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JARON LANIER: Warnung vor dem Superhirn
ОглавлениеDer Autor, Informatiker und Unternehmer ist ein Veteran des Internets. Dennoch ist Jaron Lanier einer der größten Kritiker der Tech-Konzerne. In seinem Denken steht nicht die Maschine im Mittelpunkt - sondern der Mensch. Von Grischa Brower-Rabinowitsch
Man sollte sich davor hüten, Jaron Lanier falsch zu verstehen. Was leicht passieren kann. Denn Lanier ist einerseits ein Oldtimer des Internets und der Computertechnik, schon von seinem zotteligen Äußeren her der typische Nerd. Doch anders als die meisten Nerds hat Lanier einen abweichenden Weg eingeschlagen: Er kennt die Entwicklungen des Internets und die Gedanken seiner Macher wie kaum ein zweiter; er ist vom Segen der digitalen Revolution überzeugt. Und dennoch ist Lanier einer der schärfsten Kritiker dieser Entwicklung - so gefährlich für die Mächte des Digitalen, weil so kundig. Im Mittelpunkt seines Denkens steht nicht die Maschine, sondern der Mensch.
Und der Mensch, das ist das Grundthema seiner beiden bedeutenden Bücher "You are not a Gadget" und "Who owns the Future", gibt sich der Technik zu sehr preis, er glaubt zu sehr an die Wahrhaftigkeit dessen, was der Computer ausspuckt. "Die Menschen sind zu maschinenhörig geworden", sagte Lanier vor wenigen Monaten im Interview mit dem Handelsblatt.
Der US-Experte hat sich mit seinen beiden Büchern und diversen Aufsätzen sehr kritisch mit dem Internet und der digitalen Welt auseinandergesetzt. Seine Thesen sind auf den ersten Blick scheinbar technikfeindlich. Doch er hat sich nicht gegen das Internet gewandt, er hat sich nicht gegen die Technik gewandt, sondern dagegen, was Menschen daraus gemacht haben, und wie sie es nutzen, um Macht aufzubauen und zu missbrauchen. "Ich habe immer noch größere Freude an Technologie, als ich ausdrücken kann. Die virtuelle Realität kann Spaß machen und wunderschön sein", sagte Lanier in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an ihn vor wenigen Wochen.
Das für viele Menschen verstörende Element bei dem 54-jährigen Lanier ist, dass er Kritik an der virtuellen Realität übt, an der er selbst doch als einer der ersten Menschen mitgewirkt hat. Ihm wird sogar immer wieder zugeschrieben, den Begriff "Virtual Reality" geprägt zu haben. Doch Lanier lässt sich, wie viele andere "Visionäre" auch, nicht gerne in Schubladen pressen. Das Ungewöhnliche ist Teil seines Lebens und seines Denkens.
"Ich finde es für mich sehr wertvoll, nicht wie alle anderen zu sein, unabhängig zu denken. Das ist notwendig für jeden kreativen Menschen. Es hat mir geholfen, die Welt zu erschaffen, die ich nun kritisiere", formuliert er.
Lanier ist tief geprägt von der Geschichte seiner Familie, die ebenso außergewöhnlich ist. Seine Mutter Lilly war eine Pianistin, Malerin und Tänzerin, die ein Konzentrationslager überlebte und mit 15 Jahren aus Wien in die USA emigrierte. Sein Vater Ellery war das Kind ukrainischer Juden, der als Architekt, Maler, Schriftsteller und Lehrer arbeitete. Beiden Eltern hatte die Nazizeit in Europa schlimmes Leid zugefügt. Eine Tante seines Vaters, erzählte Lanier in seiner Rede zur Buchpreisverleihung, "war ihr Leben lang stumm, nachdem sie als kleines Mädchen nur überlebt hatte, weil sie vollkommen still unter einem Bett ausharrte, während ihre ältere Schwester vor ihr durch ein Schwert getötet wurde. Von der Familie meiner Mutter in Wien sind viele, viele in den Konzentrationslagern umgekommen."
"Und nach all dem bin nur noch ich übrig", sagte Lanier weiter, denn sein Vater ist kürzlich gestorben. Seine Mutter hatte Lanier bereits verloren, als er zehn Jahre alt war. Sie starb bei einem Autounfall.
Seine Eltern hatten die Erlebnisse der Nazizeit tief verunsichert. Kurz nach der Geburt von Jaron gaben sie ihren eigentlichen Nachnamen Zepel für den weniger jüdisch klingenden Lanier auf. Sie wählten den Namen nach Sidney Lanier, einem Poeten und Flötisten des 19. Jahrhunderts. Und Lilly und Ellery gaben ihr Leben in der Künstlerszene von New York auf, nahmen ihren kleinen Sohn und zogen nach Texas. "Ich glaube, sie haben gedacht ‚Wir haben jetzt ein Kind, lass uns weit weg gehen, lass uns uns verstecken‘", sagte Lanier.
Sein Elternhaus war für den jungen Lanier ein einziger Fundus an Interessantem. Seine Mutter hatte ihm das Klavierspiel beigebracht, bei seinem Vater fand er außergewöhnliche Bücher. "Sie hatten Tonnen von bizarren, aufregenden Dingen", erklärt der Autor. So wie er selbst heute auch. Lanier hat zum Beispiel mehr als tausend rarer Instrumente gesammelt, die er alle spielt. Die Musik ist neben der Technik seine zweite Leidenschaft. Doch auch in der Musik sucht er das Außergewöhnliche. Einige seiner historischen, altertümlichen Instrumente verlangen hohen körperlichen Einsatz, man spielt sich die Finger blutig.
Die Musik spielte auch eine Rolle bei Laniers Karrierestart in der Tech-Welt, der Entwicklung des ungewöhnlichen Videospiels "Moondust" für den Commodore 64 im Jahr 1983. Bei dem Kulthit, das erste Kunst-Videogame, erzeugten die Bewegungen des Joysticks einen Soundtrack. Das Spiel brachte ihm einen Job bei der Computerfirma Atari ein und ihn später mit dem Programmierer Tom Zimmerman zusammen. Die beiden gründeten 1985 die Firma VPL, die erste aus dem Bereich "Virtual Reality". Sieben Jahre später brach sie zusammen. Komplexe virtuelle Welten zu entwickeln hatte sich als schwieriger herausgestellt als gedacht.
Nach einigen Monaten, in denen er sich unter anderem in New York seiner Musik widmete, heuerte er als wissenschaftlicher Chef der Firma Eyematic in Los Angeles an, die Algorithmen entwickelte, mit denen ein Computer menschliche Gesichter erkennen und verfolgen kann. Google kaufte die Firma 2006, Lanier ließ sich ausbezahlen und arbeitet seitdem unter anderem für Microsoft Research, wo er wieder an Tools für virtuelle Welten forscht.
Irgendwann Anfang des neuen Jahrtausends ist Lanier klar geworden, dass die Technik die Welt nicht nur zum Besseren verändert. "Ich bin enttäuscht, welchen Weg das Internet in den vergangenen zehn Jahren genommen hat", sagte Lanier schon vor drei Jahren. Im Interview mit dem Handelsblatt ergänzte er: "Die ursprüngliche Idee des Internets war: Jeder konnte alles hochladen und alles sehen, was er will. In der Theorie ist das wahr. Aber in der Praxis hat es sich zu einem von Unternehmen kontrollierten Ort gewandelt."
Lanier kritisiert, dass wenige große Konzerne wie Google oder Facebook das Internet quasi kontrollieren und damit alle Macht auf sich vereinen. "Nur die Menschen, die die Maschinen kontrollieren, konzentrieren den Reichtum auf sich und alle anderen scheitern. Es entsprich ziemlich genau den Ängsten des 19. Jahrhunderts, frühen Science-Fiction-Autoren wie H. G. Wells. Wenn man den Maschinen zu viel Macht gibt, dann nimmt man sich selbst logischerweise Macht weg", sagt er.
Der 54-Jährige ist der Ansicht, dass wir gerade "eine feudale Gesellschaft schaffen, in der die Schlösser die größten Computer sind". Damit meint er Unternehmen, die weltweit die größten Server betreiben und unglaublich viele Daten sammeln, er nennt sie Sirenenserver.
"Jeder, der so einen besitzt, kann das Verhalten von allen anderen lenken und bestimmen. Und die Menschen werden schleichend immer ärmer. Es ist in einer soften Art genau das, was in der Geschichte immer wieder bei der Konzentration von Macht geschehen ist", fürchtet Lanier.
Seine Vision beschreibt er gerne mit dem Beispiel der Übersetzungssoftware. Sie sei sehr nützlich für uns, aber sie bediene sich bei den echten Übersetzern. Millionenfach werden täglich Übersetzungen digital ausgewertet. Damit wird die Arbeit der menschlichen Übersetzer einerseits schleichend überflüssig und andererseits wird ihnen der Lohn für ihre Mühen versagt. Laniers Lösung: Die Übersetzer müssen dafür bezahlt werden.
Der Internet-Kritiker fragt weiter: "Man denke an Facebook, das erste große öffentliche Unternehmen dieser Art, das von einem einzigen sterblichen Individuum kontrolliert wird. Facebook steuert heute zum großen Teil die Muster sozialer Verbindungen in der ganzen Welt. Doch wer wird seine Macht erben? Steckt in diesem Dilemma nicht eine neue Art von Gefahr?"
Für den Denker Lanier ist die Antwort ganz klar Ja. Denn Unternehmen wie Facebook oder Google, die versuchen Nutzerverhalten zu analysieren und sogar zu lenken, sind Hebel einer Gefahr, die ihn sorgt. "Wenn es eines gibt, das mich am Internet ängstigt, dann dies: Es ist ein Medium, das ‚Flashmobs‘ auslösen kann und regelmäßig schlagartig ‚virale‘ Trends schafft", sagt Lanier. Zwar hätten diese Effekte bisher noch keinen größeren Schaden angerichtet. "Aber was haben wir im Gegenzug, um sie zu verhindern? Wenn Generationen heranwachsen, die sich großenteils über globale korporative Cyber-Strukturen wie geschützte soziale Netzwerke organisieren und austauschen, woher wissen wir, wer die Kontrolle über diese Strukturen erbt?"
Die Gefahr in der neuen Technik liegt für Lanier darin, dass sich der Mensch zu sehr aufgebe. "Ich hatte immer das Gefühl, dass der Ansatz in der Computerwissenschaft, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, zu mehr interessanten, exotischen, wilden und heldenhaften Erlebnissen führt als der Ansatz der Überlegenheit der Maschinen, bei dem Informationen das höchste Ziel sind", sagte Lanier einmal.
Die Informationen, die sich in Big Data ansammeln, würden nun genutzt, um zu versuchen, den Menschen zu lenken und vorauszuberechnen. Das freilich sei nicht einmal eine einseitige Entwicklung, vorangetrieben ausschließlich von den Konzernen. Der Mensch lasse es geschehen. Dabei lehnt Lanier Big Data nicht ab: "Ich bin kein Gegner von Big Data. Ich habe vielmehr einige Zeit an Big Data gearbeitet. Ohne deren Analyse wüssten wir zum Beispiel bei weitem nicht so viel über die Veränderungen des Klimas. Big Data ist nicht nur von großem Nutzen, sondern eine Frage des Überlebens."
Doch im Silicon Valley sei die Computerwissenschaft für manche zur Religion geworden, bemerkt Lanier. "Manch einer glaubt, wir sind auf dem Weg zu einer vollkommenen Gesellschaft, wir haben mit dem Internet den Schlüssel zur Perfektion."
Die einflussreichsten Technologieexperten in den Unternehmen würden denken, dass wir auf dem Weg zur Unsterblichkeit sind, weil Computer und Menschen äquivalent sind, und dass Computer so schnell werden, dass sie erst mit dem menschlichen Hirn gleichziehen und es dann überholen werden. "Wir werden dann quasi in die Computer hochgeladen. Das Superhirn wird irgendwann die Menschlichkeit überwinden."
Eine irre Vorstellung für Lanier.
Für "Wem gehört die Zukunft?" hat Jaron Lanier den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2014 bekommen. Auch in den USA wurde Lanier gefeiert: Die "New York Times" nannte sein Buch das wichtigste des vergangenen Jahres. Mit seinen Publikationen hat sich Lanier einen Namen als Internet-Philosoph gemacht.
Der 54-Jährige kritisiert in seinen Büchern die digitale Welt, ist aber selbst seit den Anfängen des Internets dabei. Er hat für fast alle großen Computerkonzerne gearbeitet, war an vier Start-ups beteiligt und gründete Anfang der 1980er-Jahre VPL Research - das erste Unternehmen, das Produkte der virtuellen Realität verkaufte. Seine Leidenschaft gilt der Musik. Er spielt Klavier sowie diverse historische Instrumente - und tritt damit auch auf.