Читать книгу Kurakin - Hanna Molden - Страница 6

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1.

Anna lachte, als Oleg sie durch das Fenster des schäbigen Nachkriegsautobusses erblickte.

Sie war nicht schön, aber wer sie sah, vergaß sie nicht mehr. Sie hatte eine zu kleine Nase für einen zu großen Mund, zu starke Backenknochen für ihr sanftes Kinn, starke, dunkle Augenbrauen über schrägen, grauen Augen und eine Masse schweren Haares, das sie selbst als bunt bezeichnete, weil es von blond bis kupfer abschattiert war. Nein, Anna war nicht schön, aber ihr Gesicht war ungewöhnlich, und wenn sie lachte, entwickelte sie einen Zauber, der sich einprägte, so daß man noch Jahre später zu sagen vermochte, wann und wo man ihr — und sei es noch so flüchtig — begegnet war. Annas Lachen war totale Präsenz, war vorbehaltlose Hingabe an Ort und Stunde. Anna lachte, als Oleg sie durch das Fenster des schäbigen Nachkriegsautobusses erblickte.

Es war April und kalt und windig. Anna und Helen waren dicht aneinandergerückt, um sich zu wärmen, während sie auf die Abfahrt des Busses warteten. In der Reihe vor ihnen saß Ewgenia Konstantinowna Schischkina, eine eindrucksvolle Frau von hagerer Strenge mit straff zurückgenommenem, im Nacken zu einem Knoten zusammengedrehtem Haar. Helen behauptete, die Russin zähle zu den besten Konferenzdolmetscherinnen der Welt. »Vor der zittern Staatsmänner«, raunte sie Anna zu. Die Art, wie die Schischkina sie ohne den Schatten eines Lächelns gemustert hatte, war Anna unangenehm gewesen. »Von der glaub’ ich alles«, flüsterte sie zurück. »Sie sieht aus wie mein ehemaliger Klassenvorstand, sie geht sicher in den Keller lachen.« Anna hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Ewgenia Konstantinowna ihre Worte gehört, geschweige denn deren Bedeutung verstanden haben könnte. Ihre Augen wurden weit, als die Frau sich umwandte und in fließendem Deutsch sagte: »Irrtum, ich lache, wenn ich einen Grund dazu finde. Zur Zeit sehe ich keinen.« Ihre Stimme klang ein wenig rauh und warm. Ehe Anna etwas erwidern konnte, hatte die Dolmetscherin ihr wieder den Rücken zugewandt. Das Mädchen starrte auf den dunklen, grau gesprenkelten Haarknoten und suchte nach einer Antwort, die flott klingen und nicht keck sein sollte. Was dann geschah, enthob es des Ärgers, nichts Passendes gefunden zu haben.

Bremsen quietschten, auf der anderen Straßenseite, drüben beim Naschmarkt, hielt ein Taxi. Es war einer jener abgetakelten amerikanischen Straßenkreuzer, die die US-Besatzungsmacht bei ihrem Abzug zurückgelassen hatte. Der Wagen schlingerte; noch ehe er zum Stillstand gekommen war, flogen die Hintertüren auf, Reisetaschen plumpsten auf die Straße, zwei lange Männerbeine in Rauhlederhosen wurden sichtbar. Anna hörte Helen erleichtert seufzen. »Er ist da, das ist Luis.« Die Beine gehörten einem Adonis mit dunklen Locken. Er ist zu schön, dachte Anna. Der Adonis fischte zunächst eine Fototasche, dann eine biegsame Frau aus dem Wagen. Sie war geschminkt wie Juliette Greco und trug Schwarz. Als sie auf der Straße stand und ihr Haar schüttelte, fiel einer ihrer Ohrringe zu Boden. Adonis beugte flugs ein Knie, hob den Ohrring auf und drückte ihn übertrieben innig an die Lippen, ehe er ihn der Greco reichte. Helen zog hörbar die Luft ein und kniff Anna in den Arm. »Hast du das gesehen?« fragte sie bestürzt.

Anna hatte es gesehen, jeder im Bus hatte es gesehen, die Ankömmlinge waren jene Passagiere, auf die die Reisegesellschaft seit gut vierzig Minuten wartete. Der rauhlederne Luis hatte sich die Fototasche umgehängt und griff nach den Reisetaschen. Die Frau in Schwarz blieb neben dem Wagen stehen und lachte jemandem zu, der neben dem Taxifahrer saß. Es muß ein Mann sein, dachte Anna, so lacht man nur einem Mann zu. Erkenntnisse wie diese traf sie intuitiv. Ging es um das Spannungsfeld Mann – Frau, irrte sie selten. »Also, wo bleibt er?« fragte sie sich.

Sie würde Olegs Auftritt nie vergessen. Zunächst stieg der Taxichauffeur aus. Er wieselte um den Wagen und riß den Schlag auf. Das Trinkgeld muß saftig gewesen sein, dachte Anna, dann hörte sie zu denken auf. Der Mann, der aus dem Taxi stieg, bewegte sich für seine Größe auffallend behende. Geschmeidig war er aus dem Wagen geglitten und stand so plötzlich neben dem Fahrer, als hätte man ihn hingezaubert. Seine Hüften waren schmal, sein Brustkorb breit, seine Schultern massig. Sein Hals war lang und kräftig, er trug seinen Kopf wie ein König. Sein Schädel war vollkommen geformt und kahl. Edel gebaut, mattglänzend wie Elfenbein und vollkommen kahl. Er nickte dem Taxifahrer zu, hakte die Greco unter und überquerte mit ihr die Straße.

Die Buspassagiere hatten die Ankunft des Trios verfolgt wie Kino. Nur die Schischkina hatte nicht hingesehen. Sie las. Sie raschelte mit der Zeitung, blätterte um und sah dabei kurz zum Fenster hinaus. Als sie den Mann mit dem spiegelnden Schädel erblickte, ging eine dramatische Veränderung mit ihr vor. Sie stieß einen Schrei in russischer Sprache aus, halb Freuden-, halb Triumphschrei, ihr Gesicht, ihr ganzer Körper barst vor Lachen. »Kurakin!« schrie sie und patschte wie ein Kind mit ihren beiden flachen Händen gegen das Fenster. Der Glatzkopf hörte sie nicht, er sprach mit der Frau an seiner Seite, während er sich dem Autobus näherte. Die Schischkina wurde ärgerlich. Sie sprang auf, stieß mit dem Kopf gegen das Gepäcksnetz, worin sich eine ihrer beinernen Haarnadeln verfing, sie zerrte und ruckte, worauf sich ihr Knoten löste, sie faßte mit einer Hand nach den Haarsträhnen im Nacken, während sie mit der anderen immer heftiger gegen das Fenster trommelte. »Kurakin!« schrie sie. »Oleg Ivanowitsch, was ist los, bist du taub?« Anna fand das alles sehr komisch. Sie warf den Kopf zurück und begann just in jenem Augenblick, da der große Mann mit dem wiegenden Gang das Patschen am Fenster gehört hatte und aufsah, zu lachen.

Der Beamte des Außenministeriums, der die Reisegesellschaft begleitete, empfing die drei verspäteten Passagiere an der Bustür. Ewgenia Konstantinowna warf das protokollarisch determinierte Begrüßungsritual des Legationsrats über den Haufen, indem sie nach vorne rannte, die Stufen im Sprung nahm und dem Kahlen um den Hals fiel. »Schenja!« rief der Mann, lüpfte die Dolmetscherin vom Boden und wirbelte sie herum. »Wer ist der mit der Glatze?« wandte Anna sich an Helen. »Was weiß ich«, sagte Helen und starrte düster aus dem Fenster, »ich will wissen, wer das schwarze Gift ist, das Luis im Schlepptau hat.« Die Schischkina kehrte zu ihrem Sitz zurück. Sie hatte den Mann, den sie Kurakin nannte, an der Hand gefaßt und zog ihn hinter sich her, als hätte sie ihn erbeutet. Adonis und die Greco folgten. »Luis«, rief Helen, »hierher, hinter uns ist noch ein Sitz frei.« »Helen, nicht«, murmelte Anna und schloß gepeint die Augen.

Als sie sie aufschlug, starrte sie in ein schräges, gelbes, von dichten schwarzen Wimpern umrahmtes Augenpaar. Oleg Ivanowitsch Kurakin betrachtete Anna mit Muße. Seine Blicke tasteten ihr Gesicht ab, sie fühlten sich an wie Hände. Er hat Löwenaugen, dachte Anna. Keiner von beiden lächelte. Die Zeit schien aufgehoben. Die Schischkina brach den Zauber, indem sie Kurakin am Rock zog und ihn aufforderte, neben ihr Platz zu nehmen. »Was werden Sie mit diesem Gesicht in Budapest anstellen?« sagte Kurakin leise zu Anna, ehe er sich setzte.

»Nach Budapest?« Annas Mutter hatte das u in Buda extrem gedehnt, woraus sich schließen ließ, daß sie die geplante Reise mißbilligte. »Wozu nach Budapest?« Anna hatte geahnt, daß ihr die elterliche Erlaubnis nicht in den Schoß fallen würde und bereitete sich auf einen Stellungskrieg vor. »Mein Gott, Mami ..., um die Stadt anzuschauen.« — »Wie willst du hinkommen?« – »Mit dem Autobus.« – »Und mit wem willst du fahren?« – »Mit Helen.«

Helen. Annas beste Freundin. Tochter amerikanischer Diplomaten, die sich geweigert hatte, Wien zu verlassen, als die Eltern nach Washington rückversetzt wurden. Helens Vater hatte versucht, sie umzustimmen. »Was willst du hier anfangen, auf den Eisernen Vorhang starren und meditieren? Diese Stadt ist und bleibt die Sackgasse Europas, hier bewegt sich nichts, hier läuft immer noch der Dritte Mann.« —»Ich liebe diese Stadt«, hatte Helen beharrt, »ich liebe ihre Bombenlücken und ihre schäbigen Barockpaläste und ihre Melancholie.« Sie war geblieben, hatte Sprachen studiert und vor kurzem ihr Dolmetschdiplom gemacht. Sie war fünf Jahre älter als Anna. Sie hatte ein sicheres Auftreten, weshalb Annas Eltern sie für vernünftig hielten. Wenn es darum ging, die elterliche Erlaubnis für ein nicht alltägliches Vorhaben zu erringen, pflegte Anna Helen vorzuschicken. Zuweilen bockte Helen. »Ich bin nicht dein Feigenblatt, kämpfe deine Kämpfe selbst.« Der Fall Budapest lag freilich anders, Budapest war nicht Annas, sondern Helens Anliegen, denn Helen wollte Luis. Und Luis, der sich bisher nicht zu Helen bekannt hatte, Luis wollte nach Budapest.

Sie hatte ihn während der UNO-Staatenkonferenz über konsularische Beziehungen kennengelernt. Helens erster internationaler Job. Ein hochrangig besetzter Kongreß, der Journalisten aus aller Welt nach Wien zog. Luis war Fotograf, er arbeitete für eine internationale Presseagentur mit Sitz in Paris, Helen war ihm in der Cafeteria des Konferenzzentrums begegnet. »Hat er dich angequatscht?« wollte Anna wissen, als Helen ihr, kurzatmig vor Erregung, von Luis erzählte. »Was denkst du, er ist Spanier, die sind sehr reserviert.« – »Wie seid ihr ins Gespräch gekommen?« – »Ich habe ihn gefragt, woher er kommt.« Kein guter Start, fand Anna. Sie war überzeugt, daß die Initiative zum Flirt vom Mann auszugehen hatte. Arme Helen, wenn es um Männer ging, hatte sie zwei linke Füße, während ihre, Annas, Erfolgsquote auf diesem Gebiet dicht an hundert Prozent lag. Sie rügte Helen nicht, weil sie der Freundin den Schwung nicht nehmen wollte. »Worüber habt ihr gesprochen?« fragte sie statt dessen. »Über Wien«, sagte Helen. »Er mag diese Stadt nicht. Er findet sie arm und tot und die Geschäfte verstaubt und die Frauen unschick.« Wenn jemand sich abfällig über ihre Stadt äußerte, sah Anna rot. »Trottel«, schnaubte sie, »was hat er erwartet, daß der Kongreß nach zwei Weltkriegen tanzt wie zu Metternichs Zeiten?«

Die Sache mit Luis stagnierte, noch ehe sie in Schwung gekommen war. Helen hielt Anna auf dem laufenden, aber es gab nicht viel zu erzählen. Luis habe gegrüßt, heute sehr viel herzlicher als gestern. Luis sei in atemberaubenden Rauhlederhosen aufgetaucht, ein aufwühlender Anblick, sämtliche weibliche Kongreßteilnehmer hätten sich die Hälse nach ihm verrenkt. Luis sei auf drei Tage nach Istrien gefahren, ohne ihn sei die Welt grau und leer. Luis sei wieder da, er habe sie Helen darling genannt und sie gebeten, ihn auf die Teilnehmerliste für eine Reise nach Budapest zu setzen, welche für Konferenzdelegierte organisiert werde. »Du hast ihn doch abblitzen lassen«, hoffte Anna. Helen schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil, ich habe ihn auf die Liste geschummelt und dich und mich dazu.« Anna schaute sie entgeistert an. »Du hast einen Vogel«, sagte sie. »Das erlauben meine Eltern nie. Ich könnt’ es mir auch gar nicht leisten.« – »Deine Eltern übernehme ich, und die Reise kostet dich keinen Groschen, weil du mein Gast bist.« Anna zögerte, Helen war entschlossen. »Bist du meine Freundin, ja oder nein? Ich brauche dich.« Sie bohrte und schmeichelte. »Luis arbeitet an einer Porträtserie Menschen und Städte hinter dem Eisernen Vorhang, für ihn ist die Reise nach Budapest wichtig, und für mich ist sie die einzige Chance, den Mann zu kriegen. Allein bin ich der Sache nicht gewachsen, ich brauche Rückendeckung, ich brauche deine Tips. Anna-Mäuschen, bitte, sei mein Feigenblatt.«

Nach Budapest mit langem u also. Helen bearbeitete Annas Eltern mit allen Mitteln: die postrevolutionäre ungarische Hauptstadt sei ein Muß für jeden politisch interessierten Menschen, die Reisegesellschaft bestehe aus Diplomaten und Journalisten, Kontakte mit Menschen internationalen Zuschnitts seien für Anna wichtig, die Reise dauere bloß zwei Tage, nächtigen würde man im Hotel Gellert, Anna sei ihr Gast ... Annas Vater protestierte. »Reizend von Ihnen, meine Liebe, aber das kommt nicht in Frage, Annas Reisekosten sind selbstverständlich meine Sache ... Himmel, ja, das Gellert...« Er lächelte versonnen. »Da war ich auch einmal, als junger Mann, das war vor dem Krieg. Ein zauberhaftes Wochenende ...« – »Ach!« machte Annas Mutter. »Gewonnen«, hauchte Anna und begann unverzüglich zu überlegen, was sie auf die Reise anziehen würde.

Einer von Annas Freunden hatte einmal bemerkt, sie bewege sich zwischen den Generationen wie ein Amphibienfahrzeug. »Sie schwimmt mühelos im Fahrwasser der Altvorderen und fährt bereitwillig im Geleitzug ihrer eigenen Zeit.« Anna führte ein kampfloses Dasein. Sie war ein Einzelkind. Ihr Vater, ein aus alter Wiener Familie stammender, etwas versponnener Intellektueller war praktischer Arzt geworden, nachdem er seinen Jugendtraum, in die medizinische Forschung zu gehen, im Zweiten Weltkrieg begraben hatte. Als Student war er eingezogen und einer Sanitätskompanie zugeteilt worden, ein milchiger Mittag kurz nach der Invasion in der Normandie krempelte sein Leben um: Hunderte von Verwundeten hatte man bereits eingeliefert, als die Alliierten nach kurzer Gefechtspause einen neuerlichen Angriff flogen und das Feldlazarett unter Beschuß geriet. Panik, Schmerzensschreie, die Fassungslosigkeit in den Augen zu Tode Getroffener, deren armselige vom Krieg bereits zerfetzte Körper sich unter den niedergehenden Geschossen noch einmal aufbäumten. Am selben Abend schrieb der junge Mann aus Wien an seine junge Frau in Wien, daß er, sollte er je aus diesem Krieg heimkehren, praktischer Arzt werden wolle. »Ich möchte«, schrieb er, »ohne Umwege helfen. Ich möchte sehen können, wie Schmerzen linder werden. Ich möchte dieses schreckliche Gefühl der Ohnmacht, das mich seit heute mittag quält, vergessen können.« – »Und«, schrieb er, »ich möchte keine Kinder mehr in eine Welt setzen, in der immer wieder geschehen wird, was ich heute mitansehen mußte. Wir haben ja unsere Anna. Es wird schwer genug werden, sie vor allem Bösen zu behüten.«

Annas Mutter hatte später immer wieder versucht, ihren Mann zu einem zweiten Kind zu überreden. »Schon um Annas willen«, bat sie, aber der Doktor blieb dabei: Anna würde sein einziger Beitrag zur Bevölkerungsexplosion bleiben. Irgendwann hörte Annas Mutter zu bitten auf, was nichts mit Resignation zu tun hatte, denn Resignation entsprach nicht ihrem Naturell. Sie gab einfach nach, weil ihre friedfertigen Argumente nicht zogen, und sie Auseinandersetzungen nicht mochte. Ihr Mann pflegte vom ausgeprägten Gleichgewichtssinn seiner Frau zu sprechen, womit er ihr Streben nach Harmonie meinte. Dies und ihr Sinn für das Praktische hatten ihn bewogen, sie zu heiraten. Nichts überstürzen, hatte ihn seine Mutter damals beschworen, er kenne das Mädchen doch kaum, er sei noch nicht reif für die Ehe, sei noch Student, es sei Krieg und die Zukunft ungewiß. Sie hatte den Familienrat einberufen, dem der junge Mann sich bald entzog, indem er auf den Tisch schlug und verkündete, auch wenn sie alle kopfstünden, er würde sein Mädel heiraten – und damit Schluß. Ehe er die Tür hinter sich zuschlug, hörte er einen greisen Onkel kichern: »Es prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch was Besseres findet.« Der Satz war in seinem Bewußtsein haften geblieben. Erst wurmte er ihn, später zitierte er ihn gerne. Er prüfe laufend, pflegte er zu scherzen, aber noch habe er nichts Besseres gefunden. Er meinte, was er sagte. Die Tatsache, daß seine Frau ihm auf geistigen Höhenflügen nicht zu folgen vermochte, störte weder ihn noch sie. Er war stolz auf ihre Fähigkeiten als Hausfrau, und sie liebte an ihm, selbst was sie nicht verstand.

Anna hatte einiges von der geistigen Geschmeidigkeit des Vaters und viel von der mütterlichen Bodenständigkeit geerbt. Sie erfaßte mühelos, aber ihr intellektueller Ehrgeiz hielt sich in Grenzen. Sie studierte, weil man erwartete, daß sie studiere. Sie hatte sich für Rechtswissenschaft entschieden und behauptete, in den Diplomatischen Dienst eintreten zu wollen. Ihr Vater fand die Idee ausgezeichnet. Ihre Mutter war davon überzeugt, daß Anna, falls man sie unter Hypnose nach ihrem eigentlichen Lebensziel fragte, antworten würde: ein toller Mann, ein aufregendes Leben und drei gesunde Kinder. Und Annas Tante Nora hatte einmal gespöttelt, sie halte ihre Nichte für einen fleischgewordenen Kitschroman. »Deine Zukunftsvorstellungen sind wie die Lebensbeschreibung der Heldin aus einem Groschenheft. Österreichische Sonderbotschafterin mit zahllosen geheimnisumwitterten Liebhabern besteht haarsträubende Abenteuer im afrikanischen Busch, wird von räuberischen Beduinen gefangengehalten, befreit sich selbst und heiratet indischen Nabob, der aussieht wie Gregory Peck.« – »Na und«, hatte Anna zurückgebissen, »in meinem Alter hat man alle Optionen offen.« Nora hatte gegrinst und weitergestichelt. »Selbst wenn es so wäre, für eine müßtest du dich schließlich entscheiden, wozu ein gewisses Maß an Selbsterkenntnis angebracht wäre. Hinterfragen, meine Beste, sich selbst hinterfragen heißt das Gebot der Stunde.«

Im Augenblick hinterfragte Anna weder sich noch sonst etwas. Sie lehnte neben Helen im Bus, betrachtete den glattrasierten Schädel des Mannes, der schräg vor ihr saß und nahm wahr: Kurakins schmale, leicht gebogene Nase, die im Profil, fand Anna, römisch wirkte. Seine extrem hohen Backenknochen, die die Augen zwangen, schräg nach oben zu verlaufen. Die dunklen, geschwungenen Brauen, die sich, wenn er sprach, wie Flügel bewegten. Das dunkel getönte Kinn. Ob er schwarzhaarig war? Sie hätte gerne seinen Mund gesehen, aber en face bekam sie ihn nicht zu Gesicht. Sie beugte sich ein wenig vor. »Starr nicht so«, zischelte Helen. Im selben Augenblick drehte Kurakin sich nach ihr um, seine gelben Augen trafen Annas graue, er lächelte ein wenig, ehe er sich wieder der Schischkina zuwandte. Zufrieden seufzend lehnte Anna sich zurück. »Du bist unmöglich«, schimpfte Helen leise, »er hat gemerkt, daß du ihn fixiert hast, was hast du dir dabei gedacht?« – »Nichts. Ich wollte seinen Mund sehen. Er ist schön«, sagte Anna.

Die Tür des Autobusses fiel zu, der Legationsrat bat nasal um Gehör. Er habe die Ehre, sie im Namen seines Ministers begrüßen zu dürfen, er erlaube sich, eine angenehme Reise zu wünschen. Der Bus setzte sich ruckelnd in Bewegung. Adonis und die Greco saßen hinter den Mädchen, sie unterhielten sich angeregt, die Frau lachte zuweilen. »An alles habe ich gedacht, aber daß er eine mitbringen würde ... was soll ich jetzt tun?« flüsterte Helen. Anna betrachtete das unglückliche Gesicht der Freundin. »Gar nichts«, flüsterte sie zurück. »Locker bleiben, warten wie die Dinge sich entwickeln. Nicht agieren, sondern reagieren.« Helen starrte finster vor sich hin, Anna legte sich ins Zeug. »Überleg einmal«, fuhr sie fort. »Wie ist die Lage: Luis steht auf die Schwarze, die Schwarze steht auf den Kahlen, du stehst auf Luis. Das bedeutet; Spannungen sind programmiert. Gut so. Denn ohne Spannung läuft nichts.« Sie überlegte. »Es kann natürlich auch danebengehen.« Helen stieß einen Jammerlaut aus, Anna machte kehrt. »Aber es wird nicht. Du hast einen Tag, einen Abend, eine Nacht und einen Tag lang Zeit. Das langt, um ein Weltreich zu stürzen, da wird es dir doch gelingen, einen einzigen Spanier zu besiegen.«

Das flache Land östlich von Wien trug herbes Braun und Frühlingsgrün, der Wind jagte die Wolken Richtung ungarische Tiefebene. Der Bus war eine gute Stunde unterwegs und näherte sich Bruck an der Leitha, als Luis es endlich der Mühe wert fand, sich zwischen den Sitzen vorzubeugen, Helen darling zu säuseln und mit den Mädchen ein Gespräch zu beginnen. »Luis Mendez, meine Freundin Anna Clarin«, machte Helen bekannt. Himmlische Mutter, sie strahlt wie ein Firmling, dachte Anna. Um Helens deutliches Entzücken zu entschärfen, nickte sie Adonis kühl und wortlos zu. Er trug es mit Fassung. »Das ist Linde Weber aus Düsseldorf«, sagte er und legte einen Arm um die Greco. Er sprach Englisch mit einem harten Akzent. »Sie ist Journalistin, kam zur Konferenz nach Wien, hat Kurakin mitgebracht. Als die beiden hörten, daß es eine Möglichkeit gebe, nach Budapest zu fahren, waren sie nicht zu halten.« Er lachte, seine Zähne blitzten, – allzu weiß, wie falsche – fand Anna, sie war entschlossen, Luis nicht zu mögen. Schadenfroh sah sie zu, wie Linde sich mit einer Drehung ihrer Schulter aus Luis’ Griff befreite. Die Journalistin schüttelte ihr Haar zurück, langte mit einem Arm über die Köpfe der Mädchen und tippte Kurakin auf die Schulter. »Oljuscha«, sagte sie, »wie lange fahren wir noch bis zur Grenze?«

Die Landstraße, die in diesen toten Winkel Europas führte, war in schlechtem Zustand, es dauerte eine weitere Stunde, ehe der klapprige Bus den österreichisch-ungarischen Grenzposten Nickelsdorf-Hegyeshalom erreichte. Kurz davor trat der Legationsrat in Aktion. Er stand auf, legte die Hände trichterförmig an den Mund und posaunte erst auf englisch, dann auf französisch, man möge die Güte haben, die Reisepässe bereitzuhalten, es sei anzunehmen, daß die Grenzkontrolle reibungslos vor sich gehe, genau wisse man das hier, am Eisernen Vorhang, freilich nie! Anna begann auf ihrem Sitz hin und her zu rutschen und an ihren Daumen zu nagen. Grenzübertritte verursachten ihr Unbehagen. Seit ihrer Kindheit war das so. Seit jenem Tag, da sie mit ihrer Mutter von dem Ort am See, an dem sie den Sommer zugebracht hatten, nach Wien unterwegs gewesen war, um eingeschult zu werden. Der Zug hatte an der Ennsbrücke gehalten, auf offener Strecke. »Zonengrenze«, hatte jemand gesagt ...

Lange stand er still, der Zug. Die Menschen im Waggon schwiegen. Durch die offenen Fenster hörte man Bienen summen und den Sommerwind im Gras rascheln und den Fluß rauschen. »Warum sagt keiner was?« fragte Anna. »Schsch«, machte die Mutter. Man hörte schwere Schritte und laute, fremdländische Stimmen, Zugstüren wurden aufgerissen. Die Menschen im Waggon saßen starr da wie Puppen, die Mutter und die anderen hielten kleine Karten in ihren Händen, hielten sie den eintretenden Männern entgegen, den Männern mit den schweren Schritten und den fremden Stimmen. Die Männer trugen Uniformen. Sie lachten nicht und grüßten nicht. Lange sahen sie die Karte der Mutter an, sahen immer wieder zwischen der Karte und der Mutter und Anna hin und her, ehe sie die Karte zurückreichten. Dann wandten sie sich dem Mann und der Frau zu, die schräg gegenüber saßen. Wieder starrten sie lange die Karten an. Sie redeten in ihrer fremden Sprache. Einer der Soldaten tippte dem Mann auf die Schulter. »Du mitkommen«, sagte er. Der Mann erhob sich wortlos. »Bitte, bitte, warum denn ... bitte ...«, stammelte die Frau. Sie hatte nach der Hand ihres Mannes gegriffen und wollte aufstehen. Der Soldat gab ihr einen Stoß, sie fiel auf den Sitz zurück, ihre Hand rutschte aus der ihres Mannes. »Du bleiben«, sagte der Soldat und führte den Mann fort. Im Waggon blieb es still, niemand sagte ein Wort. Nach einer Weile fuhr der Zug an. Der Mann war nicht wiedergekommen. Seine Frau saß da und weinte. »Wann kommt der Mann wieder?« fragte Anna laut. Da nahm die Frau die Hände vom Gesicht. »Er kommt nicht wieder«, sagte sie. Dann begann sie zu schreien. »Nie wieder kommt er, sie kommen alle nicht wieder! Verschleppen werden s’ ihn, nach Rußland, in einem Lager wird er verrecken und ich werd’ nicht einmal wissen, ob er lebt oder tot ist!« Anna war starr vor Schreck. Sie drückte sich dicht an die Mutter und sprach nicht mehr bis Wien. Nachts träumte sie von Zügen an Grenzen und finsteren Soldaten und Menschen, die auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Der Traum kehrte wieder, lange noch, Anna fürchtete ihn, weil sie oft schreiend aus ihm erwachte und nicht mehr einschlafen konnte.

Helen sah Anna von der Seite an. »Was ist, du bist so still?« »Ich mag Grenzen nicht«, sagte Anna. Helen schüttelte den Kopf. »Sei kein Schaf. Du hast ein gültiges Visum, es kann dir nichts passieren, wovor hast du Angst?« – »Ich habe keine Angst, nur ein ungutes Gefühl«, sagte Anna patzig und wurde böse, als Helen ein wenig spöttisch lachte. »Du bist Amerikanerin, du wirst das nie verstehen. Außer dem Fahrer und dem Knaben vom Außenamt und mir kann keiner im Bus das verstehen. Amerikaner, Engländer, Franzosen, Schweizer ... Was wißt denn ihr, ihr wart doch alle nicht besetzt! Keiner von euch weiß, wie es ist, wenn die Russen kommen, wenn sie stehlen und vergewaltigen und plündern und Menschen in Teppiche rollen und sie verschleppen.« Sie war laut geworden, die Schischkina und Kurakin drehten sich nach ihr um. Anna wurde rot und murmelte ein gequältes »Entschuldigung«. »Keine Ursache«, sagte die Schischkina. »Ich bin zwar in Rußland geboren, aber mit den Russen, auf die Sie sich beziehen, habe ich nichts gemein.« Sie klang nicht unfreundlich, nur so, als wollte sie Anna fortan aus ihrem Bewußtsein streichen.

Kurakin lächelte. Er drehte seinen mächtigen Körper, um Anna im Blickfeld zu behalten, während er sprach. Sein Deutsch war fließend mit einem fremden Akzent. Er dehnte die Vokale und rollte das r auf eine Art, die es nicht schärfte, sondern dämpfte. Seine Sprache war gewählt und altmodisch, als hätte er sie um die Jahrhundertwende erlernt. »Ich bin Russe«, sagte er. Seine gelben Augen fixierten sie. »Was kann ich tun, Mademoiselle, um Ihnen die Angst vor den Russen zu nehmen?« Anna schwieg, er lächelte noch immer. »Darf ich mich Ihnen vorstellen? « Er hob sich ein wenig von seinem Sitz und neigte den Kopf. »Oleg Ivanowitsch Kurakin, Ihr sehr ergebener Diener. Und wer, wenn ich fragen darf, sind Sie Mademoiselle?« Annas Fähigkeit, sich gradezu lustvoll einer Situation zu ergeben, war Teil ihres Charmes. Sie begann zu lachen, ihr Lachen reichte bis in die Augenwinkel. »Ich bin Anna Clarin, niemandes Dienerin«, sagte sie und deutete gleichfalls eine kleine Verbeugung an. Kurakin hörte auf zu lächeln. Er biß sich auf die Lippen und betrachtete das Gesicht des Mädchens, als müsse er darüber disponieren und wisse nicht wie. »Sie müssen weder Grenzen noch Russen noch sonst etwas fürchten, wenn ich in Ihrer Nähe bin«, sagte er plötzlich. »Ich werde Sie behüten, Anna Clarin.« Die Schischkina riß den Kopf herum, sah Kurakin an und gleich wieder weg. Helen kicherte verlegen. Nur Anna blieb gelassen. »Danke«, sagte sie, als wäre Kurakins Angebot die selbstverständlichste Sache von der Welt.

Der Bus passierte die Stadt Györ. Ein trostloser Anblick. Leere Schaufenster, kaum Fahrzeuge, kein Leben auf den Straßen. Ein paar ausgemergelte Gestalten, die sich mit hochgezogenen Schultern in ihre schäbigen Mäntel hüllten, als wären sie dazu verurteilt, ein Leben lang zu frieren. »Totentanz«, sagte eine Stimme hinter Anna. Es war Linde aus Düsseldorf. »Wenn ich an die Euphorie des Oktober 56 denke ... Was haben die, was haben wir aus diesem Land gemacht.« Anna wandte sich um, sah die Frau trübe aus dem Fenster starren. »Wieso wir, was meinen Sie mit wir?« fragte sie. »Du fraternisierst mit dem Feind«, murmelte Helen, Anna tat, als hätte sie es nicht gehört, sie setzte sich schräg, um Lindes Antwort besser aufnehmen zu können. »Wir, das ist der Westen, die freie Welt. Die Ungarn haben auf uns gehofft, und wir haben sie im Stich gelassen. Sie hielten es nicht für möglich, daß die UNO die Unterdrückung ihres Freiheitskampfes durch die Sowjets zulassen würde. Sie riefen verzweifelt um Hilfe und konnten nicht glauben, daß den europäischen Mächten die Suezkrise und den Amerikanern ihr Wahlkampf wichtiger sein würden, als die toten Jungen in der Kilianskaserne.« Linde hatte ohne Pathos gesprochen. Sie sah plötzlich nicht mehr aus wie die Greco, sie hatte ihr eigenes Gesicht. »Sie waren während der Revolution in Ungarn?« fragte Anna, Linde nickte. Erwartungsvoll starrte Anna sie an, wartete wortlos, daß Linde weitersprechen würde, ihr stummes Warten hatte etwas Zwingendes, dem Linde sich ergab. »Ich war eine blutjunge Journalistin, eben einundzwanzig geworden, wenn unser außenpolitischer Berichterstatter nicht wegen des Wahlkampfs in den USA gewesen wäre, hätte mich die Redaktion niemals nach Budapest geschickt.« Sie dachte eine Weile nach. »Als ich ankam, sah es ganz so aus, als sei die Revolution geglückt. Keine Sowjets, die schienen sich verdrückt zu haben. Überall Spuren schwerer Kämpfe, es roch nach Rauch, in den Straßen lagen Leichen. Aber die Menschen jubelten. « Sie schwieg, sah auf ihre Hände, als sie weitersprach, war es mehr zu sich selbst als zu Anna. »Sie befreiten ihren Kardinal Mindszenty, den die Kommunisten jahrelang gefangengehalten hatten. Blutjunge Leute waren das, die sind einfach zum Gefängnis vorgestoßen, haben die Wachen entwaffnet und Mindszenty in einem Panzerauto in die Stadt gefahren. >Wir bringen den Kardinal!‹ schrien sie, und die Passanten winkten mit Taschentüchern, und vor dem Kardinalspalais in Buda wartete eine Menschenmenge. Er hat die Leute gesegnet ... Später gab er eine Pressekonferenz, ein Kollege von Reuter hat mich mit reingeschmuggelt ... Ein großartiger Mann, dieser Mindszenty, unvergeßlich. Er hat deutsch gesprochen, ich konnte jedes seiner Worte verstehen, ich habe geflennt.« Mit beiden Händen strich Linde über ihre Stirn und pflügte durch ihr schwarzes Haar. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme kühl. »Am selben Tag fuhr ich nach Hause, mit einer Story, die ich für pulitzerpreisverdächtig hielt. Es war der 31. Oktober 1956. Zwei Wochen später war es mit Ungarns Freiheit aus und vorbei.«

Anna seufzte auf wie ein Kind am Ende einer spannenden Erzählung. Luis klagte, daß er von Lindes Geschichte nichts verstandenen habe, er bestehe auf einer Übersetzung ins Englische. »Er raunzt«, sagte Anna. »Du kannst ihn nicht leiden«, stellte Helen fest, Anna wich aus. »Ich kenne ihn ja gar nicht. In Budapest wird sich schon eine Gelegenheit ergeben, mit ihm zu reden. Vielleicht können wir mit ihm und seinem Freund, der Glatze, zu Abend essen.«

Kurakin hatte sich nicht mehr nach Anna umgedreht. Aus seiner Haltung hatte Anna geschlossen, daß er Lindes Erzählung gefolgt war, nun schien er zu schlafen. Auch die Schischkina döste vor sich hin. Ihr Kopf schwankte haltlos, wenn der Bus in eines der zahllosen von Sowjetpanzern gerissenen und noch nicht wieder zugefüllten Löcher sackte. Die Straßen waren in elendem Zustand. Die für die Fahrt vorgesehenen vier Stunden waren weit überschritten, als der Bus die Außenbezirke von Budapest erreichte. Der erste Eindruck war niederschmetternd. Kaum ein Haus, an dem keine Einschußlöcher zu sehen waren, manche schienen von Geschossen gradezu durchsiebt. Dazwischen Brandruinen, denen die Jahre die Dramatik des Untergangs, nicht aber ihre Trostlosigkeit genommen hatten, sie trugen nicht mehr Ruß und Asche, sondern nur noch tristes Grau. »Ich mag sie nicht, die zerbrochenen Häuser«, hatte Anna als kleines Kind gejammert, wenn sie an der Hand der Mutter durch das zerbombte Wien gegangen war. Wiens Kriegswunden waren vernarbt, Anna hatte die schwarzen Bilder von Luftschutzkellern und nahenden Tieffliegern und Bombentrichtern in ihr Unterbewußtsein verräumt. Hier, in Budapest, drohten sie wiederaufzutauchen.

Als der Bus die Donau erreichte, brach die Sonne durch, der Fluß glitzerte und war von blaugrüner, wilder Heiterkeit und strafte die traurige Stadt Lügen. »Dort drüben ist das Gellert«, sagte Helen und deutete auf ein Gebäude in waghalsigem Jugendstil. »Jetzt wird es sich zeigen.« – »Was wird sich zeigen?« fragte Anna. Helen zog den Kopf ein. »Pst, schrei nicht so.« Mit Verschwörermiene setzte sie Anna auseinander, daß bei der Ankunft im Hotel die Zimmer verteilt würden und es sich offenbaren würde, wer mit wem ... Anna schüttelte den Kopf. »Was glaubst du denn, daß Luis und Linde Hand in Hand in einem Doppelzimmer verschwinden? Du spinnst.«

Die Hotelhalle war von verkommener Pracht. Die Reisegesellschaft aus dem Westen stand in ihrer Mitte wie ein mißglücktes Transplantat. Der Legationsrat machte sich wichtig. Er bedauere unendlich, das geplante Mittagessen entfalle wegen Verspätung, man sei in einem Lande, in dem Abweichungen vom Plan nicht in Betracht gezogen würden. »Hinterm Eisernen Vorhang ist Flexibilität nicht systemimmanent.« Der Legationsrat gehörte zu jener Sorte Menschen, die auch dann lachen, wenn es nichts zu lachen gibt, er lachte auch jetzt. Wenn die Damen und Herren die Güte haben wollten, ihre Zimmer zu beziehen. In einer halben Stunde werde man zur Stadtrundfahrt aufbrechen. »Und abends, Sie wissen ja, Dinner auf der Margareteninsel. Das wird ein echter Mullatschag, joijoi Mamma!« – »Er lacht nicht, er meckert«, sagte Anna zu Helen, die an der Rezeption klebte, um nicht zu versäumen, wer mit wem. »Frau Schischkina, ein Einzelzimmer. Doppel für Fräulein Lindsay und Fräulein Clarin. Kurakin, Mendez, ein Doppelzimmer. Ein Einzel für Frau Weber.« Helen strahlte, Anna wiegte den Kopf und murmelte: »Kein Grund zur Freude, sie hat eine sturmfreie Bude.«

Die Mädchen betraten den Aufzug, der Fahrstuhlführer wartete auf einen weiteren Passagier, es war Kurakin, der zustieg. »Dritter Stock?« Dritter Stock. Der Aufzug war alt, langsam ächzte er nach oben. Niemand sprach. Kurakin stand Anna gegenüber, er war so groß, daß ihre Augen sich auf einer Höhe mit seiner Halsgrube befanden. Er nahm viel Platz ein, er war so dicht an Anna, daß sie die Wärme seines Körpers spürte. Sie wurde plötzlich rot, fürchtete, daß er es bemerkt haben könnte, hob vorsichtig die Augen und sah direkt in die seinen. Irgend etwas in diesen Augen brachte es zuwege, daß Anna die Luft ausging. Als wäre sie lang und schnell gelaufen. In ihren Ohren sauste es. Stumm sah Kurakin sie an. Er lächelte nicht. Helen trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Dritter Stock«, sagte der Fahrstuhlführer und hielt die Türe auf.

Sie gingen den Gang entlang, es schien selbstverständlich, daß ihre Zimmer einander gegenüberlagen. Kurakin lehnte an der Tür des seinen, er sah zu, wie Helen mit dem Schlüssel klapperte, aufsperrte, und das Zimmer betrat. Sie wandte sich an Kurakin, sagte ein gepreßtes »Bis später«, winkte Anna und sagte: »Komm schon.« Ehe Anna einen Schritt tun konnte, stand Kurakin vor ihr. Er nahm ihre beiden Hände in die seinen, drehte die Innenflächen nach oben und strich mit seinen Daumen sachte über ihre Handballen. »Anna Clarin«, sagte er leise, sagte es so, als wäre Annas Name ein geheimnisvoller Code zu etwas, das nur ihm zugänglich war. Dann ließ er Annas Hände fallen, drehte sich um und verschwand in seinem Zimmer.

Kurakin

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