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1.3. Interne Eigendynamik der Kulturen

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Interne Pluralität der Kulturen

Obwohl die vier vorgestellten Kulturtheorien zahlreiche Dimensionen und Strukturen der Kulturen beschreiben, vernachlässigen alle eine zentrale Dimension des Sachverhaltes: Sie betrachten Kulturen vorwiegend als „eigenständige Sozialsphären“, monolithische Gebilde oder „Großakteure der internationalen Politik“. Diese wird in Fernsehdiskussionen, aber auch in Einzelstudien, dann vertreten, wenn mit dem Begriff „Deutschland“ der Monolith „Christentum“ und „Technokratie“ verbunden wird, mit dem Begriff „Iran“ hingegen der Monolith „Islam“ und „Theokratie“. Auch zeigt sie sich, wenn über „asiatische“ und „islamische“ oder über „europäischwestliche Werte“ in Form von „Kulturkreisen“ gesprochen wird.

Senghaas’ Konfigurationstheorie

Dieter Senghaas greift diese Denk- und Wahrnehmungsform auf und bezeichnet Theorien, die mit solchen Ausdrücken operieren, als „kulturessentialistisch“, weil sie in großem Maß den Diskurs über „Kultur“ bestimmen, indem „homogene und kohärente Kulturprofile einander gegenübergestellt und in aller Regel gegeneinander ausgespielt“38 werden. Ein solches Vorgehen widerspreche jedoch der konfliktiven Vielfalt kultureller Formationen, die seit Menschengedenken ein fester Bestandteil der Kulturerrungenschaften gewesen ist.

Senghaas entwickelt eine Konfigurationstheorie, um auf die interne Pluralität und Konflikthaftigkeit in Kulturen hinzuweisen.

Dichotomisierung der Kulturen

In gängigen Diskussionen erscheint Deutschland als ein Bestandteil des Westens, als eine Kultur, „für die immer schon Aufklärung, Individualismus, Demokratie, Menschenrechte, Religionsfreiheit, Pluralismus, freie Meinungsäußerung, die Gleichheit der Geschlechter u.Ä. repräsentativ und selbstverständlich gewesen sein sollen“39 , und der Iran als ein Bestandteil des Ostens, d.h. als eine Kultur, für die immer schon Rückständigkeit, Kollektivismus, Tyrannei, Menschenrechtsverletzungen, Religionsunfreiheit, Einparteienherrschaft, Zensur, Ungleichheit der Geschlechter u.Ä. repräsentativ und selbstverständlich gewesen sein sollen.

Wider die Dichotomisierung der Kulturen

Beide Interpretationen hält Senghaas für falsch, weil die vielgerühmten westlichen Errungenschaften das Ergebnis langer und harter Kämpfe waren, in denen sich Parteien mit unterschiedlichen „kulturprägenden“ Auffassungen gegenüberstanden. Die Aufklärung war von gegenaufklärerischen Strömungen begleitet, soziale Verbesserungen wurden gegen heftige Widerstände ausgefochten und gerade heute zeigt sich auf dem Gebiet der harten sozialpolitischen Einschnitte, dass diese nicht unumkehrbar sind.

Unterschiede politischer oder weltanschaulicher Auffassungen widersprechen der monolithartigen Auffassung einer Kultur. Sie gehen bis in Familien hinein – man betrachte etwa die Brüder Thomas Mann (1875–1955) und Heinrich Mann (1871–1950), die einst zumindest, in ihrer frühen Zeit, unterschiedliche Wertvorstellungen pflegten.

Im Hinblick auf den Iran lässt sich der gleiche Sachverhalt beobachten. Spätestens ab Mitte des 8. Jahrhunderts, also etwa zweihundert Jahre nach der Entstehung des Islam, entwickelten sich fünf Rechtsschulen: die Hanafiten, die Malikiten, die Shafiiten, die Hanbaliten und die Djafariten, die sich teilweise radikal widersprechen, weil sie von unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen ausgehen.

Seit der enqelabe-mashrute, der Verfassungsrevolution im Iran von 1907, herrscht bis in unsere Tage hinein eine heftige Kontroverse um die mardomsalarije eslami, also die islamisch-demokratische Ausgestaltung des Landes. Konflikte vergleichbarer Stoßrichtung lassen sich in vielen Gesellschaften in der Folge eines tiefgreifenden sozialen Wandels beobachten, so auch in China seit dem späten 19. Jahrhundert.

Senghaas führt mit seiner auf innere Differenzen ausgerichteten Konfigurationstheorie vor Augen, dass interne Unterschiede von Kulturen häufig gravierender sind als Divergenzen zwischen den Kulturen.

Das folgende Schaubild zeigt diverse Subkulturen innerhalb einer Kulturregion, die kontextuell unterschiedlich heterogen sind:


Interne Differenzierung der Kulturen

Senghaas lenkt die Aufmerksamkeit, wie dieses Schaubild demonstriert, auf die interne Diversität von Kulturen, die für alle Formen der Kommunikation innerhalb und zwischen unterschiedlichen Traditionen grundlegend ist. Dies hängt damit zusammen, dass bei einer monolithhaften Selbst- und Fremdwahrnehmung die „innere Differenzierung“ der Kulturen, der „Kulturkampf“ unterschiedlicher Denkformen vor Ort, übersehen wird. Ein realistisches Selbst- und Fremdbild ist jedoch die Grundvoraussetzung einer fruchtbaren Kommunikation.

Die Konfigurationstheorie von Senghaas weist darauf hin, dass Kulturwandel stets eine Folge tiefgreifenden sozialen Wandels darstellt. Betrachtet man die Französische Revolution als zugespitzten, d.h. besonders virulenten Kulturkonflikt, so ist festzustellen, dass die jeweilige Verankerung der Menschen- und Staatsrechte, die heute als europäisch-westlich gelten, vor 1789 keineswegs Bestandteil oder gar Inbegriff der Kultur in westlichen Gesellschaften war. Ähnliche interne Umbrüche sind gegenwärtig in Ländern wie China und dem Iran zu beobachten. Diese hinterfragen, erschüttern und bekämpfen die politisch-öffentliche Ordnung.

Ein weiteres Ziel der Konfigurationstheorie besteht darin, die Aufmerksamkeit der Diskurse auf die Frage zu richten, ob und inwieweit die Kulturen ihre Fehlentwicklungen offenlegen und ihre Erfahrungen der anderen Kultur zur Verfügung stellen. Darin sieht Senghaas die produktive Ausrichtung einer Erfolg versprechenden interkulturellen Kommunikation.

Zusammenfassung

Die Konfigurationstheorie von Senghaas lenkt die Aufmerksamkeit auf die interne Diversität von Kulturen und fordert dazu auf, von einer Monolithhaftigkeit Abstand zu nehmen, die auf politischer Ebene als Instrument der Spaltung eingesetzt wird.

Übungsaufgaben:

1 Diskutieren Sie die zentrale Überlegung der Konfigurationstheorie von Senghaas.

2 Wie beurteilen Sie die Konfigurationstheorie von Senghaas, wenn Sie diese mit eigenen Erfahrungen in Beziehung setzen, die Sie in Ihrem sozialen Umfeld und bei Begegnungen außerhalb Deutschlands gemacht haben?

3 Setzen Sie die Konfigurationstheorie mit den dargestellten vier Kulturtheorien in Beziehung. Arbeiten Sie Konvergenzen und Divergenzen heraus. Was ändert sich in unserer Selbst- und Fremdwahrnehmung?

4 Erläutern Sie Vor- und Nachteile der Konfigurationstheorie für eine interkulturell ausgerichtete Kommunikation. Führen Sie ein Beispiel aus eigener Erfahrung an.

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