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3. Die Frau als Rätsel, Drohung, Verheißung: Die mythische Struktur

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Im Mythischen vollzieht sich „Aufwachen“ zum größeren Eigenstand: ein Bewusstwerden der Seele gegenüber der erfahrbaren Welt, eine Entfaltung des Innen ergänzend zum Außen. Fast jeder Mythos enthält eine Erhellung, worin dieses Standfassen im Innen im Gleichklang zum Außen deutlich wird. In ein Bild gefasst sind es zwei Hälften, die, obgleich unterschieden, doch zueinander gehören – nicht nur Seele und Himmel (wie in dem schon zitierten Wort Platons38), sondern auch in den polaren Entsprechungen Himmel – Erde, Sonne – Unterwelt, Olymp – Hades; in der Architektur: Höhle/Gewölbe – lichte Säulenreihe, wie beides im griechischen Tempel erscheint. Der doppelköpfige Gott Janus fasst in den beiden Gesichtern von Greis und Kind sichtbar Vergangenheit und Zukunft zur Einheit zusammen. Mythisch ist das Bewusstwerden unterschiedlicher Zeitabläufe, die dennoch aus der Einheit einer einzigen gegenwärtigen Zeit stammen.

Symbol dieser Struktur ist der Kreis, der alle Erscheinungen ausgleichend und ergänzend ineinander bindet: Ende und Anfang gehen ineinander über, das „Rad des Lebens“ kehrt rhythmisch an den Ausgang zurück. Schon das Wort Mythos selbst lässt sich polar bestimmen: die Silbe my- kann sowohl aus myein = schweigen als auch aus mythesthai = reden abgeleitet werden. Denn Schweigen und Reden ergänzen sich, ebenso wie nicht nur das Gesagte entscheidend ist, sondern auch das im Gesagten Verschwiegene. Ein berühmtes Beispiel findet sich in der Pythia von Delphi: In ihren Orakeln läuft ein untergründiger Sinn mit, der vom Hörer nicht unbedingt in seiner gegenläufigen Meinung verstanden wird. „Wenn du diesen Fluss überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören“: Xerxes handelt nach der Weisung in eindeutiger Auslegung, zerstört aber sein eigenes Reich – und der Fehler war, die doppelsinnige Bedeutung nicht mitgehört zu haben.

Ähnliches findet sich in dem erstaunlichen „Gegensinn der Urworte“, die nur aus dem Kontext ihrer Doppelbödigkeit zu entkleiden sind, ohne dass ihre Gegenläufigkeit letztlich zu entschärfen wäre. Hierzu gehören die Wörter sacrum (heilig – verflucht), altum (hoch – tief), malummelius (schlecht – besser); im Deutschen die Wörter all (alles – nichts, wie noch im Dialekt erhalten: etwas ist „all“) oder weg (Weg auf ein Ziel zu – weg von). Solche Urwörter sprechen in einem einzigen Ausdruck die Polarität oder Zwei-Wertigkeit der mythischen Weltsicht aus. Gegensinn gilt auch für Symbole: So kann die Schlange für Tod und Leben stehen (im Paradies vertritt sie den Teufel, in der erhöhten Schlange in der Wüste das Leben); das Wasser ist ebenso tragend wie verschlingend und daher wiederum Ausdruck für Leben oder Tod.

Im Übrigen ist die Mythendeutung weithin mit der geglückten Traumdeutung der heutigen Tiefenpsychologie verwandt.39 Fahrten und Abenteuer der Seele spielen sich nicht nur im Innen des Traumes, sondern für eine ältere Zeit in den Fahrten und Abenteuern der Außenwelt, in den Quests oder Aventuren der Helden ab. „Einsamer, an dir selber führt dein Weg vorbei und an deinen sieben Teufeln“40, formuliert Nietzsche die bestürzende Entsprechung von innerem und äußerem Geschick. Grundsätzlich gilt: Was immer in der Natur, am Himmel, im Ablauf der Jahreszeiten äußerlich sichtbar geschieht, entspricht dem unsichtbaren Auf und Ab der eigenen Seele. „Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ sind die späte, kantische Fassung einer längst mythisch angelegten Weltauslegung, die immer eine Selbstauslegung mitmeint, nicht zuletzt in Form der heute aus vielen Gründen sinnlos gewordenen Astrologie. Mythisch spricht sie nichts anderes aus als das Gesetz der Korrespondenz, der Übertragung, der Ähnlichkeit von Oben und Unten. Ein besonders einleuchtendes Zeichen, das den bindenden Kreis des Ganzen noch mehr erhellt, ist das chinesische Yin-Yang, dessen Verflochtenheit von Hell und Dunkel noch unterstrichen wird durch den gegenfarbigen Pol der beiden Hälften.41

Für die Geschlechter gilt vorwiegend ein polares Gleichgewicht von Mann und Frau; so in der klassischen Formulierung von Laotse im Tao Te King: „Das Männliche liebt das Weibliche. Yin umarmt Yang, und zehntausend Dinge leben in Harmonie durch die Verbindung dieser Kräfte.“42 Doch sind diese Kräfte ebenso gleichgewichtig wie deutlich unterschieden und getrennten Aufgaben zugeordnet. Ein chinesischer Mythos kennzeichnet die Aufgaben von Kaiser und Kaiserin folgendermaßen: Die Welt des Kaisers ist der Tag; er herrscht von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends. In dieser Sonnenzeit nimmt er die Truppenschau ab, spricht Recht, erlässt Gesetze, unternimmt Verteidigung oder Angriff, lässt Kanäle bauen – mit einem Wort, er ist zuständig für Handlung im Sinne von Veränderung. Mit Sonnenuntergang beginnt das Reich der Kaiserin: Ihre wesentliche Aufgabe lässt sich überhaupt nicht bestimmen. In der ihr zugehörigen Nacht kann sie schlafen, dichten, musizieren, mit einem Wort: Sie hat nur da zu sein im Sinne von lebendiger Richtigkeit. Ist sie nicht „richtig da“, dann allerdings kommt es zu elementaren Katastrophen: Es regnet nicht oder zu viel, die Pflanzen sterben, die Frauen bleiben unfruchtbar, die Feinde brechen über die Grenzen, die Jahreszeiten geraten durcheinander. Ihre Zuständigkeit ist der Kosmos, dessen Gesetze sie durch ihr Dasein in Ordnung hält; die Zuständigkeit des Kaisers ist das Leben im Detail, das der Entscheidungen bedarf, aber nicht an die kosmische Selbstverständlichkeit heranreicht. In dieser Gegenüberstellung ist die Welt immer noch primär durch die Frau im Lot; dennoch hat die Erfahrung gezeigt, dass aus beiden Hälften, dem jeweilig Handelnden und der reinen Stimmigkeit des Daseins, das ganze Leben besteht.

Ein anderes, aber gegenteiliges Beispiel: Im Schachspiel kämpft die Dame, der König bleibt fast untätig, ja er wird vom Einsatz der Dame geschützt. Dieses Gegenbeispiel darf aber nicht unter dem Zeichen des Widerspruchs gesehen werden; strukturell handelt es sich um dasselbe polare Empfinden zweier Hälften, die in Spannung zueinander und aus Gegenrichtungen kommend sich zum Einen des Lebens ergänzen.

So entsprechen in den Abenteuern der Helden auch Heldinnen notwendig der Herausforderung des Schicksals. Nausikaa, Penelope, Brunhilde, Ariadne, Isolde stellen unterschiedlichste Gestalten vor, die ihren Helden gleichwertig gegenübertreten und einen Gegenpol zum Mann bilden. Nicht selten kommt es zu einem Wettkampf von höchst merkwürdiger Verflechtung: Brunhilde, stärker als Siegfried, fordert ihn zum Dreikampf heraus, den er nur durch List gewinnt – andererseits wird sie von ihm zuvor aus der Brünne herausgeschnitten, von ihm als ihrem Erlöser. Noch in den späten Aventuren der Artusrunde herrscht diese eigenartige Verflechtung der Geschlechter: Aufeinander angewiesen, kämpfen sie doch um die Macht. Sir Gawan hat auf Tod und Leben das Rätsel zu lösen, was den Frauen das Allerliebste auf der Welt sei. Wieder nur mit List erschleicht er sich die Lösung von Dame Ragnell: „Was wir vor allem anderen von Männern wünschen, das ist: sie zu beherrschen.“43

Überhaupt das Rätsel: Auf Tod und Leben fragt die Sphinx Ödipus, fragt Turandot ihre Freier. Wer die Antwort nicht findet, hat verloren: Das Leben und die Frau, beides ist ihm bestimmt, beides steht aber nicht einfach zur Verfügung, im Gegenteil, dem Mythos gemäß ist es nur durch List zu lösen. Und dennoch: Wird es nicht gelöst, ist das eigene Dasein verscherzt. Die Frau als Rätsel und Verheißung des Mannes – eine unentwirrbare, ebenso bedrohliche wie beseligende Erfahrung, die erst in den späten Märchen notwendig gut ausgeht. Frühe Mythen, etwa das Nibelungenlied oder auch die Geschichte der Turandot, enden mit der Bluthochzeit: dem Sichfinden im Untergang, auf dem „Scheiterhaufen“44, manchmal im „Verbrechen“45. Kampf und Erlösung, beides gegenseitig gemeint, bleiben offen für Sieger oder Siegerin: Die Geschlechterbeziehung kennt Beispiele für beide Möglichkeiten.

Neben der erotischen Herausforderung wird eine weitere Bestimmung des Frauseins wichtig: die doppelte Möglichkeit eines Lebens als Mutter oder Jungfrau. Gerade im Dasein der Jungfrau sieht die mythische Tradition eine Ich-Gewinnung, unabhängig vom Mann, gleichgewichtig zu seiner Selbstständigkeit – freilich nur im Rahmen bestimmter Aufgaben: der Priesterin, der Prophetin, der Sibylle. Die mythische Überlieferung von dem Einhorn, das nur von einer Jungfrau gebändigt werden kann, von dem Schiff, das tiberaufwärts von Ostia bis Rom von einer Vestalin mit Leichtigkeit gezogen wird, während hundert Ruderer es nicht von der Stelle schaffen können – diese eigenartige Gewalt der Jungfräulichkeit drückt sich im Mittelalter noch in der Rechtsform jungfräulicher Lösegewalt für Verbrechen aus. Vom Galgen weg konnte eine Jungfrau den Verbrecher durch Heirat begnadigen, im Sinne eines Naturrechtes, dem gegenüber das positive Recht ungültig wurde.46 Es lässt sich fragen, ob dieses Bild der Jungfrau nicht bereits zum magischen „Untergrund“ sakral verstandener Weiblichkeit gehört; dies ist sogar zu vermuten. Dennoch hat die mythische Ausformung, im Sinne der genannten Entsprechung zweier Hälften, die beiden Möglichkeiten des mütterlich gebundenen und des jungfräulich freien Lebens in ihrem notwendigen Zusammenhang entfaltet.

Je länger, je mehr bilden sich für die beiden „Hälften“ Mann und Frau gleichsam feststehende Eigenschaften heraus, die in der Folge als unverrückbare geschlechtliche Merkmale verstanden wurden. So hat etwa die Romantik folgende Zuordnungen entwickelt47:

Mann Frau
außen innen
Weite Nähe
Öffentlichkeit Haus und Familie
Energie, Wille Schwäche, Hingebung, Ergebung
Festigkeit Wankelmut
Tapferkeit, Kühnheit Bescheidenheit
selbstständig abhängig
erwerbend bewahrend
gebend empfangend
Durchsetzungsvermögen Selbstverleugnung, Anpassung
Gewalt Liebe, Güte
Geist Gefühl, Gemüt
Denken Rezeptivität
Wissen Religiosität
Würde Anmut, Schönheit

In dieser späten Festschreibung ist die Polarität mythischer Geschlechtererfahrung nicht nur schematisch geworden, sondern, zumindest unterschwellig, bereits aus der Gleich-Gültigkeit herausgetreten. Dies darf jedoch nicht dem mythischen Ansatz als solchem angelastet werden, in dem in der Tat weder Unter- noch Überordnung, eben deswegen auch noch keine Wertigkeit der beiden Hälften gegeben schien, sondern die Notwendigkeit der Spannung des Daseins zwischen zwei Polen zu Wort gebracht wird. Noch einmal: Schweigen und Reden, hell und dunkel, aktiv und passiv sind zwar getrennte, aber nur aneinander verständliche Erfahrungen. Die Entscheidung nur zu einer Seite würde mythisch das Eingeholtwerden von der anderen Seite bedeuten: Ödipus, der seinem Schicksal entläuft, läuft geradewegs darauf zu. Die späte Formel Martin Bubers: „Am Du gewinnt sich das Ich“48, kann auch auf die unauflösliche und unbewertbare Balance der Geschlechter hin gelesen werden.

Was in Kampf und Bezogenheit von Mann und Frau auf der „Erde“ aufscheint, kennt seine Analogie im „Himmel“ oder in der „Unterwelt“. Das Gleichgewicht von Göttern und Göttinnen in den griechischen oder germanischen Theomythen wiederholt spiegelbildlich die beschriebene anthropologische Erfahrung. Auch im göttlichen Bereich herrscht polare Ordnung: In der Ilias entscheidet das Schlachtenglück nicht nur zwischen Griechen und Trojanern, sondern entsprechend zwischen Göttern und Göttinnen verschiedener Parteien. Mehr noch, die Gleichgültigkeit der beiden Hälften ergänzt sich nicht nur im klassischen Rund des Pantheons. Sie kennt auch eine Unentschiedenheit der Werte, eine Auslieferung an alle Möglichkeiten. Gut und Böse, Leben und Tod, Zeus und Hera, aber auch Zeus und Pluto sind nach wie vor notwendig gleich stark, ein spannungsreiches Ganzes. Deus und Devil (Teufel) haben etymologisch denselben Wortstamm deu-, und die griechischen Götter können lügen und betrügen, wie Hermes der Götterbote und der Lügner ist, anhand derselben Botschaft übrigens. Ob der Gott den Menschen täuscht oder der Mensch die Götter – beides gehört zum Ganzen aus Wahrheit und Lüge, Schein und Sein, Ordnung und Chaos, aus dem die Welt unzweifelhaft besteht. Im Letzten lässt sich nicht entscheiden, was stimmt: Was oben gilt, gilt unten, wie es die orphische Tabula smaragdina formuliert, aber auch: Was oben gilt, gilt unten nicht. Und wieder treffen beide Sätze zu; ihre Bedeutung ist übrigens im genannten Sinne gleichgültig. Auch der göttliche Geschlechterbezug – Hera im Widerspruch zu Zeus, Zeus im Kampf gegen Hera – zeigt noch einmal den Unterschied von Kaiser und Kaiserin (als spielten sich ihre verschiedenen Aufgaben auf verschiedenen Ebenen ab und würden sich gleichsam im selben Hause gar nicht treffen) und zugleich das Verweben beider Seiten zum Ganzen der himmlischen Entscheidungen. Welchen Faden immer der betroffene Mensch aus dem Gewebe des Schicksals herauszieht: Er kann versichert sein, dass das ganze Gewebe ihm noch wesentlich anderes als erwartet bescheren wird.

Personales Entschiedensein für etwas Bestimmtes, für einen erklärten Wert, ist ein Zug, der erst in späten Mythen auftritt und diese Welt des Gleich-Wichtigen oder des Gleichgewichts aufreißt. Dieser Zug kündigt sich etwa im Mythos von Athenes Geburt an: Athene49, die jungfräuliche Göttin der Tagesklarheit, die das Dunkle erstmals als Dunkles sieht (die Eule als erstes Attribut), wird Inbegriff des bewussten Denkens, der zielgerichteten Entscheidung (der Speer als zweites Attribut). Sie entspringt als Kopfgeburt (!) dem Haupt des Zeus und hinterlässt darin eine klaffende Wunde: Der Gleichklang des Kreises ist durchbrochen durch das erwachte, ichbewusste, entschiedene Denken.

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