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DANIEL KAHNEMAN: Der Vater aller Gedanken

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Niemand hat die Strukturen unseres Denkens so offengelegt wie der Wirtschaftsnobelpreisträger und Psychologe. Damit öffnete er der Menschheit die Augen für den eigenen Geist - und ihre ökonomischen Entscheidungen. Eine Begegnung. Von Torsten Riecke

Hi, ich bin Danny", sagt der ältere Herr, als er mich in Hausschuhen vom Fahrstuhl am Eingang seines Penthouses im New Yorker East Village abholt. Nichts von seinem unprätentiösen Auftreten deutet darauf hin, dass hier ein Wirtschaftsnobelpreisträger und der vermutlich bedeutendste lebende Psychologe unserer Zeit die Tür zu seinen Gedanken und seinem Zuhause öffnet. Daniel Kahneman, der in Deutschland vor allem durch seinen Bestseller "Schnelles Denken, langsames Denken" (Originaltitel: "Thinking fast and slow") bekannt geworden ist, liebt das Understatement.

Nicht, weil der inzwischen 80-Jährige israelisch-amerikanische Wissenschaftler mit seinem Ruhm heimlich kokettiert. Kahneman nimmt sich selbst nicht so wichtig. Und das ist ein Resultat seines lebenslangen Nachdenkens über die Irrungen und Wirrungen des menschlichen Geistes. Kahnemans Ideen über die heuristische Methode unseres Denkens sind für die moderne Psychologie das, "was Darwins Evolutionstheorie für die Biologie war" (Evening Standard): Sie haben uns die Augen dafür geöffnet, wie unser Gehirn funktioniert.

Dabei räumt der emeritierte Princeton-Professor mit der Illusion auf, dass unseren Entscheidungen immer ein rationaler Gedankengang vorausgeht. Meist ist es ganz anders: Wir entscheiden intuitiv, fast automatisch, ohne groß nachzudenken. Dabei vertrauen wir auf Assoziationen, die sich aus unserer Erinnerung speisen, und auf Gefühle wie zum Beispiel Sympathie, die uns in die eine oder andere Richtung lenken.

Kahneman spricht vom "System I" unserer Psyche. Ein Hilfskonstrukt, das eher unserem Verständnis dient, als dass es sich dabei um einen gesonderten Teil unseres Gehirns handeln würde. Nur bei komplexen Entscheidungen meldet sich unsere Vernunft ("System II") und erzwingt ein mehr oder minder rationales Nachdenken. "Dieser Teil unseres Geistes ist faul und schaltet sich nur ein, wenn System I überfordert ist", erklärt der Psychologe. Ein Beispiel: "Die Rechenaufgabe 2 + 2 lösen wir, ohne darüber nachzudenken. Wenn wir jedoch bei starkem Verkehr mit dem Auto links abbiegen, müssen wir unser Gehirn anstrengen."

Inzwischen sitzen wir auf der braunen Ledergarnitur in seinem modern eingerichteten Wohnzimmer über den Dächern von Manhattan. Metall, Glas und weiße Einbauschränke bestimmen den rationalen Wohnstil. Kahneman hat sich entspannt auf der Couch zurückgelehnt, seine Augen sind jedoch hellwach und neugierig. Derweil räumt seine zweite Frau Anne Treisman, selbst Psychologin und oft auch Sparringspartnerin für die Gedankenexperimente ihres Mannes, das Gemüse vom Einkauf auf dem nahegelegenen Markt am Union Square in die Küchenschränke.

Die Trennung zwischen den beiden Systemen, sagt der in Tel Aviv geborene Wissenschaftler, werde oft überschätzt. Tatsächlich würden wir auch bei wichtigen Entscheidungen in unserem Leben oft stärker unserer Intuition folgen, als uns das bewusst sei. In den meisten Fällen fahren wir ganz gut damit, sagt Kahneman. Das "System I" sei ein guter Pfadfinder, aber eben nicht perfekt. Immer wieder spiele unser Gehirn uns einen Streich. "Unser Denken ist anfällig für systematische Fehler."

Das hat enorme Auswirkungen auf viele Bereiche unseres Lebens. Denn überall, wo Menschen Urteile fällen oder wo sie sich unter Unsicherheit entscheiden, muss man stets damit rechnen, dass sie dabei nicht nur von ihrer Vernunft geleitet werden.

Eine Erkenntnis, die insbesondere das Verhalten in der Wirtschafts- und Finanzwelt in einem neuen Licht erscheinen lässt. Hebt Kahneman mit seiner Psychologie der Unvollkommenheit doch das bislang herrschende, aber lebensfremde Menschenbild vom stets rational handelnden "homo oeconomicus" aus den Angeln.

Eine Leistung, für die er 2002 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt. "Ich bin kein Ökonom, sondern Psychologe", versucht er noch heute Distanz zu der aus seiner Sicht irregeleiteten Disziplin zu halten. Doch längst sind seine Ideen zur Grundlage der modernen Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) geworden, die damit scheinbar irrationale Entscheidungen im Wirtschaftsleben weitaus besser erklären kann als die traditionelle neoklassische Lehre.

Jüngstes Beispiel ist die große Finanzkrise 2008. Selbst Alan Greenspan, langjähriger Chef der US-Notenbank und Anhänger freier Märkte, habe ja eingeräumt, dass sich die Banken vor der Krise nicht so rational verhalten hätten, wie er das erwartet habe, stellt Kahneman zufrieden fest. Und weiter: "Sicherlich ist heute die Idee des rationalen Verhaltens nicht mehr so dominierend wie vor der Finanzkrise." Auch das ist eine für ihn typische Untertreibung.

Tatsächlich liegt seit der Krise die ganze ökonomische Zunft mit einer Identitätskrise auf der Couch der Psychologen. Kahnemans Ideen können zur Heilung beitragen. Auch wenn er selbst vor allzu großen Erwartungen über seine Erkenntnisse warnt: "Auch Verhaltensökonomen haben die Krise nicht vorausgesehen und sind bis heute nicht in der Lage, zuverlässige Prognosen zu liefern." Vorhersagen über eine prinzipiell unsichere Zukunft hält der Psychologe ohnehin für eine Selbsttäuschung.

Unter dieser "Kompetenzillusion" würden vor allem die Börsengurus leiden. Kahneman hat mehrmals nachgewiesen, dass die Anlagetipps von Finanzprofis mehr mit Glück und Zufall als mit der Kompetenz von Vermögensmanagern zu tun haben. An der Wall Street stoßen solche Erkenntnisse naturgemäß nicht auf Begeisterung. Man habe ihm dort zugehört, geglaubt aber habe man ihm nicht, berichtet der Wissenschaftler lächelnd.

Ganz so unbelehrbar ist die Finanzbranche jedoch auch wieder nicht. Seit seinem Abschied von Princeton berät Kahneman einen großen amerikanischen Versicherungskonzern. "Mich interessiert vor allem, wie solche Firmen mit Risiken und Unsicherheit umgehen", sagt er, "und die Manager hören tatsächlich auf meinen Rat." Auch in deutschen Führungskreisen hört man dem Psychologen aufmerksam zu: Die FAZ kürte Kahneman kürzlich "zum einflussreichsten ausländischen Ökonomen der vergangenen zwölf Monate in Deutschland".

Es ist Mittagszeit und Kahneman hat sich mit zwei befreundeten Kollegen im berühmten New Yorker Restaurant Gotham Bar Grill zum Lunch verabredet. Auf dem Weg dorthin plaudern wir darüber, wie paradox der menschliche Geist manchmal funktioniert. Anleger zum Beispiel versuchten fast um jeden Preis, Verluste zu vermeiden. Und zwar selbst dann, wenn sie dafür unkalkulierbare Risiken eingehen müssten. Diese Urangst vor Verlusten erklärt zum Beispiel, warum Hausbesitzer sich scheuen, bei fallenden Preisen zu verkaufen - auch wenn das Zögern sie wahrscheinlich noch teurer zu stehen kommt. Umgekehrt ziehen die meisten Menschen 500 Dollar in bar einer Wette vor, bei der sie mit einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit ihr Vermögen verdoppeln könnten. "Wir hassen Verluste mehr, als wir Gewinne lieben", erklärt Kahneman.

Mit solchen Gedankenexperimenten hat er seine Psychologie begründet und so gibt er auch dem Mittagessen mit seinen Freunden eine humorvolle Würze. Gekommen sind der Psychologe Paul Rozin, der vor allem über Ekelgefühle forscht, und Kahnemans frühere Kollegin Maya Bar-Hillel von der Hebräischen Universität in Jerusalem. Zusammen rätseln die Gedankenleser, wie viele Kalorien wohl das Mahl des Tischnachbarn enthält. Daraus wird schnell eine Debatte darüber, warum eine gesunde Ernährung oft dazu führt, dass man mehr isst. Die psychologische Erklärung: Das gute Bewusstsein ist ein gemeiner Verführer. Aus dem gleichen Grund sind bei McDonald’s die Verkäufe von Hamburgern gestiegen, seitdem die Imbisskette Salatbars eingeführt hat.

Geschichten aus dem Alltag, oft voller Humor, manchmal skurril, immer aber lehrreich, sind seit Kindestagen das Lebenselixier des Psychologen. Kahneman wuchs in einer jüdischen Familie im von den Nazis besetzten Frankreich auf. Gossip oder Tratsch waren sein täglich Brot: "Ich habe früh gelernt, dass die Menschen sehr kompliziert sind." Schon als Teenager interessierte er sich mehr dafür, warum Menschen an Gott glauben, als für die Frage, ob Gott überhaupt existiert. Während seiner Zeit beim israelischen Militär versuchte Kahneman mit Hilfe von psychologischen Experimenten "natürliche" Führungspersönlichkeiten zu erkennen - und scheiterte.

An seiner damaligen Erkenntnis hält er bis heute fest: "Ich glaube nicht, dass man einen optimalen Prozess erfinden kann, um künftige Führer zu entdecken." Bestenfalls könne man den Entscheidungsprozess so rationalisieren, dass möglichst viele Fehler vermieden werden könnten. Das ist auch die Quintessenz seiner gesamten Forschung: Den vollkommen vernunftgeleiteten Menschen werden wir nie erreichen. Aber wir können uns darum bemühen, die Fehlurteile unserer Intuition zu verringern, indem wir einen Gang zurückschalten, uns Zeit nehmen, unser Gehirn anzustrengen, und die Vernunft zur Hilfe rufen.

Kahneman plädiert also für intellektuelle Bescheidenheit und rät, mit einer gesunden Portion Skepsis gegenüber anderen und sich selbst durchs Leben zu gehen. Eine Philosophie, die dem Kritischen Rationalismus eines Karl Popper durchaus verwandt ist.

Sein Schlüsselerlebnis als Wissenschaftler hatte Kahneman, als er Ende der 60er-Jahre den etwas jüngeren Psychologen Amos Tversky kennenlernte. Tversky war ein Pionier in der kognitiven Psychologie und beschäftigte sich mit ähnlichen Fragen wie sein Kollege. Aus der Begegnung ergab sich für beide eine überaus fruchtbare, jahrzehntelange Zusammenarbeit. In langen Gesprächen und Gedankenexperimenten überprüften die beiden Wissenschaftler nahezu täglich ihre Thesen. "Meinen Nobelpreis erhielt ich für die Arbeit aus dieser intensiven Kooperation", sagt Kahneman noch heute voller Dankbarkeit für seinen 1996 verstorbenen Freund.

Zum Abschied bleibt eigentlich nur eine Frage: Wie schafft es jemand, der sich sein Leben lang mit den Schwächen des menschlichen Geistes beschäftigt hat, ein möglichst fehlerloses Leben zu führen? Die verblüffende Antwort: "Ich bin in meinem Privatleben nicht wirklich meinen Erkenntnissen als Wissenschaftler gefolgt." So gab es nur eine einzige Entscheidung, die er zuvor professionell durchdacht habe, sagt Kahneman. "Bei dem Kauf meines Hauses habe ich zeitgleich die Einrichtung bestellt. Wenn man nämlich erst das Haus und dann die Einrichtung kauft, wird das Mobiliar meist zu billig ausfallen."

Daniel Kahneman wurde 1934 in Tel Aviv als Sohn litauischer Juden geboren, verbrachte seine Kindheit jedoch im von Nazi-Deutschland besetzten Frankreich. Später studierte er Psychologie und Mathematik in Jerusalem und lehrte danach als Professor in Berkeley und Princeton. Die jüdische Tradition des Gossips lieferte ihm den Rohstoff für die Erforschung des menschlichen Geistes. Er ist mit der Psychologin Anne Treisman in zweiter Ehe verheiratet.

Kahneman wurde 2002 für seine neue Erwartungstheorie (Prospect Theory) mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. Damit schuf er eine Alternative zu der bis dahin dominierenden rationalen Entscheidungstheorie. Er gilt als einer der Begründer der modernen Verhaltensökonomie.

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