren begonnen. Meine Mutter entwickelte zusehends ihre Begabung als Medium, das heißt, sie hatte beispielsweise beim Zeichnen die Fähigkeit, sich von spirituellen Kräften als Channel führen zu lassen. Sie sagte dann: ES zeichnet. Das war sehr spannend für mich. Ich probierte damals mit Kollegen auch verschiedene Meditationstechniken aus und in dieser Zeit bekam ich eben auch das Buch »Zen in der Kunst des Bogenschießens« geschenkt. Zunächst dachte ich: »Was habe ich mit Bogenschießen zu tun?« Aber es geht ja in diesem Werk nicht allein ums Bogenschießen. Es geht vor allen Dingen um Geistesschulung, um die Praxis des Zen und auch um das ES. Darüber machte ich mir meine jugendlichen Gedanken, die ich in diese schriftliche Arbeit einfließen ließ. Es war meine erste Beschäftigung mit dem Spirituellen, das mich heute noch begleitet, sei es im Rahmen von Meditation oder Yoga. Vieles davon finde ich heute auch in der Stille der Natur.
Meine Familie ist ursprünglich katholisch, aber die Religion wurde nicht praktiziert. Als Jugendlicher ging ich allein in die Kirche, nicht nur aus religiösen Motiven, sondern weil ich mich als Teil des kulturellen westeuropäischen Erbes fühlte, und dazu gehört auch die katholische Bildung. Mit diesen religiösen Inhalten habe ich mittlerweile gebrochen, aber für meine Entwicklung war das eine wichtige Zeit. Ich bin nicht religiös, aber spirituell, denn ich glaube, dass es etwas gibt, das mehr ist als das, was wir wissen – Musik ist das beste Beispiel dafür! Aber ich denke, dass Religion nicht die Antwort ist.
Noch während des Konservatoriums durfte ich bei meinem Vater bei den Festspielen in Aix-en-Provence Don Giovanni korrepetieren. Er hatte mir damals verschiedene Wege aufgezeigt, wie man Dirigieren erlernen kann, und gemeint, es sei heute zwar die Regel, ein Dirigierstudium zu machen, aber er empfehle es mir nicht. Er selbst war ja auch den klassischen Kapellmeisterweg gegangen, arbeitete als Korrepetitor mit Sängern und sprang, wenn sich die Gelegenheit ergab, als Dirigent ein. Er meinte, Dirigieren sei ein praktischer Beruf. Ein Geiger hat seine Geige, ein Pianist sein Klavier, aber ein Dirigent bekommt während des Studiums nur jedes halbe Jahr ein Orchester zur Verfügung gestellt und dirigiert mehrere Jahre immer nur zwei Pianisten oder ein Streichquartett. Er empfahl mir den Weg über die Praxis. Es fiel mir nicht schwer, ihm zu glauben, weil ich die Oper damals ohnehin mehr liebte als Konzerte. Er meinte, wenn ich sechs Wochen lang in allen möglichen Don Giovanni-Proben, also in Stellproben, technischen Proben, Statistenproben gespielt hätte und danach die Musik immer noch lieben würde, dann wäre ich vielleicht in diesem Beruf am richtigen Platz. Bei dieser Produktion lernte ich tatsächlich sehr viel und durfte sogar einmal bei einer Bühnenprobe ein bisschen dirigieren. Es war auch sehr interessant, die verschiedenen Abläufe in einem Probenprozess an der Oper zu beobachten: Wie man mit der Spannung der Sänger umgeht, was man sagt und, vor allem, was man nicht sagt. Es war keine besondere Produktion und sie wurde auch kein Erfolg, aber für mich war es eine spannende Zeit. Im Jahr darauf machten wir gemeinsam auch die Wiederaufnahme. Der Regisseur verbesserte vieles und einige Sänger wurden ausgetauscht. Da verstand ich zum ersten Mal, was es bedeutet, an einem Stück weiterzuarbeiten und es weiterzuentwickeln.
Das nächste Projekt meines Vaters war Der Rosenkavalier am Théâtre du Châtelet in Paris. Er brauchte noch einen zweiten Pianisten und der damalige Direktor, Stéphane Lissner, schlug ihm vor, mich zu nehmen. Rosenkavalier zählt zu den schwierigsten Werken überhaupt, aber ich hatte ein ganzes Jahr lang Zeit und übte wie verrückt, fast noch mehr als meine Diplomstücke, weil mir das so wichtig war. Da mein Vater damals den Rosenkavalier zwanzig Jahre nicht mehr dirigiert hatte, meinte er, wir sollten uns vor der ersten Probe einmal zusammensetzen. Er würde es schlagen, um die Noten einzurichten, und ich solle dazu spielen. Ich war ja damals wirklich noch sehr unerfahren, aber trotzdem sprach mir mein Vater ein ganz großes Lob aus: »Woher hast du das? Wie kannst du so gut einem Schlag folgen?« Für mich war das eigentlich selbstverständlich, aber heute weiß ich, dass sogar gute Korrepetitoren nicht unbedingt einem Dirigenten ohne Weiteres folgen können. Diese Zeit mit meinem Vater war eine der glücklichsten in meinem bisherigen Leben. Rosenkavalier wurde eine wunderbare Produktion mit Felicity Lott als Feldmarschallin und Kurt Rydl als Ochs. Regie führte Adolf Dresen.
Bald danach, 1994, suchte man im Châtelet noch einen Pianisten für Siegfried und Götterdämmerung mit dem Dirigenten Jeffrey Tate. Es wurde mein erster Ring am Klavier und eine wunderbare Gelegenheit, diese Stücke zu spielen und so genau kennenzulernen, denn Jeffrey Tate war, unabhängig von seinen dirigentischen Fähigkeiten, selbst einer der besten Korrepetitoren und Studienleiter, die es je gab. Er hatte mit Karajan gearbeitet und auch den Boulez-Ring in Bayreuth als Studienleiter betreut. Von ihm lernte ich die Genauigkeit, mit der er mit Sängern probte. Zunächst arbeitete er am Text, was mir heute auch sehr wichtig ist, dann an der Intonation, am Rhythmus und auch an der Bedeutung. Von seinem unglaublichen Hintergrundwissen profitierten wir alle sehr. Bei seiner Così fan tutte-Produktion in Aix-en-Provence wurde ich dann sein erster Assistent und spielte auch Cembalo. Erneut lernte ich da von ihm sehr viel über Probenarbeit. Er erzählte mir unter anderem, dass er einst bei der Karajan-Plattenproduktion der Zauberflöte nur eine halbe Stunde Zeit gehabt hatte, aus den drei sehr unterschiedlichen Sängerinnen, die sich zum ersten Mal begegneten, das Ensemble der drei Damen zu formen. Daran denke ich jetzt immer, wenn ich Così fan tutte mache: Ich arbeite an den Ensembles, an der Balance, an der Artikulation. Wer singt staccato? Wer singt legato? Wie bekommt man etwas deutlich heraus, wie intoniert man, wie harmonisiert man das? Er hatte immer einen ästhetisch-klassizistischen Anspruch bei Mozart, alles war immer sehr ausgewogen. Das kann man mögen oder nicht – aber ich habe ihm sehr viel zu verdanken.
Nach meinem Studium wusste ich zwar, dass ich als Repetitor arbeiten konnte, aber was dann? Sollte ich vielleicht doch Konzertpianist werden? In meiner Kindheit hatte ich verschiedene Phasen: Es gab die Phase mit dem Wunsch, Pianist zu werden. Als Sängerknabe wäre ich sehr gerne Opernsänger geworden. Es gab vielleicht auch eine kurze Regiephase als Jugendlicher, in der ich mir meine eigenen Theatermodelle baute und die großen Mozart- und Wagneropern inszenierte. Das habe ich mir damals vielleicht zu einfach vorgestellt – heute habe ich großen Respekt vor dem Beruf des Regisseurs. Aber nach der Zauberflöte meines Vaters oder spätestens nach der Walküre in Seattle wusste ich: Ich wollte dirigieren!