Читать книгу Die großen Denker - Handelsblatt GmbH - Страница 1

Einführung: Die Vermesser der Welt

Оглавление

Sergio Marchionne wagt ein großes Experiment: Aus zwei Konzernen, Fiat und Chrysler, formt er einen neuen Riesen. Ein gigantisches Gebilde mit 226 000 Mitarbeitern entsteht. Es ist ein großes Experiment, dessen Gelingen auch von einer klugen, ausgeruhten Strategie abhängt. Marchionne aber sagt: "Ich mag es nachzudenken, aber das ist nicht immer möglich in meinem Job."

Ganz ähnlich argumentiert ein anderer Firmenlenker. "Die Dinge beschleunigen sich. Wir leben in einer Hochgeschwindigkeitswelt. Alles verändert sich", sagt Mark Parker, der Vorstandschef von Nike.

Und in der Politik? Außenminister Frank-Walter Steinmeier findet: "Die Kalkulierbarkeit ist abhandengekommen." Und auch Kanzlerin Angela Merkel pflegt zu sagen, sie fahre bei ihren Entscheidungen lediglich auf Sicht.

Die Macher der Welt, sie kommen ins Grübeln. "Die Welt gerät aus den Fugen", sagen unsere Politiker. "Wir haben keine Zeit zum Nachdenken", sagen unsere Manager.

Tempo und Komplexität der Entscheidungen haben sich exponentiell vervielfacht. "Die heutigen Vorstandschefs sind meist 20 Tage im Monat unterwegs", sagt Jeffrey Sonnenfeld von der Uni Yale - und fragt: "Wer soll angesichts dieser Reisestrapazen auf der Höhe der Zeit sein?"

Mit der Unordnung wachsen die Ungewissheiten. Und damit wächst der Zweifel an den großen alten Lehren darüber, wie die Welt funktioniert.

Klar ist: Die Zeit der großen Theorien, die den Anspruch hatten, auch die Aufgaben für Manager und Politiker beherrschbar zu machen, ist vorbei. Die Instrumente der Ökonomie? Werden seit der Finanzkrise hinterfragt. Jahrzehntealte Leitsätze aus dem Lehrbuch der BWL? Vom digitalen Wandel dahingerafft. Die Theorie vom Sieg der Demokratie über andere Staatsformen? Vom Aufstieg Chinas und Arabiens hinweggefegt.

Da aber der Mensch nicht ohne Leitbild leben will, sucht er sich statt der einen, allumfassenden Denkschule lieber ein Potpourri an Gedanken. Das Leitbild wird eigenhändig zusammengefügt - aus den bekannten Zutaten entsteht etwas Neues, Eigenes. Und womöglich ist dieser Vorgang zwangsläufig in einer fragmentierten Gesellschaft, in der sich das Kollektiv auflöst, Google und Wikipedia die Illusion von Orientierung geben und nicht mehr der Brockhaus oder die Kirche. Lebensentwürfe wie auch Autoritäten demonstrieren zwar Flexibilität, sind aber auch chronisch gefährdet.

Das Handelsblatt hat deshalb 25 der weltweit klügsten und einflussreichsten aktuellen Denker besucht: Nobelpreisträger wie den Psychologen Daniel Kahneman und Robert Shiller, die die neue Irrationalität auf den Finanzmärkten erklären; Physiker wie Stephen Hawking, der vor den Gefahren der künstlichen Intelligenz warnt; und Historiker wie Niall Ferguson, der die Erosion der westlichen Institutionen beschreibt.

Die Serie beginnt mit Nassim Nicholas Taleb. Er steht wie kaum ein Zweiter auch persönlich für diese neue Unübersichtlichkeit. Der gebürtige Libanese mit amerikanischem Pass ist gleichermaßen Ökonom, Philosoph und Psychologe. Talebs Botschaft: Das einzig Sichere in unserer Zeit ist die Unsicherheit.

Von Denkern und Machern

Die Politik wird immer unübersichtlicher, die Wirtschaft immer schneller - und der Mensch sehnt sich nach Orientierung. Gebraucht werden Welterklärer. Zum Glück gibt es sie. Ein Essay von Torsten Riecke.

Die Macher kommen ins Grübeln. "Die Welt scheint aus den Fugen geraten." Bei fast jeder außenpolitischen Rede, die Frank-Walter Steinmeier in diesen Tagen hält, bemüht er dieses Sprachbild - ein Bild der Rat- und Hilflosigkeit angesichts der geopolitischen Erschütterungen in der Ukraine und im Mittleren Osten. Was der deutsche Außenminister meint, aber so nicht sagt: Die alte globale Ordnung zerbricht, die Welt wird unübersichtlich. Steinmeier ist nicht der Einzige, der die Orientierung verliert: "Wir haben noch keine Strategie", räumt US-Präsident Barack Obama angesichts der neuen Bedrohung durch den islamischen Terrorismus ein. Der mächtigste Mann der Welt ist ohne Kompass - und die Welt ist ohne Führung, wie der US-Politologe Ian Bremmer anmerkt.

Auch in der Wirtschaft fährt man nur noch auf Sicht: "Ich mag es nachzudenken, aber das ist nicht immer möglich in meinem Job", gesteht Fiat-Chef Sergio Marchionne. Ein bitteres Geständnis, immerhin hat der Italiener Philosophie studiert. Warum im Leben des modernen Managers kaum Zeit zum Nachdenken bleibt, erklärt Mark Parker, Chef des US-Sportartikelgiganten Nike: "Die Dinge beschleunigen sich. Wir leben in einer Hochgeschwindigkeitswelt. Alles verändert sich." Auch das klingt wie ein Hilferuf: Die Macher fühlen sich überfordert vom Tempo der technologischen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen.

Die Unübersichtlichkeit der heutigen Welt macht nicht nur unsere Elite ratlos, sie lässt auch die Bürger verunsichert zurück. Die Meinungsforscher aus Allensbach haben bereits vor zwei Jahren eine "Sehnsucht nach politischer Orientierung" in der Bevölkerung festgestellt. Damals fanden zwei Drittel der Befragten die Politik "undurchsichtig", und fast 90 Prozent wünschten sich mehr Zuverlässigkeit. In dieses Bild der Verwirrung passt, dass nach einer Umfrage des amerikanischen Pew-Instituts die Globalisierung von Gütern, Dienstleistungen und Ideen besonders in Industrieländern wie Deutschland, den USA und Japan als anonyme Bedrohung empfunden wird. Doch Furcht ist ein schlechter Ratgeber.

Aus solchen Umfragen spricht jedoch nicht nur Zukunftsangst, sondern auch das Bedürfnis nach Aufklärung. Viele Menschen hungern nach geistiger Nahrung, um die rasenden Veränderungen besser zu verstehen, um ihr Privat- und Berufsleben neu zu organisieren, um mitreden zu können. Das Handelsblatt hat deshalb 25 der klügsten und einflussreichsten Vor- und Nachdenker auf unserem Planeten ausgewählt, die uns die immer komplexer werdende Welt besser erklären können.

Im "Uniturm" in Zürich etwa haben wir mit dem Ökonomen und Hirnforscher Ernst Fehr darüber gesprochen, dass es im Kopf des vermeintlichen "homo oeconomicus" ein tiefes Bedürfnis nach Fairness gibt. In New York erklärte uns der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman beim Lunch in der "Gotham Bar", warum unsere Vernunft ein Faulpelz ist und wie wir sie auf Trab bringen können. Der Historiker Niall Ferguson erläuterte uns während seiner Mittagspause an der Harvard-Universität, warum einige Großmächte aufsteigen und andere untergehen.

Allen 25 Denkern gemeinsam ist, dass sie durch Worte und nicht so sehr durch Taten wirken. Sie sind keine Macher, aber die Macher finden sich durch ihre Ideen in der Welt besser zurecht. Unsere Denkschmieden haben das längst erkannt und sich neu ausgerichtet: "Die Welt braucht Macher, die auch Nachdenker sind", heißt es in einer Broschüre der Frankfurt School of Finance Management. Dort werden die Fächer Management, Philosophie und Ökonomie zusammen gelehrt - und das schon seit 2006.

In der Geschichte gab es immer wieder Phasen, in denen ein rapider Wandel die Menschen orientierungslos machte. Besonders ausgeprägt und schicksalhaft war die Sinnsuche während der Wende zum 20. Jahrhundert. Im sogenannten Fin de Siècle entstand daraus eine seltsame Mischung von Aufbruchs- und Endzeitstimmung. Auch damals waren es gravierende politische Veränderungen wie der Aufstieg Deutschlands und die Hochzeit des Kolonialismus, technologische Neuerungen wie die Telegrafie, der Motorflug und das Radio und der wirtschaftliche Wandel durch die Hochindustrialisierung, die für allgemeine Verwirrung sorgten. Auch damals suchten die Menschen nach Deutungen für den Schock der Moderne. Sie fanden sie etwa beim Untergangsphilosophen Oswald Spengler, beim "Übermenschen" Friedrich Nietzsches oder beim Traumdeuter und Seelendoktor Sigmund Freud.

Heute sind es alte Pfadfinder wie Henry Kissinger, die uns den Weg weisen. So ist es kein Zufall, dass das neue Buch des ehemaligen US-Außenministers den Titel "Weltordnung" trägt - und schnell auf den Bestsellerlisten landete. Die alte Weltordnung ist in Unordnung geraten. Nicht nur die Krisen in der Ukraine und im Mittleren Osten rütteln an der geopolitischen Statik. "Die Welt, in der unsere Kinder und Enkel leben werden, wird sich von unserer heutigen Welt fundamental unterscheiden", sagt OECD-Generalsekretär Angel Gurria voraus. Auf Deutschland komme ein großer Verlust an wirtschaftlicher Bedeutung zu.

Treibende Kraft für die aktuelle Neuordnung ist Chinas Aufstieg zur Weltmacht. Die Volksrepublik hat Deutschland als Exportweltmeister bereits abgelöst - und wird in wenigen Jahren die USA wirtschaftlich überholen. Damit gewinnt auch das chinesische Modell einer autoritären Marktwirtschaft an Attraktivität im Systemwettbewerb mit den westlichen Demokratien. Ob wirtschaftlicher Fortschritt dauerhaft ohne politische Freiheit zu haben ist, ist damit jedoch noch nicht gesagt. Allerdings tun sich pluralistische Gesellschaften wie in den USA und Europa ungeheuer schwer, den erreichten Wohlstand ihrer Bürger zu erhalten. Das Unbehagen über die ungleiche Verteilung zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung wächst, der soziale Kit bröckelt. "Wir stehen vor einer Zeitenwende", sagt der Historiker Ferguson.

Die Macher spüren, dass "machen" alleine nicht mehr reicht. So gab US-Präsident Obama dem britischen Premier David Cameron den Tipp: "Das Wichtigste in unserem Job ist, sich während des Tages viel Zeit zum Nachdenken zu nehmen." Ein Blick in die Terminkalender von Top-Managern und Spitzenpolitikern zeigt jedoch, dass dafür kaum Platz ist. "Die heutigen Vorstandschefs sind meist 20 Tage im Monat unterwegs", sagt Jeffrey Sonnenfeld von der Yale School of Management, "wer soll angesichts dieser Reisestrapazen auf der Höhe der Zeit sein?" Ein gutes Urteil entstünde durch Nachdenken und dafür brauche man Zeit, sekundiert der Personalberater Tony Schwartz vom Energy Project.

Was für eine Ironie: In unserer Wissensgesellschaft haben wir immer weniger Zeit zum Nachdenken. Oder wir nehmen sie uns nicht, weil uns die tägliche Informationsflut atem- und kopflos macht. Wieder einmal ist die Technologie Segen und Fluch zugleich. Es gibt heute fast keine Branche, kein Unternehmen und keinen Arbeitsplatz mehr, der nicht von der Digitalisierung betroffen wäre. Die Wissenschaftler Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee von der amerikanischen Eliteuniversität Massachusetts Technology Institute haben dieses Doppelgesicht des technischen Fortschritts in ihrem Bestseller "The Second Machine Age" akribisch beschrieben. Demnach wird das Zusammentreffen von Big Data, Robotik und künstlicher Intelligenz unser Berufsleben im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf stellen - und zwar mit zunehmender Geschwindigkeit.

Ihr Fazit ist so faszinierend wie beängstigend: Unterm Strich werde die Bilanz der digitalen Revolution positiv ausfallen. Viele alte Jobs würden zwar überflüssig, aber es entstünden auch viele neue Arbeitsplätze. Die Übergangsphase der schöpferischen Zerstörung unseres Arbeitslebens könne allerdings mehr als ein Jahrzehnt dauern. Die Frage ist, wie wir diesen Übergang so sozialverträglich gestalten, dass uns dabei nicht unsere gesellschaftliche Ordnung um die Ohren fliegt.

"Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?" Mit diesen existenziellen Fragen beginnt Ernst Bloch in den 30er- Jahren des vorigen Jahrhunderts seine berühmte Trilogie "Das Prinzip Hoffnung". Einige dieser Fragen werden heute wieder gestellt, weil immer mehr alte Gewissheiten erschüttert werden. Viele versuchen, die ungewisse Zukunft durch ausgetüftelte Prognosen zu überholen. Spätestens seit John Maynard Keynes wissen wir jedoch: Die Zukunft ist prinzipiell unsicher. Das Einzige, was wir dagegen tun können, ist, aus der Vergangenheit zu lernen, um unsere Gegenwart besser zu verstehen.

Die 25 Denker, die wir in den kommenden Wochen vorstellen, werden nicht auf alle Zukunftsfragen eine Antwort geben können. Aber sie bieten Denkanstöße für ganz verschiedene Fragen unseres Lebens und provozieren uns so zum Mit- und Nachdenken. Bei den meisten findet sich dabei jenes Prinzip Hoffnung, das Bloch beschworen hat. Ohne dieses Prinzip Hoffnung werden wir die vor uns liegenden Herausforderungen nicht meistern können.

Die großen Denker

Подняться наверх