Читать книгу Cys vs. Silvers - River und Armand - Hanna Julian - Страница 7

2. Kapitel

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»Setz dich nicht auf. Schön liegenbleiben, mein Junge.« River fragte sich, wie der alte Mann, den er vor sich sah, überhaupt auf den Gedanken kommen konnte, er würde sich bewegen können. Schließlich war er tot. Oder doch nicht? Für einen Toten hatte er auf jeden Fall zu große Schmerzen. Er konnte das rechte Auge öffnen; das linke fühlte sich an, als stecke glühendes Eisen darin. Der Rest seines Körpers schien weiterhin von Flammen traktiert zu werden, obwohl River kein Feuer mehr riechen konnte.

»Es muss schrecklich wehtun, nun, da du das Bewusstsein wiedererlangt hast. Aber keine Sorge, ich bin vorbereitet. Trink das hier.« Der Mann mit dem schütteren Haar, dem weißen Bart und den runden Brillengläsern hielt ihm ein Glas hin. Dann schien er erst zu realisieren, dass River nicht daraus trinken konnte, ohne den Oberkörper anzuheben.

»Warte …« Er griff nach einer Spritze, entfernte die Kanüle und steckte sie in das Glas, um sie mit Flüssigkeit zu füllen. »Mund auf! Und versuche zu schlucken, auch wenn es dir schwerfallen wird.« River öffnete den Mund – er war so durstig, dass er sogar Pisse getrunken hätte. Der Mann gab ihm den Inhalt der Spritze vorsichtig auf die Zunge, und River versuchte, ihn hinunter zu schlucken. Die Hälfte rann ihm jedoch übers Kinn, weil er nicht in der Lage war, den Mund zu schließen.

»Also gut, ein zweiter Versuch. Wir werden das ohnehin mehrfach machen müssen, damit du genügend Schmerzmittel aufnimmst. Ich habe glücklicherweise einen großen Vorrat, ebenso wie von Antibiotika. Ich fürchte, du wirst viel von beidem brauchen, weil du mir sonst doch noch unter den Händen wegstirbst.«

River begann zu begreifen, dass es sich bei dem alten Mann um einen Arzt handeln musste. Dann sickerte die Erinnerung durch. Nachdem er das Feuer verlassen hatte, war er von den umstehenden Männern verhöhnt worden. Sie hatten geglaubt, er würde ohnehin sterben, und einer wollte ihn sogar ins Feuer zurückwerfen, damit noch der Rest von ihm verbrannte. Doch dann hatte Derk entschieden, man solle ihn zu Frankenstein bringen. River kannte die Geschichten, die sich um diesen Namen rankten. Es war eine Figur aus einem Roman – aus Filmen. Ein aus Fantasie geschaffener Mann, der Monster aus Leichenteilen zusammengestellt hatte. Vielleicht hatte er nicht absichtlich schreckliche Kreaturen erschaffen wollen, dennoch gruselte es River alleine schon bei der Vorstellung, in die Nähe eines Mannes zu kommen, dem man einen solchen Spitznamen verlieh. Dieser Frankenstein schien jedoch gar nicht so unheimlich zu sein, obwohl die Umgebung durchaus geeignet war, dass einem ein kalter Schauer über den Rücken lief. Überall waren medizinische Instrumente zu sehen, darüber hinaus gab es Maschinen und jede Menge technischer Teile, die gemeinsam mit Operationsbesteck auf einem metallenen Tisch lagen. River fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Seine Gedanken waren träge, ansonsten wäre er wohl schneller darauf gekommen und pures Grauen hätte ihn ergriffen. So dämmerte er jedoch nach der Einnahme der Medikamente wieder in den gnädigen Schlaf, der die Schmerzen linderte, bis das Mittel ihm ein paar Stunden lang die Pein gänzlich nahm.

Als River erneut erwachte, fand er sich in einem Bett wieder. Die Wände des Raumes trugen eine Tapete, die lustige Tiere zeigte. River erkannte Giraffen mit karierten Schals um die langen Hälse. Elefanten mit Knoten im Rüssel. Zebras, denen die Streifen vom Körper rutschten und Löwen, deren Mähnen zu Zöpfchen geflochten waren. Als er den Kopf drehte, bemerkte er eine Lampe, die nur schwaches Licht abgab und in der silberner Glitter in einer Flüssigkeit träge auf und ab schwebte. In der Ecke gegenüber dem Bett, in dem er lag, stand ein Schaukelstuhl, auf dem ein großer Stoffbär saß und ihn anzulächeln schien. River konnte kaum glauben, dass er endlich wieder ein unzerstörtes Kinderzimmer zu Gesicht bekam. Er hatte alte Prospekte gefunden, die aus der Zeit vor den großen Invasoren-Angriffen stammten. Darin waren Kinderzimmer abgebildet gewesen, wie er selbst nie eines für sich alleine bewohnt hatte. An den einzelnen Möbeln und Dekorationen hatten Zahlen gestanden, die die Währung von einst betrafen. River selbst hatte nie den Umgang mit Geld gelernt. Ab und zu hatte er in den letzten zwei Jahren zwar Geldscheine und Münzen gefunden, doch sie waren inzwischen nicht mehr wert als der andere Unrat, der auf den Straßen und in den verlassenen Häusern herumlag. Manchmal hatte er gedacht, wie schön es gewesen sein musste, als man Dinge noch mit Geld kaufen konnte. Ab und zu hatte er sogar verwitterte Kinderzimmer gesehen, die von Rattenkot und Schimmel bedeckt waren. Aber niemals war ihm ein so ordentliches und liebevoll eingerichtetes zu Augen gekommen, wie das, in dem er nun lag. Die Frage war nur, wer ihn hierher gebracht hatte. Und vor allem, zu welchem Zweck?

Als River versuchte, sich aufzurichten, erfasste ihn unsäglicher Schmerz. Natürlich, er hatte schwerste Verbrennungen erlitten, wie hatte er also bloß auf den Gedanken kommen können, sich so zu bewegen, wie vor der Initiation? Aber Tatsache schien zu sein, dass er es überlebt hatte, denn die Vorstellung, dass der Tod einen in ein Kinderzimmer katapultierte, war so lächerlich, dass River dies nicht mal in Betracht zog. Viel eher tröstete er sich mit dem Gedanken, dass er nach Bestehen der Prüfung von den Männern in ihren Reihen aufgenommen worden war. Stellte sich nur die Frage, wer der Kerl gewesen war, den er bei seinem ersten Erwachen gesehen hatte. Denn der wirkte völlig anders als die Männer, mit denen er in den letzten Monaten zusammen gewesen war. Vermutlich hatte er von dem alten Mann nur geträumt. Und wen wunderte es, dass sein Geist sich einen Beschützer dieser Art erdachte, denn das Leben in Derks Clan war wirklich hart. Er hatte sich den Männern angeschlossen, weil er kurz vorm Verhungern gewesen war. Sie hatten ihm Nahrung und Schutz versprochen, wenn er sich ihnen als nützlich erwies. River hatte daraufhin für die Horde gekocht, sie bedient und Botengänge übernommen, um sich erkenntlich zu zeigen. Doch das hatte den Männern schon bald nicht mehr genügt. Immer wieder hatten sie ihn angefasst, was River hasste. Es waren nur flüchtige Berührungen gewesen, doch er hatte gespürt, dass bald mehr folgen würde. Also hatte er sich entschieden, die Initiation hinter sich zu bringen, um als vollwertiger Mann zu gelten und sich notfalls im Kampf gegen Übergriffe wehren zu dürfen.

Zwar hatte Derk schallend gelacht, als River ihm seine Bitte vortrug, doch schließlich hatte er gesagt: »Wenn der Knabe unbedingt zum Mann gebrannt werden möchte, dann errichtet die Feuerwände!« Und so war es geschehen. River hatte die flammende Hölle überstanden – nur um jetzt in einem Kinderzimmer zu erwachen? War das vielleicht ein grausamer Scherz der Männer, um ihn trotz seines Mutes wieder zum Knaben abzustempeln? River verspürte einen neuerlichen Schmerz, der durch seinen gesamten Körper schoss. Das Auge, das er nicht öffnen konnte, brannte fürchterlich. Er hob den Arm, um danach zu tasten. Als seine Hand ins Blickfeld des intakten Auges geriet, keuchte River vor Schreck auf. Was war aus seiner Hand geworden? Statt ihr erkannte er ein Skelett aus Metall, das wie eine Hand mit Fingern geformt war, und doch ganz anders aussah. In die künstliche Handfläche waren Werkzeuge eingelassen, die im wilden Wechsel herausschnellten. Ein Messer klappte auf und schnappte in die künstliche Hand zurück, eine kreisrunde Säge im Miniformat gab daraufhin einen sirrenden Laut von sich, während sie rotierte, und verschwand dann wieder. Mehrere feine Gebilde – manche seltsam gebogen – schlossen sich dem chaotischen Treiben an. Zuletzt verschwand alles unter einer Metallplatte, die sich schloss und den Inhalt der Hand verbarg. Auch der komplette Unterarm bestand aus Metall, wie River mit Ekel vor sich selbst erkannte. Er starrte immer noch auf das Grauen, als sich die Tür öffnete und derselbe Mann ins Zimmer trat, den er schon zuvor gesehen hatte. »Ah, du bist wieder wach. Und wie ich sehe, hast du bereits deine Hand inspiziert.«

»Das ist nicht meine Hand«, brachte River kraftlos hervor.

»Von nun an ist sie es. Deine richtige Hand war leider unrettbar. Ich musste sie samt Unterarm amputieren. So, wie einige andere Körperteile ebenfalls.« Diese Worte verursachten bei River eine Panikattacke. Er konnte plötzlich kaum noch atmen, und obwohl es unerträglich schmerzte, hob er den Kopf und blickte an sich hinab. Da er jedoch unter einer Decke mit bunten Dinosauriern lag, musste er seinen Versuch stöhnend abbrechen.

»Ich kann verstehen, dass du nun Gewissheit haben möchtest, was mit dir geschehen ist. Vielleicht ist es aber zu viel für dich wenn …«

»Was ist mit meinem Auge?«, unterbrach River den Mann.

»Es ist durch ein künstliches ersetzt worden. Die Prozedur ist noch nicht ganz abgeschlossen, daher ist es bislang nicht an den Stromkreislauf deines Körpers angeschlossen. Andere Elemente müssen zu einem späteren Zeitpunkt justiert werden, bevor sie durch deinen integrierten Stromerzeuger versorgt werden können. Aber das geht erst, wenn dein Körper die schlimmsten Strapazen überstanden hat. Dein Leben stand auf Messers Schneide, mein Sohn.«

»Ich bin nicht Ihr Sohn! Und sagen Sie mir nicht, ich wärs aber jetzt!«, herrschte River ihn in seiner Verzweiflung an. Er wollte diesem Mann nicht glauben, aber er spürte, dass er die Wahrheit sagte. Das also war Frankenstein – der Mann, der ihn vom Jungen in ein Monster verwandelt hatte. »Keine Sorge, ich werde dich nicht mehr meinen Sohn nennen, vorausgesetzt, du verrätst mir deinen Namen. Die, die dich brachten, wussten ihn nicht. Überhaupt wussten sie rein gar nichts über dich. Erzähle mir von dir.«

»Ich … ich … bin River.« Tränen traten River in sein menschliches Auge; er hasste es, diese Schwäche zu demonstrieren.

»River also«, brummte der Mann zufrieden. »Hallo River, mein Name ist Phil. Ich weiß, dass man mich da draußen Frankenstein nennt, aber wenn du mit mir auskommen willst – und ich fürchte, dir wird für lange Zeit nichts anderes übrig bleiben – dann nenne mich Phil.«

River versuchte zu nicken, aber der Kloß in seinem Hals war immer größer geworden, sodass er ein Geräusch von sich gab, das sich wie von einem geschundenen Tier anhörte.

»Vielleicht ist es doch besser, wenn ich dir erst ein wenig von mir erzähle, damit du dich nicht so anstrengen musst«, entschied Phil. »Vermutlich wunderst du dich, dass du in diesem Zimmer liegst. Nun, ich hoffe, du bist nicht beleidigt, denn mir ist bewusst, dass du nicht mehr wie ein Kind behandelt werden willst. Immerhin hast du das schreckliche Ritual auf dich genommen, das diese Bestie Derk und seine Bande eingeführt haben. Die meisten Jungen überleben die Prozedur nicht, was die Männer nicht stört, denn sie füttern niemanden freiwillig durch. Aber sie sehen es gerne, wenn jemand leidet – das lenkt sie von ihren eigenen Dämonen ab. Also machen sie ein Spiel daraus und rechtfertigen es mit den vermeintlichen Privilegien, die die Erfolgreichen erhalten. Es gibt aber kaum überlebende Anwärter. Um ein Haar wärst du ein weiteres Opfer dieser unmenschlichen Spiele geworden. Aber du hattest Glück – nun, vielleicht auch Pech, das wird sich erst noch herausstellen müssen. Doch bleiben wir bei mir. Mein vollständiger Name ist Phil Raven. Ich habe mein halbes Leben als plastischer Chirurg gearbeitet, bevor das Militär mich abgeworben hat, damit ich in streng geheimen Labors an Cyborg-Technologie arbeite. Als der große Angriff kam, war ich bereits im Altersruhestand, aber die Umstände haben dafür gesorgt, dass ich mich der Erschaffung von Cyborgs verschrieben habe, die dazu bestimmt sind, die Menschheit vor den verbliebenen Silvers zu verteidigen. Normalerweise bekomme ich Freiwillige, die sich dieser Aufgabe widmen möchten. Es sind erwachsene Männer, denn im Grunde ist es unverantwortlich, und zudem sehr kompliziert, diese Verwandlung bei einem Kind vorzunehmen.«

»Aber bei mir haben Sie es gemacht? Ich bin jetzt ein … Cyborg?«

»Du bist dabei, einer zu werden.« Phil schwieg nun, da er sehen konnte, wie erneut Tränen über Rivers Gesicht strömten.

»Warum haben Sie das getan? Scheiße, warum haben Sie mich nicht einfach sterben lassen?«, fragte River erstickt.

Der alte Mann seufzte schwer, dann räusperte er sich. »Weil ich mir sicher war, dass du nicht sterben möchtest. Du bist ein Kämpfer, das war mir klar.«

»Ach, und wie zur Hölle kommen Sie darauf? Sie kennen mich doch gar nicht.« River hatte es laut und zornig sagen wollen, aber seine zugeschnürte Kehle ließ nicht viel mehr als einen halblauten Protest zu.

»Nun ja, du hast dich Derk angeschlossen. Dazu muss man schon ein echter Kämpfer sein. Insbesondere wenn man so jung ist wie du. Und du bist durchs Feuer gegangen, um vollends dazu zu gehören.«

»Hat aber nicht geklappt«, bemerkte River und musste die Nase hochziehen. Phil holte ein Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche und wischte ihm damit die Nase ab. Als River mit der mechanischen Hand nach dessen Gelenk griff und ihn drohend ansah, erkannte er Schmerz in den Augen des Mannes.

»Wenn du mir nicht die Hand brechen willst, solltest du jetzt loslassen. Denn wenn du sie mir brichst, wirst du lange hilflos hier liegen, und vermutlich in diesem Bett sterben.«

River begriff, dass der Alte recht hatte. Er bemühte sich, seinen Griff zu lösen, was anfangs nur dazu führte, dass die Hydraulik sich noch fester um Phils Gelenk schloss. Als es ihm endlich gelang, betrachtete Phil den Schaden an seiner Hand und sagte so gefasst wie möglich: »Ich werde das kühlen müssen. Und ich schlage vor, dass wir morgen mit den Kontrollübungen beginnen, denn ich meine es ernst, River, wenn du mich verletzt, kann ich nicht weiter an dir arbeiten. Aber es ist viel Aufwand nötig, bis du als Cyborg leben kannst. Denn an dir entwickle ich zum ersten Mal einige Komponenten, die sich deinem Wachstum anpassen werden. Den größten Teil muss ich jedoch während deiner Entwicklungsphasen selbst jeweils neu implementieren. Es steht uns viel Arbeit bevor, und ich möchte, dass du dich mit diesem Gedanken in Ruhe auseinandersetzt.« Damit drehte er sich um und ließ River allein.

*

»Sie wollten mir erzählen, was das für ein Zimmer ist.« River hatte geduldig gewartet, bis der alte Mann zu ihm zurückkehrte. Es hatte lange gedauert, und nun trug Phil einen Verband ums Handgelenk.

»Das scheint dich ja wirklich sehr zu beschäftigen. Mehr, als dein jetziges Aussehen?«

River überlegte. »Ich glaube, ich überlebe die Nacht nicht, wenn ich weiß wie ich jetzt aussehe. Also, wenn ich später alleine im Dunkeln hier liegen muss«, gab River zu.

»Du meinst, du könntest dich vor dir selbst wegen deines Aussehens gruseln?«, fragte Phil überrascht. River nickte nur. »Verstehe … aber du musst dir wegen der Dunkelheit keine Sorgen machen, es gibt ein Nachtlicht. Das hat Benjamin – mein Enkel – auch immer gebraucht. Dies war sein Zimmer.«

»Wo ist er jetzt?«

»Er ist tot.« Phil sagte es ohne Emotion, aber seine Kiefer traten unter den Wangen hervor, als er die Zähne fest zusammenbiss.

»Wie alt ist er geworden?«

»Er war vierzehn, als er starb.«

»Vierzehn? Und da hat er noch in Bettwäsche mit Dinosauriern geschlafen?«, erwiderte River. Er war froh, ein Gespräch führen zu können, denn es lenkte ihn zumindest ein wenig von den Schmerzen und seiner eigenen Situation ab.

»Benjamin war nicht wie andere Kinder. Er war geistig zurückgeblieben. Geistig und körperlich hat er sich nach seinem sechsten Lebensjahr kaum weiterentwickelt.«

»Wieso nicht?«

»Das lag daran, weil er während der Geburt eine Zeit lang keinen Sauerstoff bekommen hat. Meine Tochter Jane – Benjamins Mutter – starb während der Entbindung. Sein Vater hat sich, nachdem er die Diagnose kannte, auf und davon gemacht. Das war der Grund, warum meine Frau Kate und ich uns wie Eltern um den kleinen Benjamin gekümmert haben. Die Ärzte haben ihm damals nur acht bis zehn Jahre gegeben, weil zudem ein Genschaden vorlag.«

»Aber er hat dann doch länger gelebt«, stellte River fest.

»Ja. Benjamin hat vierzehn Jahre geschafft und meiner Frau und mir viel Freude bereitet. Als er starb, hat es Kate das Herz gebrochen. Sie war so deprimiert, dass es ihr nicht mal viel ausgemacht hat, von den Silvers das Todesurteil zu bekommen. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, sie war dankbar dafür, dass sie ihr Leben nicht mit dieser Leere in ihrem Herzen weiterführen musste. Nun ist es an mir, mit den Verlusten klarzukommen. Und ich gebe zu, dass ich es nicht geschafft habe, Benjamins und Kates Sachen wegzuräumen. So kommt es mir ein wenig so vor, als gäbe es die beiden noch.«

»Aber jetzt liege ich in Benjamins Bett. Stört Sie das nicht?«

»Nein. Anfangs dachte ich, es würde mich stören, aber ich stelle fest, dass es mich sogar tröstet.«

River dachte darüber nach, dann sagte er ebenso leise wie bestimmt: »Aber ich bin nicht Benjamin, das dürfen Sie nicht vergessen. Ich war nie ein kleiner, behüteter Junge.«

»Richtig, das warst du ganz bestimmt nicht. Doch nun werde ich auf dich aufpassen.«

»Und mich weiterhin verwandeln? Von einem Menschen in einen Cyborg?«

»Ja, genau das werde ich tun, denn wenn ich es nicht tue, wird dein Herz-Kreislaufsystem zusammenbrechen. Du lebst nur noch, weil dein internes Stromnetz alles im richtigen Maße versorgt.«

»Dann bin ich froh drüber«, entgegnete River so abgeklärt, dass er Phil damit ein trauriges Lächeln entlockte.

»Bist du nun bereit, mir von dir zu erzählen?«, fragte der alte Mann.

»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich kenne meine Eltern nicht. Mein Vater hat mich wohl nur gezeugt, aber er hatte keine Beziehung mit meiner Mutter. Glaube ich jedenfalls, weil sie mich mit vierzehn Jahren bekommen und zur Adoption freigegeben hat. Ich war allerdings meist in Heimen. Dann kamen die Silvers und ich habe mich so durchgeschlagen, bis ich bei Derk und seinen Männern landete. Mehr gibt’s eigentlich nicht über mich zu erzählen.«

»Wie alt bist du jetzt?«, fragte Phil.

»Ich weiß nicht genau, aber ich war zehn, als die Silvers kamen. Ich bin jetzt elf oder zwölf. Keine Ahnung, welchen Monat oder Tag wir haben«, gab River zu. Phil nickte und strich sich über den Bart. »Ich kann verstehen, dass du unter diesen Umständen das Zeitgefühl verloren hast. An welchem Tag hast du Geburtstag?«

»Am 22. April.«

»Dann bist du inzwischen zwölf Jahre alt. Heute ist der 5. Mai. Wir sollten deinen Geburtstag nachfeiern.«

River zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm gleich, aber Phils Lächeln sagte ihm, dass der alte Mann verstanden hatte, wie sehr er sich in Wahrheit darüber freuen würde. Doch es gab leider andere Dinge, die wichtiger waren. Mit entsprechend ernster Miene sagte Phil:

»Du bist wirklich noch sehr jung, um Eingriffe dieser Größenordnung vorzunehmen. Andererseits kann dein Körper sich vielleicht besser den Veränderungen anpassen, als ein bereits ausgewachsener. Tatsache ist jedoch, dass im Laufe deines Wachstums weitere, unzählige Operationen anstehen. Es wird eine schreckliche Zeit für dich sein. Für mich wird sie ebenfalls körperlich und seelisch sehr anstrengend werden. Daher möchte ich eine Entscheidung von dir.«

»Welche Entscheidung?«, fragte River erstickt. Phils Worte hatten ihm Angst gemacht, und er wusste, dass man diese Furcht in seiner Stimme nur zu gut hören konnte.

»Ich möchte wissen, ob es dir ernst damit war, dass ich dich lieber hätte sterben lassen sollen. Denn wenn du wirklich so empfindest, sollten wir dafür sorgen, dass du ein so schmerzfreies Leben wie möglich führen kannst, solange es unter diesen Umständen eben währt.«

»Aber Sie sagten, dass mein Herz-Kreislaufsystem zusammenbrechen würde, wenn Sie mich nicht weiter durch Technologie am Leben halten.«

»Ja, das ist richtig. Ich würde diese Systeme so lange in Betrieb lassen, wie es ohne weitere Eingriffe möglich ist. Du hättest ein recht schönes Leben, sofern du damit zufrieden bist, als Gesellschaft nur einen alten Mann um dich zu haben. Aber deine Lebenszeit wäre sehr begrenzt. Vermutlich hättest du nicht so viel Glück wie Benjamin, der Zeit mehr abzuluchsen, als sie dir gewähren will.«

»Was denken Sie, wie lange das wäre?«

»Ein paar Wochen, mehr nicht. Solltest du dich jedoch entscheiden, den eingeschlagenen Weg der Verwandlung weiter zu beschreiten, wirst du dich vom Menschsein so weit entfernen, dass man dich als einen Cy betrachten wird. Und du wirst ein Leben führen müssen, das du in den Dienst der Menschheit stellst. Die Elemente für deine Verwandlung werden mir nämlich von der Army bereitgestellt. Die Komponenten sind ansonsten nicht mehr zu finden, und meine Dienste sind eigentlich anderen zukünftigen Kämpfern vorbehalten. Ich habe aber die Erlaubnis, die Zeit für dich aufzuwenden, obwohl es viele Jahre dauern wird. Aber die werden sich lohnen – auch für die Army, denn die sind ebenfalls an den anpassungsfähigen Komponenten interessiert, die ich für dich entwickeln werde.«

»Warum? So viele Kinder wird’s wohl bis dahin nicht mehr geben, bei denen man die einsetzen könnte.«

»Das ist richtig. Aber man wird sie auch bei Cys verwenden, die schon lange in Betrieb sind. Es werden dann weniger Operationen für Austauschteile anfallen, und die Cyborgs werden vermutlich sogar eine längere Lebensdauer haben als bisher. Aber um das genau sagen zu können, werde ich forschen müssen.«

»An mir«, schlussfolgerte River, seine Stimme klang matt. Phil nickte.

»Ja, an dir. Das ist der Job, dem ich mich verpflichtet habe. Aber du bist für mich trotzdem ein ganz anderer Fall, als die Cyborgs, die ich sonst erschaffe. Ich fühle für dich ganz anders – ich will dich beschützen, verstehst du?« River nickte, doch er konnte darauf nichts erwidern.

Nach einer kurzen Pause räusperte sich Phil und sagte mit härterer Stimme: »Dennoch muss dir klar sein, dass du den gleichen Weg wie die anderen gehen musst, da ich mich dazu verpflichtet habe, dich am Ende deiner Verwandlung der Army zu überlassen. Andererseits weiß niemand was wird. Möglicherweise sieht die Welt in ein paar Jahren schon ganz anders aus, obwohl ich nicht weiß, wie das ohne Kinder, und damit unserem Fortbestand, ein gutes Ende nehmen sollte. Dennoch könnte es sein, dass du dann in einer Welt lebst, die dir gefällt. Ich finde, das sollte man nicht außer Acht lassen. Und nicht zuletzt bedeutet die Fortführung der Verwandlung, überhaupt ein Leben zu haben.«

»Eines als Cyborg. Viele sagen, das ist überhaupt kein richtiges Leben.« Phil seufzte schwer. »Natürlich sagen das einige Menschen. Aber sie haben nie als einer gelebt. Aus Erfahrung kann ich dir sagen, dass die Männer, die ich umgewandelt habe, keinerlei so triste Gedanken über ihr Dasein hegen. Ganz im Gegenteil, sie versichern mir, dass sie ebenso fühlen und denken wie zuvor. Nur, dass sie eben körperlich den Menschen weit überlegen sind, und diese sie deshalb zwar benutzen, aber auch fürchten.«

»Dann können Sie mich also in jemanden verwandeln, vor dem die Leute mehr Angst haben, als vor Derk?«

»Viel mehr als vor Derk«, bestätigte Phil; er sah River zum ersten Mal lächeln. »Finde ich toll!«, gab der Junge unumwunden zu.

»Aber es wird ein sehr schwerer Weg für dich werden. Du wirst dich oft so fühlen, als würdest du erneut in Flammen stehen. Es wird wehtun, River. Sehr weh sogar! Und es gibt nicht viel, was ich tun kann, um es dir leichter zu machen, denn die Schmerzmittel müssen wir mit Vorsicht einsetzen.«

Als Rivers Lächeln erstarb, rechnete Phil mit einer Absage. Es war immerhin furchtbar, zu wissen, dass Jahre voller Schmerz, und danach eine Zukunft, in der man benutzt wird, vor einem liegen.

River blickte Phil direkt in die Augen und sagte: »Ich will mich erst entscheiden, wenn ich gesehen habe, was Sie bis jetzt aus mir gemacht haben. Ich möchte alles sehen … absolut alles. Dann sage ich Ihnen, was ich möchte.«

*

Als Phil die Decke anhob, brach Rivers Welt zusammen. Er hatte geahnt, dass es schlimm werden würde, aber auf den Anblick blanker Knochen, zerfetzter Muskeln und darin verschraubter Metallteile war er nicht vorbereitet gewesen. Sein rechtes Bein war bis zur Leiste durch eine Prothese ersetzt worden. Darin befanden sich Lämpchen, die unaufhörlich vor sich hin blinkten. Es waren rote, gelbe und grüne, und River dachte voll bitterer Selbstironie, dass er nun eine lebende Ampel war. Der rechte Arm teilte das Schicksal des Beines, denn ab dem Ellenbogen war er abgetrennt und durch einen mechanischen Unterarm und eine künstliche Hand ersetzt worden. River konnte blanke Sehnen erkennen, die mit Kabeln verbunden worden waren.

»Wie ich dir bereits sagte, sind wir noch nicht fertig. Es braucht Zeit, bis ich checken kann, ob das Interface so stabil ist, dass ich Haut über den Schnittstellen anbringen kann. Willst du mehr sehen?« Phils Stimme klang so nervös, dass River der Mut gänzlich schwand. Aber konnte es überhaupt wirklich noch schlimmer werden? Ja, das konnte es. Als Phil ihm einen Spiegel vorhielt, sog River scharf die Luft ein.

»Ich bin ein Monster. Ein Freak. Ein … Albtraum!«

Sein linkes Auge war nicht mehr vorhanden. Stattdessen war da ein Gebilde mit Linse, das Augenlid ersetzt durch einen Shutter, der sich öffnen und schließen ließ. Das Gebilde lagerte in der Augenhöhle, die mit Spinnweben aus feinsten Metalldrähten gefüllt war, die dafür sorgten, dass die Linse in alle Richtungen zu rotieren vermochte.

»Der Sehkraftverstärker ist noch nicht einsatzfähig. Dazu muss das Narbengewebe erst so stabil werden, dass ich die Energiezellen implantieren kann. Alles andere ist bereits angelegt und vernetzt.«

»Vernetzt«, flüsterte River kraftlos.

»Ja, ähm … es war auch ein Eingriff unter deiner Schädeldecke notwendig, da du ein Mindestmaß an Programmierung auf einem Computerchip erhalten hast. Steuerungsrelevante Daten und das vorgeschriebene Selbsterhaltungsprogramm. Das Prozedere ist unabdingbar, da die Vorschriften der Army für mich verpflichtend sind.«

Eine Programmierung, die also nicht nur dazu diente, seine Systeme kontrolliert laufen zu lassen, sondern auch, sein eigenes Denken und Handeln in lebensbedrohlichen Situationen zu beeinflussen und seine eigenen Entscheidungen außer Kraft zu setzen … River musste sich enorm zusammenreißen, um sein Entsetzen darüber im Griff zu behalten. Gerne hätte er geschrien und panisch um sich geschlagen, doch ihm war bewusst, dass ihm das kein Stück weiterhelfen würde, zudem fehlte ihm für so einen Ausbruch auch gänzlich die Kraft. Mit dumpfer Stimme fragte er: »Was noch alles?«

Phil hatte nun wieder eine professionelle Miene aufgesetzt und seine Stimme klang nüchtern. »Ich musste auch deinen Torso öffnen. Aber außer einer künstlichen Niere sind deine Organe unverändert. Es bleibt die Frage, ob ich das Herz ersetzen muss, oder ob deines mit dem Stromkreislauf kompatibel bleibt. Kann sein, dass es hier zu einer Notfall-Operation kommt, aber wenn das der Fall ist, bin ich vorbereitet.«

»Wie beruhigend«, erwiderte River und biss sich auf die Lippe. Sie war verkrustet, aber immerhin schien sie nicht gänzlich verbrannt zu sein. Im Gegensatz zu seinen Wimpern und Augenbrauen, von denen kein Härchen mehr übrig war. Ihr Fehlen ließ sein Gesicht zu einer vollkommen ungewohnten Maske werden. River versuchte, tapfer zu bleiben. Er drehte den Kopf langsam in beide Richtungen und erkannte, dass seine Ohren ebenfalls ersetzt worden waren.

»Es ist Silikon. Ich habe mir Mühe gegeben, sie so natürlich wie möglich zu gestalten. Ich denke, es ist mir gelungen. Wenn man sie nicht anfasst, ist eigentlich kein großer Unterschied zu bemerken.«

»Ich sehe ihn«, korrigierte River und fügte mit krächzender Stimme an: »Ich weiß nämlich wie sie vorher aussahen.«

»Tja, du hattest bestimmt sehr niedliche Öhrchen, bevor du dich entschieden hast, sie zu knusprigem Speck werden zu lassen.« Plötzlich klang Phil wütend, doch sofort rieb er sich die Augen und sagte dann versöhnlich: »Tut mir leid, River, aber ich leide ebenso unter all dem wie du. Wenn ich mir vorstelle, dass Benjamin jetzt an deiner Stelle wäre, weiß ich, wie falsch das alles ist. Aber es bleibt dabei, dass du nur die Wahl zwischen einer Verwandlung und dem Tod hast. Ich hoffe, du triffst die richtige Entscheidung. Die, die für dich die richtige ist, meine ich.«

River tat so, als hätte er weder den Angriff, noch das Mitgefühl in Phils Stimme wahrgenommen. Stattdessen fragte er sachlich: »Was können diese Silikondinger, was meine echten Ohren nicht konnten? Oder haben Sie sie nur angebracht, damit ich nicht wie ein Arsch ohne Ohren aussehe?«

Phil lächelte. »Sie sind beide mit einem Hörkraftverstärker ausgestattet. Aber du musst sie extra aktivieren, denn ich dachte mir, dass es bestimmt extrem nervend ist, jedes kleine Geräusch wahrzunehmen, obwohl man das nicht will. Ich habe mir dazu meine Großmutter zum Vorbild genommen, die grundsätzlich ihr Hörgerät nur angeschaltet hat, wenn es sich ihrer Meinung nach lohnte. Und glaube mir, das war äußerst selten der Fall.« Er lächelte, und River fühlte zum ersten Mal, seit er in den Spiegel gesehen hatte, ein wenig Menschlichkeit. Phil ließ den Spiegel sinken und legte ihn auf den Nachtschrank neben dem Bett.

»Nun hast du alles gesehen. Ich denke, ich weiß ungefähr, wie du dich jetzt fühlst. Aber das Monster, das du in dir selbst zu erkennen glaubst, existiert nicht. Das da drin bist nach wie vor du, selbst wenn dein Körper sich verändert hat. Und du solltest bedenken, dass er nicht so wund und nackt bleibt. Sobald alles funktioniert, werde ich dafür sorgen, dass du mit Haut versorgt wirst und die elektronischen Elemente sich so gut in deine Bewegungen einfügen, dass sie eine Bereicherung und kein Joch sein werden.«

River nickte. Was blieb ihm auch anderes übrig? »Ich habe Schmerzen, aber nicht so schlimme, wie ich wohl haben müsste. Wie kommt das?«

»Morphium. Es gibt einen Vorrat in deiner linken Achselhöhle, der dich nach einem strengen Zeitplan versorgt. Ich habe ihn nach den ersten Operationen implementiert, denn ich wollte nicht Gefahr laufen, dass du vor Schmerz wahnsinnig wirst. Mir ist allerdings bewusst, dass es trotzdem immer noch sehr quälend für dich sein muss.«

Er wartete auf Antwort, doch River schwieg. Sein Herz raste, als wolle es vor all dem davonlaufen. River blickte zum Fenster hinaus und erkannte auf der gegenüberliegenden Seite ein Haus mit einem verfallenen Dach. Ziegel fehlten und eine aus der Verankerung gerissene Satellitenschüssel hing lediglich an einem vollkommen abgewetzten Kabel, das aus einem Draht ohne Ummantelung bestand. Ein seidener Faden, doch stabil genug, um das nun unnütze Teil nicht in die Tiefe stürzen zu lassen. Als Rivers Herzschlag sich ein wenig beruhigt hatte, sagte er: »Ich möchte, dass Sie mit der Arbeit an mir weitermachen.«

*

River hatte sich für das Leben entschieden. Und Phil tat in den folgenden Jahren sein Bestes, um diesem Wunsch gerecht zu werden. Immer wieder musste River für lange Zeiträume das Kinderzimmer verlassen, um im Keller des Hauses neue Operationen und deren langwierige erste Heilungen über sich ergehen zu lassen. Und obwohl es Phil sehr leid tat, musste er ihn doch für Wochen dort behalten, da er im Notfall nur im Labor das erforderliche Equipment zur Hand hatte, um River, der auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod wankte, nicht in die falsche Richtung kippen zu lassen. Jedes Mal, wenn die heikelsten Phasen überwunden waren, und River in Benjamins Zimmer zurückkehren durfte, gestaltete Phil es als kleine Feier. Sie aßen dann gemeinsam Kuchen, den Phil zwar mehr schlecht als recht zusammenbuk, den River aber dennoch liebte. Und mit jeder Rückkehr wurde das Zimmer von Phils Enkel mehr und mehr zu Rivers Zimmer. Als er anfangs den Stoffbären geknuddelt hatte, war Phils Blick voller Wehmut gewesen. Später reichte er ihn ihm jedoch ohne mit der Wimper zu zucken von selbst, obwohl das Stofftier durch Rivers oftmals noch unkontrollierten Umgang mit seinen elektronischen Gliedmaßen tiefe Risse erlitt. Einmal zerteilte Rivers implantierte Mini-Kreissäge das linke Glasauge des Bären. River glaubte, dass Phil ihm die Hölle heiß machen würde, doch der lächelte nur und sagte: »Jetzt sieht er ein wenig aus wie du.«

Phil brachte River einiges an Bildung nahe, in deren Genuss er ansonsten vermutlich nie gekommen wäre. Er lehrte ihn, sich gewählter auszudrücken und beantwortete ihm allerlei Fragen. Manchmal schien er – trotz seines Wissens über dessen Herkunft – erstaunt zu sein, dass River bislang so wenig Ahnung von der Welt, ihren zwischenmenschlichen Regeln und den Naturgesetzen hatte. »Es ist immer gut, sich mit vielen unterschiedlichen Dingen zu beschäftigen, dann ist man auf die meisten Herausforderungen vorbereitet, die das Leben für einen bereithält«, sagte er oft, wenn River zu bedenken gab, dass er mit dem ganzen Wissen vermutlich niemals etwas würde anfangen können. Da er aber spürte, wie gut es Phil tat, über Kultur, die Politik von einst – aber vor allem über Wissenschaft zu sprechen, ließ er den alten Mann reden, auch wenn er oft genug während dessen Monologen einschlief.

Die Jahre vergingen, und als River achtzehn wurde, musste er das geliebte Kinderzimmer, aber auch seinen bislang einzigen Freund Phil verlassen, um seiner Bestimmung als Cyborg nachzukommen. Phil, der mit einigen Leuten aus der früheren Regierung das Abkommen geschlossen hatte, ihnen Cyborgs zu liefern, und im Gegenzug von der Außenwelt unbehelligt sein bisheriges Leben weiterführen zu dürfen, wollte sich zum ersten Mal weigern, einen erfolgreich umgewandelten Menschen auszuliefern.

River vergaß nie seine Worte: »Das ist kein Cy. Es ist ein Kind … River ist MEIN Kind!« Das war kurz bevor einer der Männer Phil mit einer Eisenstange mehrfach auf den Kopf schlug, solange bis seine Hirnmasse aus dem zerbrochenen Schädel quoll. Um seine Tat zu vertuschen, hatte er danach das Haus in Brand gesteckt. Der Mann entkam seiner Strafe jedoch nicht, als herauskam, dass durch seinen Gewaltausbruch nicht nur einer der wichtigsten Hersteller der Cys getötet worden war, sondern auch dessen Aufzeichnungen über die anpassungsfähigen Komponenten in den Flammen verloren gingen.

Für River war jedoch weit mehr als das verloren gewesen, denn mit Phil starb der einzige Mensch, für den er selbst bis zu diesem Zeitpunkt bereit gewesen wäre, zu sterben. Ihm blieb damals jedoch nur wenig Zeit, um seinen Freund zu trauern, der sich zuletzt sogar als sein Vater angesehen hatte. Ein Leben als Phils Sohn hätte sicher ein lebenswertes sein können, doch River wurde gezwungen, andere Wege zu gehen. Gemeinsam mit weiteren unausgebildeten Cys brachte man ihn in ein Camp, wo sie von Eliteeinheiten des einstigen Militärs unterrichtet wurden. Von nun an war River nicht mehr als eine Nummer, die immer dann aufgerufen wurde, wenn er an gefangenen Silvers üben sollte, sie am effektivsten zu vernichten. Niemals hatte er Angst in den Augen der Feinde gesehen, und das bestärkte ihn mit der Zeit darin, dass sie selbst keine solchen Empfindungen hatten, wie die Menschen. Sie waren Killermaschinen, die von den anderen Silvers zurückgelassen worden waren, um ihren perfiden Plan zu überwachen und mit allen Mitteln durchzusetzen. River lernte schon bald, sie so zu hassen, wie diese Invasoren die Menschheit hassen mussten.

Nach seiner Ausbildung wurde er zunächst in ländlichen Gebieten als Späher eingesetzt und kundschaftete mit zwei anderen Cys Silver-Nester aus, die sie in den Olympic Mountains, im ehemaligen Bundesstaat Washington, errichtet hatten. Als sie auf dem Mount Olympus eine Gruppe Silvers ausfindig gemacht hatten, löste sich ein Gletscher; die beiden anderen Cys wurden irreparabel beschädigt. In diesem Moment begriff River, dass Phil ihm nicht das ewige Leben hatte schenken können. Sicher, er war robuster und weitaus ausdauernder als ein Mensch, doch gegen die Gewalten der Natur konnte er nichts ausrichten. Auch seine Begleiter hatten das nicht gekonnt, und sie waren nicht mal im direkten Kampf gegen die Feinde gestorben.

Plötzlich schien es River wenig erstrebenswert, sein Dasein womöglich ebenfalls als Späher zu beenden. Er entschied sich, von nun an im Truppenverband eingesetzt zu werden, weil ihm bewusst war, dass ihn das direkt aufs Schlachtfeld führen würde. Er akzeptierte es als seine wahre Bestimmung. Drei Jahre lang kämpfte er an vorderster Front gegen die Aliens. Es schien ihm, als würde er genau das für den Rest seines Lebens tun. Doch dann geschah etwas, das alles veränderte. Seine Systeme eskalierten in einem beinahe schon verloren geglaubten Kampf auf erschreckende Weise, und River sorgte damit sogar in den eigenen Reihen für tiefes Misstrauen. Von diesem Tag an wollte er sich in keinen Truppenverband und in kein Team mehr aufnehmen lassen. Er äußerte den Wunsch, alleine in Städten agieren zu dürfen. River wollte zurück nach New York, wo sein Dasein als Cyborg mit dem grausamen Gang durchs Feuer begonnen hatte. Man gewährte ihm seinen Wunsch, instruierte ihn was zu tun sei, und ließ ihm etwa ein halbes Jahr lang immer neue Befehle und Ziele zukommen. Doch im Laufe der Zeit wurden diese Informationen stetig weniger, und schließlich hatte man River aus den Augen verloren. Eine Art von Freiheit, mit der er zunächst nichts anzufangen gewusst hatte. Schließlich jedoch hatte er sich mit Jack zusammengetan, der wie er inzwischen ein Cyborg ohne Gruppenzugehörigkeit war. Ihr Ziel, Silvers zu töten, war in den Hintergrund getreten, stattdessen hatten sie eine Gemeinschaft zu zweit aufgebaut, von der River geglaubt hatte, sie hätte denselben Stellenwert in seinem Leben, wie seine Zugehörigkeit zu Phil – vielleicht sogar um einiges mehr. Nun war er jedoch im Zweifel darüber, ob es jemals wirklich so gewesen war, und das machte ihn ebenso entsetzlich wehrlos, wie eine frische Amputation.

Cys vs. Silvers - River und Armand

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