Читать книгу Cys vs. Silvers - River und Armand - Hanna Julian - Страница 8
3. Kapitel
ОглавлениеAls River in der Badewanne lag, dachte er daran, wie er als Junge in Benjamins Bett gelegen hatte. Unbeweglich und wehrlos war er gewesen. Bis Phil ihm die Frage gestellt hatte, ob er leben oder sterben wollte. Er wusste, dass dies auch jetzt wieder die alles entscheidende Frage war. Wenn er weiterhin hier verharrte, würden Männer kommen, die nach den Getöteten suchten. Männer, die ihn nach wie vor zu einem Sexsklaven machen wollten. River entschied, sich ihnen nicht einfach auszuliefern und erhob sich aus der Wanne. Sein linkes Bein tat weh, wie er beinahe schon erleichtert feststellte. Das künstliche übernahm die komplette Gleichgewichtsstabilisierung. Ein zerbrochener Spiegel über dem Waschbecken zeigte River einen schlecht rasierten Fremden, der wirklich zum Kotzen aussah. Aber wen würde das jetzt noch stören, da Jack tot war? Nun, ihn selbst störte es, also entschied er sich dazu, ein wenig Körperpflege zu betreiben. Während er seine menschliche Haut mit dem Wasser wusch, das als Rinnsal aus dem Hahn kam, fasste er weitere Pläne. Er wusste, wohin er zu gehen hatte. Gleich nachdem er mit dem in seine Hand eingelassenen Messer die Bartstoppeln entfernt hatte, zog er seinen Lederanzug an, den er immer zum Kämpfen getragen hatte. Dann packte er einige Dinge in eine Tasche und verließ das Haus. Er hatte lange genug gewartet – lange genug getrauert – sich lange genug selbst wie tot gefühlt. Es wurde Zeit, das Leben wieder neu anzugehen. Ein weiteres Mal, so wie Phil es ihn gelehrt hatte. Und er hatte nicht mehr viel Zeit, denn um Mitternacht würde das Schiff anlegen. Ihm blieben nur knapp zwei Stunden, um sich mit allem auszurüsten, was er für sein neues Leben benötigte. Das Dumme war nur, dass er im Grunde überhaupt keine Ahnung hatte, was das sein könnte. Da Jack sich um alles gekümmert hatte, steuerte River nun einer Zukunft entgegen, von der er nicht das Geringste wusste. Aber Frieden und Freiheit klangen so verlockend, dass er dieser Zukunft mit neuer Zuversicht entgegenfieberte. Mit entschiedenen Schritten steuerte River auf das Fischgeschäft zu, das noch bis vor ein paar Monaten Ware angeboten hatte. Der Fulton Fish Market existierte schon seit der Invasion nicht mehr, und so war der alte Mansfield im Fish-House zu einer ansehnlichen Sammlung von Gegenständen aller Art gekommen, die die Menschen ihm im Austausch für Makrelen, Sardinen und Hummer anboten. Inzwischen war jedoch auch dieses Geschäft verwüstet und alles Verwertbare hatte nach George Mansfields Tod längst den Besitzer gewechselt – das meiste vermutlich sogar mehrfach.
*
Die Häuserschluchten New Yorks waren nach den Angriffen zu Ansammlungen von nun überflüssigen Gegenständen geworden. Der Müll wurde bereits seit Jahren nicht mehr abgeholt und türmte sich in den Straßen. Auf den Gehwegen und auf Dächern von Autowracks lagen zerborstene Leuchtreklamen und abgerissene Ampelanlagen. Bis zum South Street Seaport war es nicht weit, aber River wusste, dass selbst diese paar Straßen zu einer tödlichen Herausforderung werden konnten. Besonders in der Dunkelheit, denn der Mond stand zwar in seiner vollen Pracht am Himmel, aber schwarze Wolken verdeckten ihn zeitweilig komplett. Für River selbst stellte diese Düsternis allerdings kein Problem dar, da er einfach seinen Sehkraftverstärker aktivieren konnte. Aber er wusste, dass die Menschen – und gerade jene, die nichts Gutes im Schilde führten – die Nacht nutzten, um ihren Aktivitäten nachzugehen. Die Stadt war schon immer für ihre hohe Verbrechensrate bekannt gewesen, doch nach der Invasion war alles noch um ein Vielfaches schlimmer geworden. Vom einstigen Glanz, den sie erlebt hatte – vom Broadway, den Finanzimperien, den Nachtclubs, Kunstgalerien und Fashionshows war nichts geblieben. River hatte ohnehin nichts davon mehr miterlebt. Aber Phil hatte ihm ab und an davon erzählt. Früher musste New York vor lauter Lichtern nur so gestrahlt haben. Sogar vom Weltall aus hatte man das Lichtermeer erkennen können. Ob die Silvers wohl genau das vor ihrem Angriff betrachtet und schließlich beschlossen hatten, dies mit einem verheerenden Angriff ein für alle Mal zu beenden? Natürlich, sie hatten weltweit alles vernichtet, aber River kannte nur New York und glaubte, die Stadt müsse den Silvers ein ganz besonderer Dorn im Auge gewesen sein, so wie sie deren Zerstörung anheimgefallen war. Nachts wurde die ehemalige Millionenstadt nun zu einem düsteren Ort, der allen möglichen Gestalten genug Rückzugsmöglichkeiten bot, um ihren unmenschlichen Machenschaften nachzugehen. Morde und Vergewaltigungen waren ganz alltägliche Verbrechen, denen niemand nachging und die nicht geahndet wurden. Die Männer kämpften sich durch, und es gab kaum noch Freundschaften, die oft nur deshalb gegründet wurden, weil es alleine um so vieles schwerer war, zu überleben. Vielleicht hätte River es schon deshalb wegen Jack besser wissen müssen, doch er weigerte sich standhaft, zu glauben, dass Jack ihn hatte verkaufen wollen. Diese Möglichkeit war einfach zu schmerzhaft, deshalb hielt er sich an dem Strohhalm fest, dass Jack von Anfang an alles geplant hatte, und es am Ende einfach nur fürchterlich schiefgegangen war. Umso mehr war er es ihm schuldig, nun das Beste aus der Situation zu machen.
River ging durch die Straßen, während er sich ständig in alle Richtungen umsah. Als er das Fish-House erreichte, drängte er sich zunächst dicht an die Hauswand, um zu lauschen, ob jemand in der Nähe war. Tatsächlich hörte er ein Husten, das seinen Puls beschleunigte. Ein Mann mit Hut eilte vorbei, ohne ihn zu bemerken. In der Ferne jaulte ein Hund, andere fielen in das Konzert ein. Nach ein paar Minuten schlich River an der Hauswand entlang zum Müllcontainer, der bestialisch stank. Der Deckel war geschlossen. River packte den Griff und schob ihn auf. Er hatte die Luft angehalten und blickte in den Behälter, in dessen Innerem nur eine dunkle Masse zu erkennen war. Zuletzt hatte wohl Mansfield selbst Abfall hineingeworfen, und das war inzwischen Monate her. Umso skurriler wirkte nun die weiße Plastiktüte, die obenauf thronte. River fischte sie heraus, klemmte sich die gut verklebte Tüte unter den Arm und ließ den Deckel des Containers so lautlos wie möglich wieder hinab. Da die gläserne Eingangstür zerstört war, schlich er kurzerhand ins Fish-House und sah sich um. Hier stank es immer noch so sehr nach Fisch, dass niemand in diesen Räumen Schutz gesucht hatte. River konnte es nur recht sein. Der Sehkraftverstärker tauchte den alten Laden beinahe schon schmerzhaft in Helligkeit. Die Theken waren leer und erstaunlich sauber. Aber in alten Kühltruhen, die längst keinen Strom mehr hatten, gammelte Pampe vor sich hin, die wohl einst frische Fische in Hülle und Fülle gewesen waren. Zwei der Türgummis mussten im Laufe der Zeit spröde geworden sein, denn nun standen die Türen offen. Der Gestank im Inneren hatte sich seinen Weg in den Ladenraum gebahnt. Beinahe wünschte sich River, er könne auch einen Riechkraftverstärker einfach abschalten, doch er besaß keinen, und so hoffte er, dass sein Magen der Herausforderung Stand hielt. River legte die Tüte auf eine der Theken. Mit seiner menschlichen Hand löste er vorsichtig die Klebebänder. Als er in die Tüte hineinsehen konnte, seufzte er erleichtert. Darin befanden sich weitere Beutel, durchsichtig und gefüllt mit weißem Pulver. Er hatte also tatsächlich die so heiß begehrten Drogen gefunden. River schloss die Tüte wieder so gut es ihm möglich war, und legte sie in eine Thermobox, die in Türmen an der Wand hinter der Kühltheke gestapelt waren. Dann schulterte er seine Tasche, griff sich die Box und verließ das Fish-House. Er lenkte seine Schritte nun schnell in Richtung Hafen, denn die Zeit drängte. Wenn er das Schiff verpasste, wäre alles umsonst. Die Straßen waren leer. River konnte das Meer immer deutlicher riechen. Er passierte die Water Street und sah zwei Männer, die es in einem verdreckten Hauseingang miteinander trieben. Sie bemerkten ihn und fragten, ob er mitmachen wolle. River vermutete, dass sie ihn in der Dunkelheit nicht als Cy erkannt hatten. Er verneinte kurz und eilte dann weiter, während die Männer ihre stoßenden Bewegungen wieder aufnahmen. River wurde klar, dass er es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde, wenn er sich nicht beeilte. Also programmierte er sein rechtes Bein auf die höchste Geschwindigkeit, bei der sein linkes mithalten konnte. Die dunklen Gebäude mit ihren schwarzen Fensterquadraten rauschten nun schnell an ihm vorbei.
Während River lief, gaben die Wolken den Mond frei, der die Umgebung jetzt in sein helles Licht tauchte. River erreichte den Hafen und hielt abrupt an. Er war nur wenigen Menschen auf seinem Weg hierher begegnet, und sehr froh darüber gewesen. Doch mit einer Ansammlung am Hafen hatte er im Traum nicht gerechnet. Es mussten an die fünfzig sein. River überlegte fieberhaft, was das zu bedeuten hatte. Er wurde jedoch schnell darüber aufgeklärt, als ein Teil der Leute mit den Fingern auf ihn zeigte, und einige Männer brüllten:
»Da ist der Verräter! Cyborg-Abschaum, der sich vor seinen Pflichten drücken will. Los, wir zeigen ihm, was wir von ihm halten!«
Als die ersten Menschen ihn mit Gegenständen unterschiedlichster Art bewarfen, war River zunächst wie gelähmt. Faulige Abfälle, leere Konservendosen und Glasflaschen wurden nach ihm geschmissen. Nur wenige trafen ihn tatsächlich, doch River spürte den Zorn dieser Leute deutlich. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, der mit Sicherheit keinen organisierten Verband darstellte. Vermutlich handelten sie aus purer Verzweiflung und machten in ihrer Verblendung die Cys statt die Silvers für ihre Misere verantwortlich. Im Grunde waren sie für River harmlos. Doch einige von ihnen hatten auch eindeutig aggressivere Tendenzen und trugen Waffen bei sich.
Als ein Mann mit einer Pistole auf ihn zielte, reagierte River instinktiv. Seine beschleunigten Bewegungen ermöglichten es ihm, dem Mann die Waffe aus der Hand zu reißen, noch bevor der imstande war, auch nur einen einzigen Schuss abzufeuern. River setzte den Angreifer durch einen gezielten Schlag auf dessen Solarplexus außer Gefecht. Ein zweiter Bewaffneter hatte die Zeit genutzt, um ebenfalls auf River zu zielen. Er feuerte im selben Moment, als Rivers System die Flugbahn der Kugel bereits berechnet hatte. Während er dem Geschoss auswich, zielte River auf den Mann. Er streckte ihn mit einem gezielten Kopfschuss nieder. Als der Getroffene zu Boden fiel, stoben die Menschen auseinander. Die meisten von ihnen flüchteten in Panik.
River betrachtete den Toten. Es war nun das zweite Mal, dass er auf einen Menschen geschossen hatte, statt ihn zu verteidigen. Bis vor kurzem hatte er nur Silvers vom Leben zum Tode befördert. Nun jedoch war es anders. Er tötete jene, die er eigentlich beschützen sollte. River wartete auf ein Gefühl der Reue, doch es blieb aus. Die Männer hatten ihn angegriffen, und er hatte sich lediglich verteidigt. Dadurch waren auch diejenigen in Angst versetzt worden, die ihn noch vor ein paar Sekunden für seine Entscheidung bestrafen wollten. Aber welches Recht hatten sie dazu? Nur noch wenige beschimpften River, während sie flüchteten, die meisten waren jedoch bereits verschwunden.
Erst jetzt entdeckte River den Ozeandampfer, der auf Pier 15 zusteuerte. Es war ein großes Schiff, jedoch nicht so gigantisch wie die neueren Kreuzfahrtschiffe es gewesen waren. Einige Fenster waren hell erleuchtet. River verspürte den drängenden Wunsch, hinter einem davon zu sitzen, und das Festland bald schon in der Ferne verschwinden zu sehen. Als ihn jemand an die Schulter fasste, schlossen sich Rivers mechanische Finger blitzschnell um dessen Hand. Er ergriff jedoch Stahl und blickte seinem Gegenüber in zwei Okular-Implantate.
»Du hältst dich wohl für ein Glücksschwein, weil das Schiff hier heute für dich anlegt. Träumst von einem tollen Leben und lässt alle anderen Cys mit der undankbaren Menschenmeute zurück.«
»So ist es nicht …«, erwiderte River, aber er wusste, dass es im Grunde eben doch genau so war. Auch der andere wusste es, und er lachte rau.
»Ich kann nichts dran ändern, dass die Menschen undankbar sind. Ich schulde ihnen nichts und verstehe nicht, warum du dich mit denen verbündet hast.«
»Das habe ich nicht. Die Menschen, die dich hier mit all ihrer Abscheu empfangen haben, interessieren mich einen Scheiß. Ich bin aus anderen Gründen hier.«
»Und welche sind das?«, fragte River, obwohl es ihn eigentlich nicht wirklich interessierte.
»Ich will dich warnen. Weißt du eigentlich, was dich auf dem Schiff erwartet? Denkst du wirklich, es wäre die heile Welt, die sie dir versprochen haben?«
»Ist es nicht so?«, fragte River.
»Es ist genauso ein Haifischbecken wie hier an Land. Vielleicht sogar schlimmer, weil du dich nicht irgendwo verkriechen kannst.« Er wies mit der Hand in Richtung des Schiffs. »Auf dem Kahn dort regiert Slaughter. Er ist der Kapitän. Ein Cy, der praktisch nur aus technischen Elementen und Metall besteht. Man sagt, sogar sein Herz sei durch ein künstliches Implantat ersetzt worden. Ich denke, die Behauptungen stimmen, so wie er sich benimmt.«
»Ich kann dir dazu nichts sagen. Ich war noch nicht auf dem Schiff, sondern checke jetzt zum ersten Mal dort ein«, erinnerte River und wollte an dem Mann vorbeigehen.
Der hielt ihn jedoch an der Schulter fest und sagte mit beharrlicher Stimme: »Du wirst Slaughter schnell erkennen. Sein gesamter Kopf – und damit auch sein Gesicht – bestehen aus Metall. Da ist keine menschliche Haut mehr. Nicht mal künstliche, weil er kein bisschen mehr wie ein schwacher Mensch aussehen will. Vermutlich hat er sich die restliche intakte Haut nach seiner Verwandlung sogar absichtlich wegätzen lassen. Der Kapitän ist optisch ein Silver. Und wenn du mich fragst, ist das kein Zufall. Diejenigen, die an Bord was zu sagen haben, stecken doch mit den Invasoren unter einer Decke. Die sollen sogar deren Sprache erlernen. Ich wette, die wollen ein Bündnis mit diesen Killern eingehen. Bist du dir immer noch sicher, dass du zu denen willst?«
»Bist du dir sicher, dass du nicht nur neidisch bist?«, konterte River. Das Gerede des anderen Cy hatte ihn beunruhigt, aber er wollte sich nichts anmerken lassen. Mochte ja sein, dass auf dem Schiff nicht das reine Paradies herrschte, aber der Mann redete von Sachen, die er nicht beweisen konnte. River wollte sich nicht von einem Kerl mit zu viel Fantasie sein zukünftiges Leben madig machen lassen. Immerhin war er an Bord vor allem unter seinesgleichen. Und er würde nicht mehr töten müssen, was River enorm erleichterte. Alles andere waren nur Geschichten, denen er nicht leichtfertig Beachtung schenken wollte.
»Ich merke schon, du glaubst mir nicht«, sagte der Cy enttäuscht und fuhr eindringlich fort: »Aber ich weiß, wovon ich rede. Mein Bruder war auf diesem Schiff. Nun ist er tot. Angeblich über Bord gegangen. Aber das glaube ich nie und nimmer.«
»War dein Bruder Mensch oder Cy?«
»Er war ein Cy, der für die Vorräte verantwortlich war. Er hieß Cedric Youngfield. Wie Dreck haben sie ihn behandelt. Vor etwa vier Jahren haben wir zuletzt miteinander gesprochen. Wir trafen uns am Hafen, aber Cedric bestand darauf, einige Straßen ins Stadtinnere zu gehen, bevor er mit der Sprache rausrückte. Er fühlte sich an Bord beobachtet. Und er sagte, er werde ernsthaft bedroht. Slaughter selbst soll ihn zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach übel verprügelt, und in eine Zelle gesperrt haben. Das muss man sich mal vorstellen, ein Cy prügelt auf einen anderen Cy ein, obwohl wir doch eigentlich alle zusammenhalten sollten. Und niemand an Bord unternimmt etwas dagegen, weil dieses brutale Arschloch Slaughter nun mal das Sagen hat.«
River zuckte mit den Schultern. Er hatte selbst schon viel Gewalt und Grausamkeiten miterlebt, und war bislang nur deshalb nicht verzweifelt, weil er sie nicht zum Mittelpunkt seines Lebens machte. Das hatte er erst recht nicht vor, wenn ihm nur davon erzählt wurde, ohne dass er überhaupt wusste, ob es sich um die Wahrheit handelte, darum erwiderte er: »Ist ja eine bewegende Geschichte. Wenn sie stimmt, tut es mir um deinen Bruder natürlich leid. Aber ich weiß echt nicht, was das mit mir zu tun haben soll. Ich suche keinen Job an Bord. Und ich habe nicht vor, mit diesem Slaughter Kontakt zu haben. Der wird wohl auch kaum mit einem Passagier wie mir welchen haben wollen. Also ist das alles für mich nicht relevant. Hör zu, Kumpel, ich will nur von hier weg. Das Leben in dieser toten Stadt kotzt mich an, und ich werde es auf keinen Fall fortführen. Warum sollte ich den Menschen weiter dienen, wenn sie mich mit Müll bewerfen und mich nur als ein emotionsloses Werkzeug ansehen?«
»Weil es dein Schicksal ist, Mann! Deines genauso wie meins.«
»Falsch«, erwiderte River mit harter Stimme. »Ich bestimme mein Schicksal selbst. Und jedem, der sich mir in den Weg stellt, werde ich zeigen, dass ich für mein Glück kämpfe. Willst du einen Kampf?« River war auf alles vorbereitet. Seine Systeme liefen auf Hochtouren. Er hörte den Herzschlag des anderen, der sich bei seinen Worten beschleunigt hatte. Doch dann trat der Cy zur Seite und machte eine Geste zur Pier. »Dann geh und ändere dein Schicksal. Ich glaube nicht, dass es dir gelingen wird. Und niemand wird dir nur eine Träne nachweinen.«
»Das habe ich auch noch nie in meinem Leben erwartet.« River presste den Arm mit der Tüte fest an seinen Körper, als er an dem anderen Cy vorbeiging. Sollte der Kerl versuchen, sie ihm wegzureißen, musste er schnell reagieren, denn nun wurde es wirklich höchste Zeit, zum Schiff zu gelangen. Es war bereits dabei, anzulegen, und River war sich sicher, dass man nicht lange auf zusteigende Passagiere warten würde. Am Rumpf prangte der Name des Schiffes, er war jedoch augenscheinlich nachträglich über den vorherigen gepinselt worden: „Cyborg Horizon“. Als River die Pier entlang eilte, erkannte er an Deck bewaffnete Cys, die die Mündungen ihrer Gewehre auf das Hafengelände gerichtet hatten. Zweifellos würden sie sofort schießen, falls Menschen auf die Idee kamen, das Schiff entern zu wollen. Und River war sich sicher, dass ihre Waffen mit ausreichend Munition bestückt waren, um ein Blutbad anzurichten. Umso erleichterter war er, dass die Männer am Hafen sich bereits zurückgezogen hatten. Er hastete die Gangway hinauf und war erstaunt, dass er in New York der einzige war, der aufgenommen wurde. River eilte seinem neuen Zuhause entgegen, und mit jedem Schritt machte er sich klar, dass er das Festland möglicherweise niemals wieder betreten würde.
*
»Zeigen Sie mir die Bezahlung!« Ein ernst aussehender Cyborg mit ausfahrbaren Klingen in den Arm-Implantaten ließ keinen Zweifel daran, dass River nicht eher einen Fuß auf das Schiff setzen würde. Der Mann öffnete die Box, die River ihm hinstellte, und inspizierte die darin liegende Tüte. Dann nickte er und gab damit zwei weiteren Cys das Zeichen, den Neuankömmling passieren zu lassen.
River stieg ein paar Stufen hinauf und fand sich auf einem der mittleren Decks wieder. Dort stand ein Schreibtisch, an dem ein Cy auf einem Bürostuhl saß; er winkte River zu sich heran und sagte: »Schneller, wenn ich bitten darf! Wir möchten so rasch wie möglich wieder ablegen. Keinem hier an Bord ist wohl dabei, am Festland anlegen zu müssen. Zeigen Sie mir die Bezahlung, damit wir die Alarmbereitschaft aufheben, und hier so schnell wie möglich wieder verschwinden können.«
Abermals zeigte River die Tüte vor und sah zu, wie sein Gegenüber die Substanz einer raschen Prüfung unterzog, indem er einen der Beutel aufriss und mit einer im Zeigefinger integrierten Pinzette drei Körnchen herauspickte, um sie auf die Zunge zu legen. Er presste sie offenbar an den Gaumen, der mit einer Diagnoseeinheit ausgestattet worden war. Nur ein paar Sekunden später befand er: »Der Stoff ist erstklassige Qualität, wie gefordert, und reicht für die Aufnahme einer Person aus. Die Transaktion kann hiermit abgeschlossen werden. Ihr Name ist Jack Boderick?«
»Ja«, erwiderte River. Hier war sie also, die Gewissheit, dass Jack ihn tatsächlich verkauft hatte, um alleine an Bord des Schiffes gehen zu können. Es tat unendlich weh, doch er schob den Schmerz beiseite, denn ihn sich nun anmerken zu lassen, würde sicherlich bedeuten, dass man ihn umgehend von Bord schickte, wenn herauskam, dass er nicht Jack war.
Der Cy ihm gegenüber schien allerdings nicht wirklich an seinem Namen interessiert zu sein. Vielmehr kümmerte er sich geradezu rührend um die Tüte mit den Drogen und sagte eher abwesend zu River: »Rechts herum und immer weiter, bis Sie an der Treppe ankommen. Ein Stockwerk weiter oben werden Sie in Empfang genommen und in die Schiffsvorschriften eingewiesen. Die Bezahlung reicht für ein Jahr Anwesenheit auf diesem Schiff.«
»Nur ein Jahr? Aber …«
»Jetzt gehen Sie schon, Mann! Wer bereits bei der Aufnahme Widerworte gibt und Ärger macht, fliegt schneller von Bord, als er gucken kann. Los jetzt, dort entlang!« Er wies auf den Gang, der River von ihm fortbringen sollte.
Das Schiff legte bereits ab, River sah es, als er aus einem der Fenster blickte. Die dunklen Silhouetten der noch stehenden Wolkenkratzer schienen sich wegzudrehen, obwohl es in Wahrheit das Schiff war, das ihnen schon bald die kalte Schulter zeigte. River erreichte die Treppe und stieg sie hinauf. Sofort nahmen ihn zwei Cys in Empfang und brachten ihn in eine Kabine, in der medizinische Instrumente untergebracht waren.
Ein Mann mit zwei künstlichen Beinen erhob sich von einem Stuhl und streckte die Hand zur Begrüßung aus. »Hallo, mein Name ist Dr. Gordon Black. Ich muss einige Untersuchungen vornehmen, bevor ich Sie offiziell hier aufnehmen darf.« Er wies River an, sich auf eine Untersuchungsliege zu setzen. Während Dr. Black ihm einen Phoropter vors Gesicht schob, sagte er: »Diese Apparatur wurde umgebaut, sodass ich nicht nur Ihre optischen Sensoren, sondern auch die Knotenbündel in Ihrer Hinterkopfmatrix untersuchen kann.«
»Und wozu ist das notwendig?« River war zwar dankbar dafür, dass der Cy, der offensichtlich die Rolle eines Schiffsarztes übernahm, so ehrlich war, doch der Gedanke, dass der Mann auf diese Art in der Lage war, seine kompletten technischen Elemente zu inspizieren, behagte River ganz und gar nicht.
»Auf diesem Schiff versuchen wir das Gewaltpotential so gering wie möglich zu halten. Cys mit einer ausdrücklich primär gewaltbereiten Programmierung, und deren erst kürzlich erfolgten Umsetzung, werden von uns in ihrer Handlungsfreiheit und Bewegungsfreiheit vorerst eingeschränkt. Aber keine Sorge, ich gehe nicht davon aus, dass Ihre Programmierung solche Maßnahmen erfordert.« River war sich da nicht ganz so sicher, denn immerhin war er darauf vorbereitet worden, Silvers zu töten, und er hatte genau das auch oft genug getan – und zuletzt hatte es nicht nur Silvers getroffen … Der Mann beugte sich auf der Gegenseite hinter das Gerät und gab ein paar murmelnde Geräusche von sich, während er Rivers Knotenbündel begutachtete.
»Die letzten Gewalttaten sind bei Ihnen erst wenige Minuten her«, sagte er dann alarmiert. Er lehnte sich zurück und blickte River nun ohne Gerät in die Augen, während er anfügte: »Es handelte sich dabei um Menschen.«
»Ja«, gab River unumwunden zu. »In den gesamten letzten Wochen habe ich keine Gewalt ausgeübt. Aber jetzt blieb mir nichts anderes übrig. Ich musste mich gegen Menschen verteidigen, die mir den Weg auf das Schiff verwehren wollten. Manche bedrohten mich mit Waffen.«
Der Arzt seufzte. »Tja, das Gewaltpotential von Menschen wird meiner Meinung nach viel zu wenig untersucht. Sogar der menschliche Arzt aus meinem Team stimmt mir da zu. Aber das ist an Bord nicht relevant. Dennoch, ich bin dafür verantwortlich, dass zwischen den anwesenden Cys alles reibungslos klappt. Ich möchte daher, dass Sie mich morgen noch einmal aufsuchen, damit ich eine Vergleichsbestimmung vornehmen kann.«
»Ich dachte, Sie könnten meine Programmierung auslesen. Wozu also eine weitere Untersuchung?« Nun lachte der Arzt. »Sie haben mich durchschaut. In Wirklichkeit habe ich nur Einblick in rudimentäre Bestandteile Ihrer Programmierung. Aber das aktuelle Gewaltlevel ist ziemlich hoch, also muss ich darauf bestehen, dass Sie morgen wiederkommen.«
»Was geschieht, wenn das Gewaltlevel morgen nicht gesunken ist?«
»Dann werden wir schon eine Lösung finden, die Sie nicht allzu sehr einschränkt. Letztendlich sind auch gewaltbereite Cys immer noch Gäste auf diesem Schiff. Allerdings erwarten wir von jedem, sich zusammenzureißen, ansonsten werden in der Tat Maßnahmen ergriffen.«
»Welche sind das?« Der Arzt bedeutete River, sich von der Untersuchungsliege zu erheben.
»Ich bin nicht befugt, mit Ihnen darüber zu reden. Gehen Sie nun zwei Türen weiter, auf der linken Seite in den Einweisungsraum. Der Kollege wird Sie über die Regeln und Gepflogenheiten hier an Bord in Kenntnis setzen.« Der Arzt wies auf die Tür, und River begriff, dass der Mann ihm keine weitere Frage beantworten würde. Er ging wie angewiesen zwei Räume weiter und traf dort ebenfalls auf einen am Schreibtisch sitzenden Mann. Auch er war eindeutig ein Cyborg. Er erhob sich und reichte River eine metallverstärkte Hand. Die Hydraulik berechnete offenbar die angenehmste Stärke für eine Begrüßung.
»Hallo, mein Name ist Zack Newman. Ich bin nicht nur für die Einweisung der neuen Passagiere verantwortlich, sondern kümmere mich ebenfalls um sie, falls Probleme auftreten. Nehmen Sie bitte Platz, Mr. Boderick.« River setzte sich und hoffte, nicht doch noch aufzufliegen. Oder war nun der richtige Zeitpunkt gekommen, um klarzustellen, dass er nicht Jack war? Er wollte gerade sprechen, doch der Mann kam ihm zuvor.
»Vielleicht wundern Sie sich, dass Sie als erstes mit Vorschriften konfrontiert werden. Mir ist klar, dass Sie eine Menge bezahlt haben, um hier wie ein Gast behandelt zu werden. Und genau das werden Sie auch, doch die Bedingung dafür ist die Einhaltung der Bordregeln. Damit hier jeder auf seine Kosten kommt, können wir nämlich kein Chaos oder Übergriffe egal welcher Art dulden. Wie Sie sicher aus eigener Erfahrung wissen, kommen solche am Festland praktisch ständig und überall vor – das ist hier anders. Die meisten begrüßen diese Tatsache und sind bereit, sich in Selbstkontrolle zu üben, um diesen Zustand beizubehalten.«
»Das bin ich ebenfalls«, versicherte River und fügte an: »Eben dieser Friede hier ist es, warum ich all das auf mich genommen habe.« In Wahrheit hatte er eigentlich kaum etwas auf sich genommen, wie er beschämt feststellte. Jack hatte ganze Arbeit geleistet, und nun erntete er dessen Früchte. Was für eine Ironie, dass sein Freund es eigentlich ganz anders geplant hatte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, säße er nun hier, und River würde für irgendwelche Brutalos seinen Körper hergeben müssen. Er spürte, dass er diese Gedanken besser verdrängte, wenn er bei der Untersuchung am folgenden Tag ein deutlich reduziertes Gewaltlevel vorweisen wollte.
»Zunächst ist jegliche Form von Auseinandersetzung mit anderen Reisenden zu vermeiden. Sollte es zu Differenzen kommen, wenden Sie sich bitte an die Crew. Sie besteht in erster Linie aus Cys, aber es gibt auch einige Menschen unter uns. Hier an Bord – und das ist Regel Nummer zwei – machen wir keinen Unterschied, nicht mal von der Anrede her. Ein Cy kann hier ebenso als Mensch bezeichnet werden, wie die rein biologischen Männer. Persönliche Erfahrungen aus Ihrer Vergangenheit mit Menschen oder anderen Cys bitte ich dringend außenvor zu lassen. Jeder Anwesende wird mit dem gleichen Respekt behandelt. Für die Crew gilt dasselbe – die meisten versehen ihren Dienst mit Freude, und die wollen wir niemandem verleiden. Ein weiterer und wichtiger Punkt ist Folgender: Die Drogen, die Sie als Bezahlung mitgebracht haben, werden von uns wiederum als Zahlungsmittel in einigen Ländern verwendet, die mit uns kooperieren. Das bedeutet, hier an Bord wird nichts dergleichen konsumiert!«
River nickte.
»Natürlich sollte Ihnen bewusst sein, dass dies kein Kreuzfahrtschiff wie vor den Angriffen der Silvers ist. Trotzdem bemühen wir uns, einen gewissen Standard und so viele Annehmlichkeiten wie möglich zu bieten. Dazu gehören der Pool auf dem Promenadendeck, mehrere Bars, zwei Fitnessräume, eine umfangreiche Bibliothek, in der auch Spielekonsolen, Games, Karten- und Brettspiele ausgeliehen werden können, zwei kleine Boutiquen, Bordrestaurant und Bistros, zwei Saunen und ein Kino. Außerdem mehrere Räume, in denen unterschiedliche Arten von sexuellen Zusammenkünften stattfinden können. Wir bitten ausdrücklich darum, diese Interaktionen auf jene Bereiche und die privaten Kabinen zu beschränken. Von organisierten sportlichen Betätigungen in Gruppen bitten wir ebenfalls Abstand zu nehmen, da diese in der Vergangenheit entweder zu Massenprügeleien oder zu unerwünschten Orgien geführt haben. Wie gesagt: Der Spaß an Bord steht zwar im Fokus, aber die Ordnung und die Sicherheit jedes einzelnen haben stets Vorrang. Sollten wir irgendwo anlegen, ist es Ihnen freigestellt, das Schiff auf eigene Gefahr zu verlassen. Bei der Rückkehr müssen Sie sich erneut einer medizinischen Untersuchung unterziehen. Sollten Sie nicht rechtzeitig wieder an Bord sein, erlischt Ihr Aufenthaltsrecht hier. Das Schiff legt ab, und Sie sind sich selbst überlassen. Alles klar soweit?«
»Ja, alles klar«, erwiderte River ein wenig erschlagen.
»Gut. Sollten Sie noch Fragen haben, zögern Sie nicht, die Crew anzusprechen. Sollten Sie hingegen Probleme mit anderen Personen auf diesem Schiff haben, können Sie sich jederzeit an mich wenden.«
»Danke, das werde ich tun.«
Der Mann ihm gegenüber erhob sich, öffnete eine Schublade und reichte River einen Schlüssel.
»Das hier ist ein recht altes Schiff. Die Kabinen sind noch mit Schlössern versehen, die sich nur hiermit öffnen lassen. Zumindest, wenn man keine Gewalt anwenden will. Und davon bitte ich natürlich ebenfalls Abstand zu nehmen. Verlieren Sie Ihren Schlüssel nicht, denn es existieren nur zwei, und der Kapitän ist nicht sehr erpicht darauf, ständig sein Duplikat rausrücken zu müssen, nur weil einer der Gäste wieder schusselig war.«
»Der Kapitän? Er hat die Zweitschlüssel?«
»Ja. Damit ist gewährleistet, dass sich niemand in Ihrem Privatbereich aufhalten kann, der keine Befugnis dazu hat – nicht mal die Crew.« Der Mann ließ es unausgesprochen, aber River wurde klar, dass es hier wohl zu Vorfällen in der Vergangenheit gekommen sein musste. Ob es so schlau war, dass ausgerechnet dieser Silver-ähnliche Kapitän der Herr über die Schlüssel war, ließ River besser dahingestellt sein. Im Großen und Ganzen erschienen die Bordregeln ihm sehr sinnvoll, denn sie sollten dafür sorgen, dass niemand auf dem Schiff sich durch das Verhalten anderer belästigt fühlte. Und genau das war geradezu paradiesisch gegenüber allem, was River auf dem Festland erlebt hatte. Hier schien wirklich eine Welt zu existieren, in der das Leben noch lebenswert war. Und vor ihm lag immerhin ein ganzes Jahr Aufenthalt in diesem Paradies. Was danach kam, sollte heute nicht sein Problem sein – zumindest nahm er sich fest vor, sich die Stimmung nicht dadurch vermiesen zu lassen, dass man ihn nur für eine begrenzte Zeit an Bord behalten wollte.
»Sie haben wirklich Glück. Ihre Kabine ist gerade erst freigeworden. Sie ist, abgesehen von den Suiten, eine der besten des ganzen Schiffes. Es ist eine Außenkabine mit Balkon. Der ist sogar groß genug, dass ein kleiner Tisch und zwei Stühle darauf vorhanden sind. Versteht sich wohl von selbst, dass Sie daher ein richtiges Fenster statt eines Bullauges haben. Da kann man wirklich nicht meckern.«
River überlegte, ob er fragen sollte, inwiefern sich sein Aufenthalt verlängern ließe, wenn er eine Innenkabine nähme. Dann wurde ihm jedoch klar, dass eine solche Frage so aussehen könnte, als wolle er Ärger machen – und wie er bereits gewarnt worden war, konnte man dafür von Bord fliegen. Also beschloss er, sich über den Umstand zu freuen, durch Zufall eine so gute Kabine zu bekommen. Immerhin würde sie für recht lange Zeit sein Zuhause sein.
*
Der reine Wahnsinn, dachte River, als er die Kabine betrat, die ihm zugeteilt worden war. Er stellte seine Tasche auf dem Boden ab und blickte sich um. Nie zuvor im Leben hatte er einen Bereich nur für sich gehabt. Abgesehen von dem Kinderzimmer bei Phil, aber streng genommen hatte das ja Benjamin gehört, auch wenn der zu diesem Zeitpunkt bereits tot gewesen war. Hier in seiner Kabine war alles so hell – so rein und scheinbar unberührt. Natürlich war das Unsinn, denn ihm war ja gesagt worden, dass der Raum gerade erst frei geworden war. Aber das Bett war frisch bezogen, der hellgraue Teppich makellos und das noch hellere Polster des Stuhls unbefleckt. Die marmorne Oberfläche des Tisches dahinter spiegelte den Mond wider. Das Fenster und die Tür zum Balkon waren so groß, dass River von jeder Stelle seines Zimmers aus hinausblicken konnte. Es gab zwei Türen, die zu beiden Seiten der Kabine in benachbarte Räume führten. River drückte die Klinke der Tür rechts hinunter, sie blieb verschlossen.
»Sorry, Nachbar, aber wir wollen ungestört sein. Versuch es doch kommende Nacht nochmal für einen Dreier!«, hörte er einen Mann von nebenan rufen. River biss sich auf die Lippe und rief dann zurück: »War nur ein Versehen.«
»Kein Problem, Neuling«, kam eine kurze Erwiderung, dann hörte er das Lachen von zwei Männern. River spürte, dass er rot geworden war und ärgerte sich über sich selbst. Er würde sich in Zukunft von der Verbindungstür fernhalten, aber er hatte ja nicht gewusst, dass es überhaupt eine war. Mit klopfendem Herzen testete er die Tür auf der linken Seite. Hoffentlich machte sich dort nicht gleich der nächste Kabinennachbar über seine Unwissenheit lustig. Die Tür öffnete sich anstandslos, und sofort schaltete sich automatisch das Licht im angrenzenden Raum ein. River sah eine kleine Dusche, ein Waschbecken und eine Toilette, sowie einen Schrank und ein Regal mit blütenweißen Handtüchern. Er war erstaunt wie gut es in dem Raum roch, in dem sich die Gäste doch erleichterten. Bei Phil hatte das Badezimmer immer muffig gerochen, und die schwarzen Flecken an der Decke und den Wänden waren während seines Aufenthalts bei dem alten Mann zusehends gewachsen. Aber das war natürlich um Längen besser gewesen als bei Derk und seinen Männern, oder an den Einsatzorten bei seinen Kämpfen gegen die Silvers. Dort hatte er froh sein können, überhaupt für einen Moment ungestört zu sein, um seine Notdurft zu verrichten. Die meisten Cys hatten wie er selbst ein erhaltenes Verdauungssystem, was sie zwar abhängiger machte, aber für ihre menschlichen Körperteile von großem Vorteil war. Die wenigen Cys, die er kannte, die ihren Magen oder Darm eingebüßt hatten, mussten sich mit Nahrungsersatz versorgen, der gerade in Kampfgebieten nur sehr schwer zu bekommen war. Dafür hatten sie immerhin kein Problem mit den übelriechenden Exkrementen, die sie regelmäßig loswerden mussten, weil ihre Körper diese Art von Nahrung komplett absorbierten. Aber das war in der Tat bei den wenigsten der Fall, und River hatte oft genug noch den mit Blut vermischten Geruch der Fäkalien in der Nase, der die Luft erfüllte, wenn die Waffen der Silvers die Leiber seiner Kameraden zerfetzt hatten.
In dem kleinen Badezimmer an Bord des Schiffes hingegen duftete es, als würde er gerade über eine Blumenwiese wandeln. River ließ die Tür offenstehen, damit ein Hauch davon in seine Wohnkabine ziehen konnte. Er nahm seine Tasche vom Boden und stellte sie in einen Wandschrank. Erst jetzt wunderte er sich darüber, dass sie bei seiner Ankunft nicht durchsucht worden war. Andererseits: Wozu sollte man Taschen durchwühlen, wenn die Gäste die gefährlichsten Waffen doch ohnehin am und im Körper trugen? Das war nun mal das Risiko, wenn man sich mit Cys einließ – River ließ die kleine Kreissäge aus seiner Handfläche schnellen und betrachtete die rotierende Klinge eingehend. Mit Sicherheit war das eines der ungefährlichsten Implantate an Bord. Kein Wunder also, dass Neuankömmlinge streng darauf hingewiesen wurden, sich zu benehmen, und dass man ihr Gewaltlevel genau im Auge behielt. River fuhr die Säge ein, klappte probeweise das Messer auf und ließ es wieder verschwinden. Hoffentlich brauchte er diese Gegenstände ab jetzt nur, um widerspenstige Dosen zu öffnen. Er drehte die Hand. Auf ihrem Rücken waren Spritzer von dem Unrat zu sehen, den die Menschen nach ihm geworfen hatten. Er ging ins Bad und wusch sie ab. Das Wasser begann von selbst aus dem Hahn zu fließen, als seine Hand sich ihm näherte. Was für eine Wunderwelt das hier doch war! So hatten also die Menschen gelebt und sich vergnügt, bevor die Silvers sie binnen kürzester Zeit wie lästige Insekten im Dreck zertreten hatten. River empfand nicht wirklich etwas bei diesem Gedanken. Erst als er sich wieder ins Gedächtnis rief, dass diese Schweine ihm seine Mutter genommen hatten, regte sich Wut. Er unterdrückte sie rasch wieder, in Hinsicht auf die am nächsten Tag anstehende Untersuchung. Wenn er die erst mal hinter sich gebracht hatte, würde er sich ganz bewusst erlauben, zornig auf alles zu werden, was ihm widerfahren war. Vermutlich wurde es längst Zeit dafür. River begann damit, seinen Lederanzug auszuziehen, um sich schlafen zu legen. Zwar war er neugierig auf das Schiff, doch die Geschehnisse der letzten Tage forderten ihren Tribut, deshalb entschied er sich, fürs Erste den Luxus einer eigenen Kabine zu genießen. Er streckte sich lang auf dem Bett aus und blickte aus dem Fenster. Das Meer konnte er aus dieser Position nicht mehr sehen, doch dafür den mit Sternen übersäten Himmel. Sie funkelten und versprachen Hoffnung. Aber irgendwo von dort waren die Silvers gekommen – kaum zu glauben, welches Grauen sich hinter diesem schönen Anblick verborgen hatte.