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NASSIM NICHOLAS TALEB: Der Philosoph, der das Chaos ordnet

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Ob das Auftreten für unmöglich gehaltener Ereignisse oder der permanente Wandel unseres Seins: Niemand beschreibt die Unsicherheit unserer Welt besser als der Multi-Intellektuelle. Von Michael Maisch

Wer Leben und Sterben des Truthahns kennt, der hat im Prinzip auch Nassim Nicholas Taleb verstanden. Insofern eignen sich wenige Momente im Jahr so gut für eine Auseinandersetzung mit diesem intellektuellen Multitalent wie die Tage rund um den amerikanischen Feiertag Thanksgiving. Das Fest, an dem die ganze Nation Truthähne verspeist.

Also sitzt Taleb schon am frühen Morgen dieses Tages in seinem Arbeitszimmer in einem New Yorker Vorort und sagt: "Ich weiß schon jetzt, dass ich heute zu viel essen werde." Mit Mitleid aber darf das Tier nicht rechnen - nicht von Taleb, wie er unzählige Male erklärt hat. Denn das unabwendbare Schicksal des Federviehs ist eine der bevorzugten Metaphern, mit denen der Denker seine großen Themen erklärt: Unsicherheit, Zufall, Volatilität und unsere Unfähigkeit, damit umzugehen.

Die tumben Tiere stehen in Talebs Welt für Borniertheit und Kurzsichtigkeit. Der Vogel wird tausend Tage lang vom Metzger gefüttert, bis kurz vor Thanksgiving. Wäre der Vogel Chefanalytiker in einem Unternehmen oder in der Politik, dann hätte er bis dahin mit "wachsender statistischer Zuversicht" verkündet, dass Metzger aufrichtig am Wohlergehen aller Truthähne interessiert seien. Dabei hätte das Tier allerdings einen entscheidenden Fehler gemacht: Der Vogel verwechselt die Abwesenheit eines Beweises für Gefahr mit dem Beweis der Abwesenheit von Gefahr. Und so kommt der Tag, an dem sich die Truthahn-These vom Metzger als bestem Freund als fataler Fehlschluss erweist.

Taleb hat bereits drei Karrieren erfolgreich gestemmt: Er war Wall-Street-Händler, Bestseller-Autor und ist heute einer der anerkanntesten Intellektuellen unserer Zeit. Die Bücher des 54-Jährigen eklektisch zu nennen wäre eine Untertreibung. Völlig ungeniert bedient er sich bei Philosophie, Ökonomie, Soziologie, Mathematik und Statistik, verknetet das Ganze und würzt die Mischung mit einer reichlichen Prise Alltagsbeobachtungen. Herausgekommen ist dabei zuletzt sein Opus Magnum, "Antifragilität", eine Art universeller Gebrauchsanweisung für eine Welt, die immer undurchschaubar und unberechenbar bleiben muss.

Neben dem Truthahn steht dafür ein weiterer Vogel: der "schwarze Schwan". 2007, kurz vor Ausbruch der Finanzkrise, veröffentlichte Taleb ein Buch mit diesem Titel. Darin beschreibt er kaum vorhersehbare, sehr seltene Ereignisse mit extremen Folgen: Thanksgiving für den Truthahn oder die Pleite der Investmentbank Lehman-Brothers, die beinahe das globale Finanzsystem in den Abgrund gerissen hätte.

Der titelgebende Vogel bezieht sich auf ein Theorem der Wissenschaftstheorie. Der Satz "Alle Schwäne sind weiß" kann nie absolut wahr sein. Selbst wenn seit Menschengedenken jeder einzelne Schwan blütenweiß war, reicht ein einziges schwarzes Exemplar, um das Weißheits-Gesetz zu widerlegen.

Taleb macht eine Reihe von Fehlleistungen dafür verantwortlich, dass wir mit "schwarzen Schwänen" nicht umgehen können. So gehen wir davon aus, dass der strukturierte, berechenbare Zufall auch die großen entscheidenden Einschnitte im Leben und in der Geschichte bestimmt. Tatsächlich steckt hinter schwarzen Schwänen aber eine unstrukturierte Klasse von Unsicherheit.

Außerdem sitzen wir dem Irrtum auf, dass sich die Zukunft mit Vergangenheitsdaten vorhersagen lässt. Und schließlich "erfindet" der Mensch Geschichten, mit denen sich im Nachhinein Ereignisse als zwangsläufig erklären lassen, doch diese Erklärungen funktionieren eben nur ex post.

Mehr als drei Millionen Mal verkaufte sich der "Schwarze Schwan" weltweit. Die "Sunday Times" wählte das Werk des Autors mit libanesischen Wurzeln unter die zwölf einflussreichsten Bücher seit dem Zweiten Weltkrieg. Lorbeeren, die bei Taleb gemischte Gefühle auslösen: "Je mehr Leute meine Bücher lesen, desto mehr sind dabei, die sie eigentlich nicht lesen sollten." Am Ende habe der Erfolg ihn nur gezwungen, "zu viel mit der Außenwelt zu interagieren".

Tatsächlich sind Truthähne nicht die einzigen Lebewesen, gegen die Taleb einen gewissen Unwillen hegt. Banker, die meisten Reichen, aber auch Krawatten, das Weltwirtschaftsforum in Davos, genmanipulierte Nahrungsmittel, Ehrendoktorwürden, Ökonomen im Allgemeinen und Paul Krugman im Besonderen erfreuen sich seiner herzlichen Abneigung. Die Liste erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.

Umgekehrt gibt es genügend Menschen, die Taleb nicht leiden können, weil er eben nicht nur brillant und unterhaltsam ist, sondern auch exzentrisch, widersprüchlich, stur und mehr als nur ein bisschen selbstverliebt. Trotz all dieser Fehden aber muss man sich Taleb frei nach Albert Camus als glücklichen Menschen vorstellen. Das liegt vor allem an seiner neuesten Karriere als Distinguished Professor of Risk Engineering an der New York University, die ihm genügend Zeit zum Lesen lässt und den Zwang zur ungeliebten Interaktion mit der Außenwelt deutlich reduziert.

"Ich schreibe im Moment beinahe nur abstrakte, wissenschaftliche Abhandlungen, das ist intellektuell stringenter und deshalb sehr viel befriedigender", sagt er. Diese Abhandlungen tragen dann Titel wie: "On the Biases and Variability in the Estimation of Concentration Using Bracketed Quantile Contributions".

Zu den Berufsgruppen, die Taleb eher anstrengend findet, zählen auch Journalisten. Trotzdem ist er an besagtem Thanksgiving-Feiertag sehr früh für ein Interview aufgestanden. Auf ein solches Gespräch bereitet man sich als Journalist natürlich mit einem akribischen Plan vor - um den dann nach wenigen Gesprächsminuten in sich zusammenbrechen zu sehen.

Dabei ist der Autor bester Laune. Taleb entpuppt sich als äußerst charmanter Plauderer; ein verbaler Flaneur, der einen am Arm nimmt und einfach losspaziert, hier eine unerwartete Abzweigung nimmt, dort einen Umweg einschlägt. So mäandert das Gespräch von den Vorteilen des Pessimismus (Würden Sie gerne zu einem optimistischen Piloten ins Flugzeug steigen?) über das Unwesen der Lobbyisten (haben das politische System gekapert) bis hin zu den Vorteilen der deutschen Kleinstaaterei in früheren Jahrhunderten (kleine dezentrale Gebilde können externe Schocks besser abfedern als große). Am Ende des Gesprächs führt die scheinbar ziellose Wanderung doch noch an eine Art Ziel.

So ähnlich liest sich auch Talebs Hauptwerk "Antifragilität", vermutlich das einzige Buch mit wissenschaftlichem Anspruch, in dem der Autor darüber spekuliert, ob es ihm mehr nutzen als schaden würde, angesehene Ökonomen zu verprügeln.

Das Wort "Antifragilität" hat Taleb selbst erfunden. Dabei unterscheidet er drei Arten von Systemen. Fragile Systeme leiden, wenn man sie stresst, robuste Systeme halten die Belastung aus, antifragile Systeme aber profitieren sogar von Stress und Rückschlägen. Seine These belegt er mit einem typischen Taleb-Beispiel - den beiden fiktiven Londoner Zwillingsbrüdern John und George. John arbeitet seit 25 Jahren für eine Bank, die ihm jeden Monat pünktlich ein ansehnliches Gehalt zahlt. George fährt dagegen Taxi, und naturgemäß unterliegt sein Einkommen starken Schwankungen.

Auf den ersten Blick scheint klar zu sein, wer von beiden das stabilere Leben lebt. Bis John dann eines Tages aus heiterem Himmel ins Personalbüro seiner Bank gerufen wird, sein Job wurde wegrationalisiert, er ist jetzt arbeitslos. Eine lange Zeit scheinbarer Stabilität wurde durch einen einzigen schwarzen Schwan ausgelöscht.

George dagegen erlebt als Taxifahrer Woche für Woche kleinere Schocks. Läuft das Geschäft nicht gut, ist das wahrscheinlich ein Signal, dass er heute in der falschen Gegend fährt und das ändern sollte. Die Volatilität seines Gehalts fördert die Anpassungsfähigkeit von George.

Stark vereinfacht, könnte man Antifragilität mit dem Spruch "Was dich nicht umbringt, macht dich fitter" beschreiben. Aber auch: Was dich umbringt, macht andere fitter. Schließlich kann man nicht nur aus eigenen Fehlern lernen, sondern noch besser aus denen anderer. Jeder Flugzeugabsturz verringert die Wahrscheinlichkeit der nächsten Luftfahrtkatastrophe. Jede Unternehmenspleite zeigt dem nächsten Gründer, welche Fehler es zu vermeiden gilt. Versuch und Irrtum mögen schlimme Konsequenzen für das einzelne Individuum haben, das Gesamtsystem machen sie stabiler.

Das gilt für Staaten ebenso wie für das Finanzsystem und die Anstrengung, es zu reformieren. Folgt man Taleb, dann wäre es falsch, zu versuchen, jede Bankpleite zu verhindern. Viel wichtiger ist es, eine Umwelt zu schaffen, in der auch große Geldhäuser kippen können, ohne gleich das gesamte System mitzureißen.

Um seine Thesen zu belegen, fährt Taleb neben Mathematik und Statistik die halbe westliche Geistesgeschichte auf - von Euklid über den römischen Stoiker Seneca und Montaigne bis hin zu Popper. Wissenschaftler, die sich ausschließlich in einem einzigen Themengebiet bewegen, hält er für, nun ja, nicht ernst zu nehmend. Im Moment sind das alle, die behaupten, das genetisch modifizierte Nahrungsmittel ungefährlich sind. "Das Risiko einer Katastrophe mag klein erscheinen, aber die Folgen wären derart zerstörerisch, dass wir uns Fehler schlicht nicht leisten können", meint Taleb. "Biologen haben noch nie eine Theorie entwickelt, die sich länger als eine halbe Generation gehalten hätte." Und wieder hat sich der Denker ein paar neue Feinde gemacht.

Aber das ist wahrlich kein schwarzer Schwan. Sondern, für alle Taleb-Kenner, ein durchaus vorhersagbares Ereignis. Genauso wie das Schicksal der Truthähne an Thanksgiving.

Taleb stammt aus einer griechisch-orthodoxen Familie, die im Libanon großen Einfluss hatte. Seinen ersten schwarzen Schwan erlebte Taleb als Jugendlicher, als der scheinbar geordnete Staat innerhalb von nur sechs Monaten in einen verheerenden Bürgerkrieg kippte, der das Land 15 Jahre lang lähmen sollte. Taleb ging nach Paris und von dort in die USA, mit Mitte 20 wurde er Derivatehändler an der Wall Street, später Hedgefonds-Manager.

Talebs zweiter schwarzer Schwan kam am 19. Oktober 1987, dem "Black Monday". An einem einzigen Tag brachen die Aktienkurse an der Wall Street um 23 Prozent ein. Taleb hatte den Crash nicht vorhergesehen. Aber er war vorbereitet und verdiente damit rund 40 Millionen Dollar. Heute nennt er das sein "Fuck-off-Money", ein Vermögen, das ihm den Luxus erlaubt, genau das zu tun, was er möchte - und alle zu kritisieren, die ihm zuwider sind.

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