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1. Kapitel

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Frankenstein … Phil!

River riss die Augen auf. Wieder dieser fürchterliche Traum, der die Geschehnisse aus seiner Kindheit mit jeder Nacht erneut in sein Gedächtnis einbrannte. Offensichtlich gab es kein Mittel dagegen, also musste er diese unmenschlichen Schmerzen und die Verachtung der Männer, von denen er damals gehofft hatte, ihnen angehören zu dürfen, wieder und wieder ertragen. Rivers Körper war schweißüberströmt. Keuchend setzte er sich auf, strich über die Stirn und stützte dann den Kopf in seine linke Hand. Die rechte hatte er so kurz nach dem Aufwachen manchmal noch nicht unter Kontrolle. Die mechanischen Finger waren zur Faust geballt, obwohl er nicht wissentlich den Befehl dazu gegeben hatte. Die Kontrollleuchten in seinem linken Sehkraftverstärker meldeten einen unbekannten Fehler. Sie hatten schon viel zu lange kein Update mehr erhalten, um weiterhin einwandfrei funktionieren zu können. Nach etwa zehn Sekunden schaltete die Meldung sich ab und verkündete, dass sich alles wieder im Normalzustand befand. So normal, wie es einem Cyborg überhaupt möglich war. River stand auf. In seinem Unterschlupf war es düster. Er zog einen schmutzigen Vorhang zur Seite und blickte aus dem mit Stahl vergitterten Fenster. Gegen die Silvers hatte die Schutzvorrichtung den ehemaligen Bewohnern des Apartments nichts genutzt, das zeigten die beiden im Bett liegenden Skelette. Zwei geleerte Sektgläser standen auf dem Nachttisch. Daneben lag ein Röhrchen mit Schlaftabletten. Zu Rivers grenzenlosem Bedauern war es ebenfalls leer gewesen. Er verfluchte das Paar, das ruhig mit weniger Tabletten den Weg vom Leben zum Tod hätte antreten können. Aber sie wollten wohl auf Nummer Sicher gehen, und er konnte es ihnen nicht wirklich verübeln, auch wenn das bedeutete, dass er selbst jeden Abend darum kämpfen musste, ein paar wenige albtraumbehaftete Ruhestunden zu finden. Mehrere Fotos in der Wohnung zeigten das Paar. River hatte sich am Anblick der Frau gar nicht sattsehen können. Sie erregte ihn jedoch nicht, sondern er versuchte sich vorzustellen, dass seine Mutter genauso ausgesehen hatte. Und nur darum hatte er eines der Fotos eingesteckt, auf dem die Frau gütig lächelte. Etwa eine Woche musste das nun her sein, seitdem harrte er hier aus, bis Jack eintreffen würde. Solange tat er nichts anderes, als warten. In regelmäßigen Abständen überzeugte er sich davon, dass die Gegend frei von Silvers war. Der Blick aus dem Fenster ermöglichte ihm die Aussicht auf einen Teil der von Blättern bedeckten Straße. In jedem der vom Metall eingefassten Quadrate zog etwas anderes das Augenmerk auf sich: ein umgestürzter Baum. Eine verweste Leiche, daneben das Skelett eines Hundes, der die Leine um den nun viel zu dürren Hals trug. Überbleibsel eines alltäglichen Lebens, das es in dieser Form wohl nirgends auf dem Planeten mehr gab. Alles hatte sich verändert, seit die Silvers auf der Erde erschienen waren. Sie hatten sämtliche weiblichen Menschen zum Sterben verurteilt. Herrscher über Leben und Tod – die außerirdischen Invasoren hatten sich auf diesen Thron gesetzt, der zuvor angeblich einem Wesen gehörte, das man Gott genannt hatte. River war überzeugt davon, dass es keinen Gott gab, denn sonst hätte er seine wundervolle Mutter ganz bestimmt davor bewahrt, einen grausigen Tod zu sterben. Zumindest ging River davon aus, dass sie wundervoll gewesen war, auch wenn er ebenso überzeugt war, dass sie ihn nun, da er ein Cyborg war, verstoßen hätte. Wer wollte schon ein Geschöpf zum Sohn, das aus künstlichen Implantaten, Kabeln und mechanischen Kraftverstärkern bestand? River ekelte sich oft genug vor sich selbst, wie hätte es seine Mutter da nicht tun sollen? Bis vor kurzem hatte River sogar gedacht, dass er niemals so etwas wie Nähe erleben würde. Aber als Jack ihn kurz vor seiner Abreise sanft an Stellen berührt hatte, an denen River nie zuvor auf diese Art von einem anderen berührt worden war, hatte er es als tröstlich und erregend zugleich empfunden. Jack hatte genau gewusst, wie Rivers Körper funktionierte. Das hatte diesen erstaunt, denn wie er war Jack ein Cy – so wurden sie von den meisten Menschen mit Abscheu in der Stimme genannt. Die Cys unterschieden sich voneinander. Diverse Elemente und Schaltkreise sorgten für eine Individualität, die sich für River jedoch eher belastend anfühlte, als befreiend. Er sehnte sich nicht nach Einzigartigkeit, sondern danach, wirklich jemandem anzugehören. Seit Phils Tod brannte dieser Wunsch in ihm. In Jack hatte er nun endlich eine Person gefunden, der er nahe sein durfte. Und Jack hatte ihn förmlich studiert, um sich auf ihn einzustellen. Es war dem Freund tatsächlich vorzüglich gelungen.

»Wir brauchen die Weiber doch gar nicht, um uns zu amüsieren«, hatte Jack kurzatmig geraunt, während ihm eine Träne übers Gesicht gelaufen war. River wusste nicht, ob sein Freund das selbst überhaupt bemerkt hatte, denn er war in diesem Moment viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, sein hartes Glied mit Rivers Hand zu bearbeiten. Natürlich hatte er die nicht-mechanische gewählt und sie fest umklammert, damit River nicht im entscheidenden Moment aufhörte. Als es vorbei war, hatte er jedoch darauf bestanden, dass River sich ebenfalls entblößen sollte. Und der hatte es getan, weil er seinem Freund vertrauen wollte. Jack hatte gelacht, da Rivers Erektion nicht halb so steif war, wie seine eigene.

»Weißt du, was meine Frau immer getan hat, wenn sie meine schlappe Nudel gesehen hat? Sie hat sie zwischen ihre Brüste geklemmt und gestöhnt, was das Zeug hält. Das hat ihn immer hoch gebracht. Aber bei dir …? Da müssen wir uns wohl was anderes einfallen lassen, denn geile Weibertitten gibt’s nicht mehr.«

Und während River noch mit seinen Gedanken bei dieser Frau verweilte, die es nun schon lange nicht mehr gab, hatte Jack sich hinabgebeugt und seine schlappe Nudel zwischen die Lippen genommen. River hatte keine Ahnung gehabt, wie überwältigend das Gefühl sein würde, wenn jemand anderes ihn sexuell stimulierte, und Jack war überrascht gewesen, dass er so schnell abspritzte. Er hatte das Sperma ausgespuckt und River auf die Schulter gehauen.

»Und? Fühlt sich gut an, oder? Du wirst schon sehen, wir kommen prima über die Runden, wenn wir es uns gegenseitig machen. Das nächste Mal möchte ich, dass du mir auch einen bläst. Das bist du mir schuldig.« Bis auf Phil waren es immer Männer wie Jack gewesen, die River durchs Leben geführt hatten. Männer, die wussten, wie man andere behandeln musste, um zu bekommen, was man wollte. Männer, die den Ton angaben und bestimmten, wohin River zu gehen hatte. So wie Jack es nun ebenfalls tat. Obwohl sie sich erst zwei Tage vor dem ersten sexuellen Kontakt in einem verlassenen und beinahe gänzlich leergeräumten Supermarkt kennengelernt hatten, entschied Jack nach zwei weiteren Tagen, dass sie gemeinsam auf das Schiff gehen sollten. Es handelte sich dabei um ein ehemaliges Kreuzfahrtschiff, das Fahrten in die ganze Welt unternommen hatte. Nun war es der einzige Ort, an dem die Cys, bis auf einige Ausnahmen, unter sich waren. Jack, der über zwei künstliche Beine verfügte und dessen halber Schädel aus Metall bestand, sehnte sich danach, nur noch mit jenen zu tun zu haben, die so waren wie er selbst. River hatte nie darüber nachgedacht. Für ihn war es alltäglich, beschimpft und bespuckt zu werden. Die Menschen wussten es eben nicht besser. Für sie waren die Cys eine Abart der Silvers, auch wenn das eine nichts mit dem anderen zu tun hatte. Obwohl sogar Frankenstein das anders gesehen hatte. Phil Raven, wie er mit richtigem Namen hieß, hatte River zu dem gemacht, was er heute war. Und so wütend River manchmal gerne auf ihn gewesen wäre, so sehr war ihm bewusst, dass er ohne diesen kauzigen alten Mann nicht mehr leben würde. Jack behauptete, dass das auch sicher besser so wäre, aber River teilte diese Meinung nicht. Er spürte einfach, dass es etwas in seinem Leben gab, das es noch zu entdecken galt. Er wusste instinktiv, dass er Großes bewirken würde. Also weigerte er sich vehement, an etwas zu verzweifeln, das nun mal nicht zu ändern war – und das bedeutete in seinem Fall, ein Dasein als halbkünstliche Lebensform führen zu müssen. Wenn er auf das Schiff gehen konnte, wäre das ohnehin keine große Sache mehr. Vielleicht würde er zum ersten Mal in seinem Leben eine Form von Frieden finden. Das zumindest war es, was Jack dort anstrebte. River wusste, wie wichtig seinem Freund das war. Und so hatte er es sich ebenfalls zum Ziel gesetzt, obwohl er den Gedanken einfach nicht los wurde, dass es in Wahrheit eine Flucht vor seinen Aufgaben war. Denn so sehr die übrig gebliebenen Menschen die Cys auch hassten, so sehr waren sie doch darauf angewiesen, von ihnen beschützt zu werden. Als die Silvers ihre Horden wie einen zerstörerischen Schwarm Heuschrecken über die Menschheit geschickt hatten, hatten sie ihre Technik mitgebracht. Operationswerkzeuge und technisch hochentwickelte Komponenten, die sie für sich selbst benötigt hatten, waren zurückgeblieben. Es war der Abfall einer Zivilisation, die sich praktisch täglich völlig neu erfand und jeder modernen Errungenschaft der Menschheit den Mittelfinger zeigte. Die Silvers waren gnadenlos überlegen, doch sie hatten unterschätzt, was die, die sie schon zerstört zu haben glaubten, aus ihren Hinterlassenschaften machen würden. Und die Silvers, die zurückgeblieben waren, um den Menschen den Rest zu geben, sahen sich nun bereits seit einigen Jahren einer neu erstarkten Menschheit gegenüber, die zumindest in einzelnen Teilen ihrer eigenen Art zu entsprechen schienen. Die Cys waren weder Mensch noch Silver. Und doch sahen die Menschen sie wohl eher als Silvers an, statt als Abkömmlinge ihrer eigenen Rasse. Sie waren gut genug, für die Menschheit zu kämpfen, doch nicht gut genug, ihr anzugehören. River nahm sein Schicksal dennoch an und tötete jeden Silver, der ihm in die Quere kam – und er hielt sich von Menschen fern, weil er wusste, dass sie ihn verachteten und fürchteten. Doch egal wie viele Feinde River in der Zeit seiner eigenen Existenz vernichten würde, am Ende – das war eine unumstößliche Tatsache – würden die Invasoren so oder so gewinnen. Denn sogar wenn die Cys die totale Ausrottung der Erdbevölkerung aufhalten konnten, so würde eine neue Generation, ohne Frauen, die diese Nachkommen gebaren, niemals existieren. River wusste das, aber er hatte sich vorgenommen, aus seinem Leben trotzdem das Beste zu machen. Er hatte nicht als Junge die Einsamkeit und das Feuer überlebt, um nun in Trübsal dahinzuvegetieren. Ganz im Gegenteil, sah er doch einer Zukunft mit Jack entgegen, die ihren eigenen Reiz hatte. Das Schiff würde ihnen gestatten, ohne Verpflichtungen und ohne die Anfeindungen derer zu leben, die ihren Schutz einforderten. Manchmal machte es River wütend, wenn er darüber nachdachte, dass die Männer ohne technische Komponenten ihn wie ein Werkzeug ansahen … wie eine Waffe ohne Gewissen. Oh doch, er hatte ein Gewissen! Vielleicht wäre das etwas gewesen, auf das seine ihm unbekannte Mutter doch stolz gewesen wäre.

Phil hatte immer gesagt: »Mein Junge, ich musste eine halbe Maschine aus dir machen, noch bevor du überhaupt gelernt hast, was es heißt, ein Mensch zu sein. Und was es heißt, ein Mann zu sein, wirst du vermutlich nie begreifen können. Denn das, was einen Mann ausmacht – die Liebe einer Frau – wirst du nie kennenlernen.«

River hatte ihm bis vor Kurzem geglaubt. Und natürlich hatte Phil recht behalten, dass dies mit einer Frau nicht mehr möglich war. Aber durch Jack hatte er die Liebe und Leidenschaft doch noch kennengelernt. Er war sich allerdings nicht sicher, ob er diese Gefühle bei einer Frau überhaupt wirklich entwickelt hätte, denn der Gedanke an Jack machte ihn dermaßen an, dass er sich keinen anderen Körper wünschte, um Erfüllung zu finden. Jack … wo blieb er nur? Eigentlich hätte er bereits gegen Mittag eintreffen müssen. Vermutlich war es doch nicht so einfach gewesen, die Substanzen aufzutreiben, die ihnen als Ticket für ein Leben auf dem Schiff dienen sollten. Es waren Drogen, die früher relativ einfach gekauft und konsumiert werden konnten. Doch die Labore, in denen sie hergestellt worden waren, waren nun zum größten Teil zerstört. Inzwischen gab es nur noch wenige Stellen, an denen man erfolgreich Drogen beschaffen konnte. Da Geld keine Rolle mehr spielte, existierten andere Tauschmittel. Jack hatte ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen darum machen, denn er würde alle Angelegenheiten regeln. Und danach hatte er ihm ein Leben in Frieden und mit gegenseitiger Liebe versprochen. Diese Aussichten seien es wahrlich wert, ein paar letzte Risiken einzugehen, hatte Jack gesagt. Und River hatte ihm zugestimmt und versprochen, in dem verlassenen Haus, nahe dem Hafen, zu warten. Das Schiff sollte am nächsten Tag gegen Mitternacht an Pier 15 eintreffen, um ihn und Jack an Bord zu nehmen. Doch natürlich würde man sie nur aufnehmen, wenn sie genügend Drogen mitbrachten, um sich ihr Aufenthaltsrecht dort zu sichern. Seit einigen Jahren überquerte das Schiff inzwischen die Ozeane und garantierte zahlungsbereiten Cys die Möglichkeit, auszusteigen. Jack war der Meinung, dass es ihm selbst und River mehr als gegönnt sein müsste, dem Leben als Kampfmaschine zu entfliehen. Er sagte stets, dass er genug geopfert hatte, denn seine Frau war gleich beim ersten großen Angriff der Invasoren getötet worden. Seine drei Töchter hingegen waren eine nach der anderen von dem schrecklichen Virus dahingerafft worden. Manchmal redete Jack im Schlaf, und es brach River fast das Herz, wenn er hörte, wie er um das Leben seiner Kinder flehte, und weinte, wenn er realisierte, dass es niemanden gab, der sie retten würde. Doch am Tag sprach Jack praktisch nie von seiner Familie, und River fragte nicht. Vielleicht nahm Jack Rücksicht, weil er wusste, dass River nichts zu erzählen hatte, was seine eigene Familie anging. Doch egal wie die Vergangenheit ausgesehen hatte, nun waren sie eine Einheit, er und Jack. Ein Paar … Ja, das waren sie, und es fühlte sich verdammt gut an! River blickte erneut aus dem Fenster, aber er erkannte nur einen großen schwarzen Vogel, der Fleischstücke aus dem Leib eines am Boden liegenden Artgenossen hackte. Hinter den letzten Hausreihen wurde der Himmel dunkler. Die Nacht würde bald hereinbrechen. Der Wind frischte auf und trug die Meeresluft ins Innere des verfallenden Gebäudes. Bald schon würde River den Salzgeruch gar nicht mehr wahrnehmen, weil er ihn ständig umgab. Sicher, seine technischen Komponenten würden darunter leiden, aber an Bord sollte es ein paar Menschen wie Phil geben, die sich freiwillig der Wartung der Cys verpflichtet hatten. Denn obwohl die Cys die Technik in sich trugen, fehlten den meisten die fachlichen Kenntnisse wie ihre Komponenten im Einzelnen beschaffen waren und interagierten. Sie benötigten nach wie vor Techniker für ihre künstlichen Elemente sowie Mediziner für ihre organischen Körperteile. Nur das reibungslose Zusammenspiel von beidem sicherte ihr Überleben. River war erstaunt, dass es Menschen gab, die sich freiwillig für den Dienst an Bord des Schiffes gemeldet hatten. Ob Phil das ebenfalls getan hätte? River war sich nicht sicher, obwohl der Mann, der von allen Frankenstein genannt worden war, sein Leben gerettet hatte. Inzwischen war River klar, dass er ihn als Sohnersatz angesehen hatte. Er war der Strohhalm gewesen, nach dem Phil nach dem tragischen Verlust seiner Frau gegriffen hatte, um nicht durchzudrehen. Also rettete er das Kind, das man mit schwersten Brandverletzungen zu ihm gebracht hatte. »Ein Wunder ist nötig, um den Knaben zu retten. Als Mensch wird er nicht überleben, das steht fest. Aber als Cy hat er vielleicht eine Chance. Keine große, aber immerhin kann ich es versuchen.« Genau das hatte er getan – und er hatte tatsächlich ein Wunder vollbracht.

*

Ein Geräusch weckte River. Er hatte sich vor dem Fenster auf einen Stuhl gesetzt, um in der Dämmerung die Straße im Auge behalten zu können. Nun passte sein Sehkraftverstärker sich der Dunkelheit an, die inzwischen von der Welt Besitz ergriffen hatte. River sah drei Gestalten, die auf das Haus zukamen. Das Geräusch, das ihn geweckt hatte, war Jacks hydraulischer Beinantrieb, der immer dann knirschte, wenn sein Freund es eilig hatte. Und diesmal hatte er es sehr eilig, denn die drei Männer wollten offensichtlich so schnell wie möglich von der offenen Straße verschwinden. River lief zur Tür, um sie einzulassen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wen sein Freund da mitbrachte. Dass es sich bei den beiden Männern nicht um Cys, sondern um Menschen handelte, hatte River sofort erkannt. Seltsam, dass sie sich in die Nähe eines Cy-Unterschlupfs wagten. Und noch seltsamer, dass Jack das zuließ. Als River die Tür öffnete, küsste Jack ihn nicht wie sonst zur Begrüßung, sondern ließ die beiden Männer ein und sagte: »Das ist River.« Daraufhin betrachteten die Männer River aufmerksam, während Jack nun doch auf ihn zutrat und ihn umarmte.

»Okay, der Deal gilt. Wir nehmen den Typen mit. Sorge dafür, dass er sich nicht wehren kann«, sagte einer der Männer.

Erst jetzt bemerkte River, dass die Umarmung seines Freundes in Wahrheit dazu dienen sollte, die Metallplatte an seiner Schulter zu erreichen. Jack sah ihm in die Augen, während seine Finger an den Verbindungsstellen entlangtasteten. »Halt still, unsere Zukunft hängt davon ab.« River wusste nicht, was er davon halten sollte, doch er tat, was Jack wollte, weil er ihm bislang immer vertrauen konnte.

»Deaktiviere den Mistkerl! Es macht mich nervös, wenn so ein Monster noch nicht umprogrammiert ist!«, herrschte der andere Mann Jack an. Er trug einen Gegenstand bei sich, der ziemlich groß war. Der zweite Mann griff nun ebenfalls danach, und sie entfalteten eine Trage.

Als Jack sich in diesem Moment am Öffnungsmechanismus der Metallplatte zu schaffen machte, schlug River dessen Arm weg. Jack schlug sofort zurück, als hätte er mit Gegenwehr schon gerechnet. Er traf ihn im Gesicht. Irritiert nahm River eine rote Substanz wahr, die über sein Augenimplantat lief. Dann erst spürte er Schmerz an seiner Augenbraue. Schlimmer noch als die schrillenden Warnsysteme in seinem Inneren waren die Gefühle, die auf ihn einstürmten. Warum tat Jack ihm so etwas nur an? Wieso fügte er ihm absichtlich Schmerz zu? Doch er konnte sich nicht lange mit diesen Gedanken aufhalten, da Jack schon die nächste Attacke startete. River wollte dessen Hand festhalten, die sich um seine Kehle legte, doch ehe er sich wehren konnte, hatte Jack ihm sein mit Metall verstärktes Knie in die Weichteile gerammt. Keuchend krümmte sich River, die Warnlampen an seinem Bein blinkten. Jack stieß ihn auf einen Tisch und beugte sich über ihn, während er mit beiden Händen Rivers Schultern auf die Tischplatte drückte.

Die Männer hatten die Trage fallen lassen und waren ein Stück vor den beiden kämpfenden Cys zurückgewichen. »Du hast ihn unter Kontrolle. Jetzt deaktiviere den Scheißkerl endlich! Warum dauert das so lange?«, fragte der kleinere zornig und nervös zugleich.

»Weil River erst begreifen muss, dass hier Endstation für ihn ist«, sagte Jack.

River starrte ihn erst entsetzt an, dann stieß er aus: »Bist du irre? Was soll das werden? Was ist mit dem Schiff? Du hattest mir ein Leben in Frieden versprochen. Aber vor allem dachte ich, du liebst mich!«

Die beiden Männer kicherten gehässig und einer ließ sich vernehmen: »So viel Liebe, wie du bei uns bekommen wirst, bekommst du sonst nirgends.«

In diesem Moment schalteten Rivers Systeme auf Angriff, doch auch das schien Jack bereits eingeplant zu haben, denn er hatte seinen mechanischen Arm erhoben und sandte einen Stromstoß direkt in Rivers Brust. Alle Systeme meldeten augenblicklich Fehlfunktionen, und River war nicht mehr in der Lage, seine menschlichen Extremitäten zu bewegen. Wieder legte ihm Jack die Hand an die Schulter. Seine Finger suchten zweifellos nach einer Stelle, um die Metallplatte zu lösen, damit er die darunterliegenden Kabel erreichen konnte, um sie von seinen Systemen zu trennen. Nur mühsam konnte River einige Worte formen, da seine Zunge ihm nicht mehr gehorchen wollte. »Was … machst du? Warum, Jack? … Warum?«

Jack blickte ihm in die Augen, ohne sein Tun zu unterbrechen. »Du musst das verstehen, River. Das Schiff kommt zwar wie geplant, und es wird nach wie vor die Rettung sein. Allerdings nur für mich. Du wirst an Land bleiben, und dein Leben wird sich leider ziemlich zum Nachteil verändern.«

»Du ver … dammtes Arsch … loch!« Rivers Gesicht verzog sich vor Wut, doch zu mehr war er kaum imstande.

»Beeil dich doch mal!«, blaffte einer der Männer, der andere ließ ebenfalls keinen Zweifel daran, dass er es eilig hatte. »Reiß ihm endlich das scheiß Kabel raus, damit er sein Maul hält!«

Jack ließ sich davon nicht beeindrucken. Im Gegenteil hielt er sogar inne und strich mit seinen Fingern über Rivers vor Zorn angespannte Wange. Er kam ihm nun so nahe, dass der wehrlose River dessen Atem auf seiner Haut spüren konnte, während Jack ihm erklärte: »Sich das Leben an Bord zu erkaufen, ist teurer, als ich es dir gesagt habe. Sehr viel teurer sogar, um ehrlich zu sein. Aber in der Tat wird für uns beide ein neues Leben anfangen. Denn um genügend Drogen bekommen zu können, habe ich deinen Arsch verkauft. Nun, genau genommen habe ich jedes einzelne organische und technische Bestandteil von dir verkauft. Junge Kerle, gut gebaut und mit einem attraktiven Gesicht wie deinem, sind ein Leckerbissen in den Docks. Vor allem ist man wild auf Cys, die wehrlos gemacht wurden.«

»Dann mach ihn auch endlich wehrlos!«, sagte der kleinere der beiden Männer zornig.

Jack wandte sich zu ihm um. »Willst duʼs selbst übernehmen?«, fragte er herausfordernd und grinste, als der Angesprochene den Kopf schüttelte. »Ich packe keinen Cy an, der nicht außer Gefecht gesetzt wurde. Das war verdammt nochmal DEIN Job!«

»Den ich auch ausführen werde. Ich habe gesagt, dass ich ihn deaktiviere. Und zwar dann, wenn ich es für richtig halte. Solange geduldet ihr euch gefälligst!« Er wandte sich nun wieder an River. »Keine Sorge, ich habe die schöne Zeit nicht vergessen, die wir miteinander verbracht haben. Und ich habe erstritten, dass ich dich umprogrammieren darf, bevor du dein Leben als Sexsklave beginnst.«

»Nein … du mieser …Scheißkerl«, brachte River mühsam über die Lippen.

Jack tat so, als hätte er ihn gar nicht gehört. Er machte sich wieder an Rivers Schulter zu schaffen. »Ich werde deine Systeme so einstellen, dass du gar nicht merkst, was passiert. Du wirst automatisch handeln und dich fügen, ohne dass du dich dabei auch nur ein Stück weit wie ein Mensch fühlen wirst. Du siehst also, es ist gar nicht so schlimm. Und das Beste ist, dass du dir sicher sein kannst, mir zu einem wundervollen Leben verholfen zu haben. Du hast doch neulich gesagt, dass du dir nichts mehr wünschst, als dass ich glücklich bin. Nun, River, dich zu verkaufen, macht mich glücklich, weil es mir ein sorgenfreies Leben ermöglicht. Du siehst also, ich nehme nur, was du mir ohnehin schenken wolltest.«

»Jetzt rede nicht so viel, sondern mach deinen Job!« Der größere Mann hatte endgültig die Geduld verloren. Er spuckte Jack vor die Füße und funkelte ihn zornig an.

Jack senkte den Blick. Er sah auf den Speichel, der für einen Cyborg geradezu in der Dunkelheit leuchtete. Er nahm die Hand von Rivers Schulter und wandte sich den Männern zu. »Wolltest du mich anspucken?«, fragte er nun drohend.

»Spiel dich nicht so auf, Blechhaufen. Du bist doch letztendlich genau der gleiche Technik-Dreck wie dein Kumpel, den du auslieferst.«

»Genau! Du scheiß Cyborg!«, schloss der zweite Mann sich an.

River spürte, wie der Stromstoß von seinen Systemen abgearbeitet wurde. Viel zu langsam jedoch – mit geradezu lähmender Beschaulichkeit. Er versuchte erneut zu sprechen, doch über seine Zunge hatte er momentan absolut keine Gewalt mehr.

»Ich wurde wie ihr als Mensch geboren«, sagte Jack an die Männer gewandt und fuhr fort: »Jeder Cy wurde das. Wir sind keine Silvers! Wir hatten Gefühle, bevor wir verwandelt wurden – und wir haben sie noch! Wie, zum Teufel kommt ihr drauf, so mit mir zu sprechen?« Jack machte einen Schritt in Richtung der beiden Männer, diese zuckten aufgrund der drohenden Gefahr zusammen.

»Wir haben einen Deal«, erinnerte der kleinere von ihnen.

»Ich hab’s mir anders überlegt«, sagte Jack.

»Du kannst es dir nicht einfach anders überlegen. Du bist ein Drecks-Cyborg! Ihr seid verpflichtet, Befehle auszuführen. Und ich gebe dir jetzt den Befehl, dich an unsere Vereinbarung zu halten!«

Jack lachte nur spöttisch über diese Forderung. »Befehle soll ich befolgen? Von Menschen, die so schwach sind, dass ich euer Rückgrat mit meinem kleinen Finger zerbrechen könnte. Ihr habt doch keine Ahnung von uns! Eure Schwänze wollt ihr in unsere ohnehin schon vergewaltigten Körper stecken. Ihr bekommt nur einen hoch, wenn ihr euch überlegen fühlt. Aber die Wahrheit ist, ihr seid nicht überlegen. Ihr seid der wahre Abschaum der Menschheit!«

»Warum regst du dich auf? Du gehst doch aufs Schiff. Und wie viele Schwänze dein Kumpel in den Arsch bekommt, braucht dich dann nicht mehr zu interessieren.«

»Es gibt eine Planänderung«, bekräftigte Jack mit kalter Stimme. »Statt euch einen von uns auszuliefern, werde ich die Drogen ohne Gegenleistung nehmen. Und ihr werdet mir nun sagen, wo ihr sie deponiert habt!«

»Aus welchem Grund sollten wir das wohl tun?«

»Weil ihr ansonsten einen qualvollen Tod sterben werdet, der euch wünschen lässt, niemals geboren worden zu sein.«

Die Starre in Rivers Fingerspitzen verflüchtigte sich; sein rechtes Lid schloss und öffnete sich hektisch, ohne dass er es unter Kontrolle bringen konnte. Der Rest war immer noch außer Funktion. Wenigstens schlug sein Herz, und der Atem strömte ihm verlässlich in die Lungen. Kein Wunder, Jack hatte ihn ja nicht töten, sondern nur lähmen wollen. Um ihn zu verkaufen … an Menschen … als deren Sexsklave. Oder war es nur eine Show für die Menschen gewesen, damit sie dachten, Jack würde mit ihnen zusammenarbeiten? Zumindest hatten sie inzwischen zweifellos kapiert, dass er nicht mehr mitspielte. Und nun begriffen sie auch endlich, dass ihr Leben in Gefahr war. Einer von ihnen zog ein Gerät aus seiner Hosentasche, mit dem er auf Jack zielte.

Dieser war jedoch schneller und schlug es dem Mann so heftig aus der Hand, dass nicht nur das Gerät durch die Luft flog, sondern gleich drei Finger mit ihm.

»Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaah! Du Dreckskerl!« Der Mann hielt sich die blutüberströmte Hand und starrte fassungslos darauf. »Los, Bill, mach ihn kalt!«, brachte er dann stöhnend hervor, bevor Jack ihm mit zwei gezielten Tritten in Sekundenschnelle beide Beine brach. Während sein Kumpel mit markerschütterndem Schrei zu Boden ging, zog der Mann namens Bill ebenfalls ein waffenähnliches Gerät und zielte damit auf Jack. Als er feuern wollte, tat sich jedoch nicht das Geringste.

»Na, Probleme mit der Technik?«, höhnte Jack. Der Mann ließ das nutzlose Gerät zu Boden fallen und zog stattdessen gleich zwei Messer, die er mit beiden Händen gegen den Angreifer einsetzen wollte.

»Meine Güte, wie lächerlich. Glaubst du etwa viel hilft viel?« Jack lachte und riss ihm das erste Messer mühelos aus der erhobenen Hand. Er rammte es ihm in die Schulter. Obwohl die Klinge des anderen Messers ihn traf, blieb er unverletzt, da sie auf Metall stieß. »Tja, auf meine Technik ist Verlass«, höhnte Jack erneut. Der Mann schrie und wusste kaum, wie er sich vor Pein winden sollte, als Jack nach seinem Arm griff und die Klinge des Messers so durch dessen Handteller trieb, dass es bis zum Schaft in die Wand getrieben wurde. Dann tat er das Gleiche mit der anderen Hand des Mannes. Bill stand nun mit ausgestreckten Armen wie ein Gekreuzigter da und schrie, bis seine Stimme sich überschlug und er schließlich nur noch wimmerte. Jack widmete sich dem am Boden liegenden Mann und ging vor ihm in die Hocke. »Sag mir, wo ihr die Drogen versteckt habt!«, forderte er.

»Du Wichser hast mir beide Beine gebrochen! Und meine Hand … verdammt, was hast du nur mit meiner Hand gemacht!?« Der Mann starrte auf die Stellen, an denen die Finger fehlten. Tränen liefen ihm über die Wangen, seine Pupillen waren schreckgeweitet.

»Du hättest dich besser an deinen Grundsatz gehalten, dich niemals mit einem funktionierenden Cyborg anzulegen«, sagte Jack. Dann griff er nach der blutigen Hand und drückte zu. Der gellende Schrei des Mannes ging in weinerliches Flehen über, als Jack auch nach dessen unverletzter Hand griff. »Und jetzt sagst du mir, was ich wissen will, sonst reiße ich dir jeden deiner verdammten Finger einzeln aus!«

River bemerkte, dass der an die Wand geheftete Mann sich regte. Er schien begriffen zu haben, dass es nur eine Chance für ihn gab. Als er damit begann, an einer seiner Hände zu zerren, trieb er sich dadurch die Klinge durch die Handfläche. Er hielt inne, schloss kurz die Augen und atmete sichtbar tief durch. Dann spaltete er sich mit einem heftigen Ruck die eigene Hand. Blut rann ihm aus dem Mund. Offenbar biss er sich fest auf die Zunge, um nicht zu schreien und dadurch Jack auf sich aufmerksam zu machen. Der Schmerz lohnte sich, denn nun war er imstande, das Messer aus der anderen Hand zu ziehen und sich zu befreien. River war unfähig, darauf in irgendeiner Weise zu reagieren, da er sich weder bewegen noch etwas sagen konnte. Er hörte den Mann, den Jack in der Mangel hatte, verzweifelt stammeln: »Bitte nicht … bitte …« Speichel lief ihm übers Kinn, da er offenbar vergessen hatte, wie man schluckte.

»Dann rede! Sonst reiße ich dir deinen Daumen ab, als wärs ein verdammtes Hühnerbein«, drohte Jack.

»Nein, bitte nicht! Bei dem Fischladen am Hafen. Da sind die Drogen. In einem Müllcontainer. Bitte … hör auf … hör auf …«

Jack ließ die unversehrte Hand los. Dann stieß er unvermittelt seine Faust gegen den Hals des Mannes und zertrümmerte ihm den Kehlkopf. Er erstickte lautlos. Jack erhob sich und drehte sich langsam um, während er sagte: »So, Billy Boy, dich nehme ich mit, um zu sehen, ob dein Kumpel die Wahrheit gesagt hat. Ansonsten werde ich sie aus dir heraus…« Er hielt inne, als er bemerkte, dass Bill es geschafft hatte, sich von der Wand zu lösen. Anfangs glaubte Jack wohl, der Mann würde ohnmächtig, denn er ging zu Boden. Im nächsten Moment erhob sich Bill jedoch und hielt das Gerät in der Hand, das zuvor durch die Luft geflogen war. Er feuerte es ab. Ein satter Strahl Säure erwischte Jack und fraß sich augenblicklich durch die Hälfte seines Körpers. Das Fleisch gab der aggressiven Flüssigkeit ohne jeden Widerstand nach. Es schmolz förmlich und verwandelte die weiche Haut, die River in letzter Zeit so oft liebkost hatte, in eine graue, schrecklich stinkende Masse. Auch die metallenen Komponenten vermochten es nicht, diesem Angriff Stand zu halten. Jacks Arm fiel zu Boden. Rauchende Kabel hingen aus seiner Schulter. Jack hatte den Mund weit geöffnet, aber ihm entrang sich kein Laut, weil ein Teil des Strahls ihm die untere Gesichtshälfte weggeätzt hatte.

River konnte die Überreste des Mundes sehen, dessen Küsse so süß und sinnlich geschmeckt hatten, dass River niemals eine andere Droge als diese benötigt hätte, um glücklich zu sein. Jacks Zunge war nur noch ein schwarzer Klumpen, der hilflos im löchrigen Unterkiefer herum rollte.

Bill hielt immer noch die Säurepistole in der Hand und kräuselte angeekelt die Nase. »Ihr Cys stinkt wie die Hölle. Und genau dort wirst du dich gleich wiederfinden, wenn ich dir den Rest gegeben habe. Und dein Freund – den du für deine eigene Zukunft verraten hast – wird schon morgen früh den Arsch für jeden hinhalten müssen, der einen Cy so richtig durchficken will.« Der Blick, mit dem er River bedachte, war vor Gehässigkeit mindestens so ätzend wie die Säure. »Übrigens wird er jede einzelne Sekunde davon bei vollem Bewusstsein mitbekommen, denn eine Umprogrammierung kannst du vergessen. Wir mögen es, euch zu quälen, weil ihr euch für was Besseres haltet. Dabei seid ihr minderwertig. Zum Kotzen!«

Während er gesprochen hatte, spürte River wie sein System den Stromausstoß endlich in den Griff bekam. Von einer Sekunde zur anderen war die Kraft in seinen Körper zurückgekehrt. Ohne zu zögern, aktivierte seine Beschleunigungsmatrix in dem Moment, als der Mann erneut das Säuregerät auf Jack richtete. River riss es ihm aus der Hand und steckte es ihm blitzschnell in den Mund. Dann feuerte er eine Salve Säure in den Schlund des Menschen. Er ignorierte den sterbenden Körper, der sich am Boden aufbäumte und schließlich nur noch hilflos zuckte. Ebenso wie Jack war der Mann nicht mehr in der Lage, zu schreien. Er starb, ohne dass River ihn eines weiteren Blickes würdigte. Jack hingegen umfasste er mit beiden Händen, als könne er ihn so davor bewahren, in den Abgrund des Todes gerissen zu werden. »Bitte, ich muss es wissen! War das dein Plan, oder hast du mich wirklich verraten?« Jacks nutzlose Zunge schlug nach links, dann nach rechts und perforierte dabei die hauchdünn gewordene Wange. Sie löste sich vollends aus dem Kiefer und fiel mit einem leisen Geräusch auf den schmutzigen Boden. Der Anblick war fürchterlich, und River wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. »Wenn du mich wirklich geliebt hast, blinzle zweimal mit den Lidern«, flehte er. Jacks Lider senkten sich – und blieben geschlossen. River aktivierte seinen Hörkraftverstärker und erkannte, dass Jacks Herz aufgehört hatte, zu schlagen. Es war vorbei. Er ließ den toten Körper seines Freundes los und war sich bewusst, dass er vermutlich niemals erfahren würde, ob Jack ihn wirklich verraten hatte.

*

Der nächste Tag kam und ging, ohne dass River es überhaupt realisierte. Er hatte sich in die verdreckte Badewanne gelegt. Sie war voller Staub und Schutt, der von der Decke gefallen war. River war es gleich, worin er lag. Er fühlte sich wie ein skurriles Überbleibsel aus einem Dasein, das genauso gut gar nicht hätte geführt werden müssen. Sicher, er hatte viele Menschenleben gerettet, indem er Silvers getötet hatte. Aber waren die Menschen es überhaupt wert? Das Wort „Wert“ gewann immer mehr in seinen Gedanken Oberhand, andere hingegen verloren an Bedeutung. Liebe gehörte zu diesen Wörtern, die er aus seinen Gedanken verbannte. Sie brachte nichts ein. Sie machte schwach. Beinahe hätte sie ihn seine Freiheit gekostet – das Leben, von dem er gerade dabei war, es freiwillig aufzugeben. River stützte den Kopf in die Hände. Das alles war zu viel. Jack … statt ein neues Leben mit ihm anfangen zu können, lag der Mann, den er geliebt hatte – der Mann, dem er vertraut hatte – tot im Wohnzimmer. Die zahlreichen Fliegen zeugten davon, dass mit den drei Leichen alles seinen natürlichen Lauf nahm, und sie in Kürze von Insekten überhäuft sein würden.

Er musste nun die Kraft finden, sich aus der Badewanne zu hieven, denn ihm blieb gar nichts anderes übrig. Er selbst musste weiterleben. Aber was ergab jetzt noch Sinn? Mit Grauen dachte er daran, dass er bereits als willenloser Sklave seine Dienste versehen würde, wenn die Menschen nicht so dumm gewesen wären, Jack zu reizen. Allerdings war es immer noch möglich, dass Jack all das genau so geplant hatte – alles, bis auf seinen eigenen Tod natürlich. Womöglich war es eine Lüge gewesen, dass die Drogen nur ausreichen würden, um einen von ihnen aufs Schiff zu bringen. River wusste nichts darüber. Jack hatte alles geregelt, was mit ihrer Flucht zu tun hatte. Vielleicht hatte er ihm tatsächlich zu viel vertraut.

River seufzte. Er musste unbedingt wieder zu Vernunft kommen. Er musste die grausame Tatsache in Betracht ziehen, dass Jack ihn wirklich hatte opfern wollen, um selbst ein angenehmes Leben zu führen. Aber nun war er tot, und River wusste, wo sich die Drogen angeblich befanden. Er würde herausfinden müssen, ob der Mann die Wahrheit gesagt hatte. Wenn nicht, war alles verloren, denn nun gab es niemanden mehr, aus dem er das Geheimnis herauspressen konnte. Erneut überfiel ihn der Schrecken über Jacks Tod. Es entstand eine drohende Kaskade in seinen Gedankenroutinen. Er musste sich dringend auf andere Dinge konzentrieren. Etwas Tröstliches am besten. Also rief er sich Phils gütiges Altmännergesicht vor Augen und tauchte in die Erinnerungen an seinen Retter ein.

Cys vs. Silvers - River und Armand

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