Читать книгу Kurakin - Hanna Molden - Страница 8

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3.

Anna zählte nicht zu den Sprichwörtlichen, die morgens mit beiden Beinen aus dem Bett springen. Nach dem Erwachen pflegte sie vorsichtig ein Auge zu öffnen, die Helligkeit zu prüfen, die Tageszeit einzuschätzen und das Auge wieder zu schließen. Bewegungslos lag sie da, ließ den Schlaf aus ihren Gliedern weichen und die Grenzen zwischen Traumwelt und Bewußtsein fließen. Sobald das Bewußtsein die Oberhand hatte, begann sie zu gähnen, sich zu dehnen und den Tag anzunehmen. So lief es normalerweise. Aber es gab auch Tage, an denen sie mit einem Gefühl erwachte, das sie mit »Peng« umschrieb. »Peng« hieß Erwachen auf einen Schlag. Es fand zuweilen vor ersehnten Ereignissen, meistens jedoch vor Prüfungen oder anderen Unannehmlichkeiten statt.

Anna erwachte mit »Peng«. Sie riß die Augen auf, sah, daß der Himmel blau war, und dachte an Kurakin. Der Mann stand mit einer Selbstverständlichkeit vor ihrem inneren Auge, als hätte Anna an nichts als ihn zu denken. Sie wickelte ihre Arme um sich, wiegte sich sachte hin und her und stellte sich vor, daß nicht sie selbst, sondern Kurakin es wäre, der sie wiegte. Ein ungemein angenehmes Gefühl, das sich beim Klang von Helens entschlossener Stimme verflüchtigte. »Ich weiß genau, daß du nicht mehr schläfst. Ich finde, du bist mir ein paar Erklärungen schuldig... Gleich ein paar...« « Anna seufzte, schlüpfte mit den Schultern aus dem Kokon ihrer Decken, fröstelte, zog die Decken wieder über den Kopf. »Jajaja«, murmelte sie dumpf im Schutz der warmen Höhle. Helen war an ihr Bett getreten und hatte die Decken gelüftet. »Scheißregime, das nicht heizt, so eine Bärenkälte, laß mich rein«, schimpfte sie und schlüpfte zu Anna. Die Hände überm Bauch gefaltet, die Augen auf den Plafond gerichtet, lag sie auf dem Rücken und sagte mit strenger Miene: »Also, ich höre.« Anna kicherte. »Ich bin noch nicht richtig wach, Mutter Oberin, erzähl du zuerst.« Der Aufforderung konnte Helen nicht widerstehen. Sie wälzte sich auf die Seite, stützte einen Arm auf und seufzte, sobald sie sich Auge in Auge mit Anna befand: »Ein Wahnsinnsabend war das. Ich zwischen Walter und Luis, du mit diesem Russen ... « – »Wer ist Walter?« wollte Anna wissen. »Der Legationsrat. Wir sind seit Mitternacht per du.« – »Ich krieg’ die Motten!« quietschte Anna. »Erzähl!«

Nach Annas und Kurakins Abgang habe zunächst Stille geherrscht, dann hätten alle gleichzeitig zu sprechen begonnen. Wer Anna sei, daß sie wie ein frühreifes Schulmädchen aussehe, wie es komme, daß sie an dieser Fahrt teilnehme, ob sie Kurakin schon länger kenne. Nein, habe Ewgenia Konstantinowna erklärt, wenn es so wäre, würde sie das wissen, sie kenne Oleg Ivanowitsch seit fast dreißig Jahren, sie kenne seine Frau, seinen Sohn, sein Haus, seine Lebensgewohnheiten ... »Ach, er hat einen Sohn?« unterbrach Anna. Helen rollte die Augen. »Was hast du gedacht, daß er noch Jungfrau ist? Ein Wunder, daß er nur einen hat, er könnte zehn Söhne haben. Der Mann ist, was man reif nennt, er hat sein Leben gelebt.« – »Nein, hat er nicht«, erwiderte Anna heftig. »Schön, sagen wir, er ist dabei, es zu leben, und zwar ohne Rücksicht auf sein trautes Heim. Bis vor kurzem hatte er ein Verhältnis mit Linde. Das weiß ich von Luis. Sie ist nur nach Budapest mitgekommen, weil sie gehofft hat, ihn hier wieder einzufangen. Darum war sie auch so sauer, als du mit Oleg abgezwitschert bist. >Die kleine Clarin holt sich, was sie will<, hat sie gesagt.«

Plötzlich hatte Anna genug. Sie wollte nichts mehr hören von Kurakin und Linde und Söhnen und Affären. »Und wie war’s bei dir?« fragte sie, um Helen auf eine andere Fährte zu lenken. Helen blies die Backen auf und stieß die Luft langsam aus. »Verwirrend. Erst ist monatelang Sauregurkenzeit, dann sind plötzlich zwei Männer da, die beiden vertreiben einander, und ich bleibe allein auf der Wallstatt zurück.« Der Legationsrat sei nicht mehr von ihrer Seite gewichen, was Luis offenbar gereizt hatte, sich gleichfalls ins Gefecht zu werfen. Helen kicherte. »Nachdem du fort warst, hat der Legationsrat begonnen, meinen Rücken von links zu begrapschen, Luis tat ein gleiches von rechts, in der Mitte haben sich ihre Hände getroffen. Luis ist ein schlechter Verlierer, er hat bastard gezischt und seine Hand weggerissen und ist gegangen. Und jetzt kommt das dicke Ende: Wenig später brechen auch die anderen auf. Der Legationsrat fährt mit mir im Lift nach oben. Er begleitet mich zu meiner Zimmertür. Er sagt, es sei Mitternacht, da müsse man schöne Frauen küssen. Und schreitet zur Tat. Und gar nicht einmal schlecht. Und was glaubst du, passiert?« – »Keine Ahnung«, sagte Anna gespannt. »Die Tür gegenüber wird aufgerissen, du weißt, das Zimmer von Luis und Kurakin. Luis schaut heraus, grinst gemein, sagt terribly sorry und schmeißt die Tür wieder zu. Walter hat augenblicklich aufgehört, irgend etwas von >Diplomat< und >schiefer Situation< gemurmelt und ist wie ein Wiesel verschwunden. Schade, er hat gut geküßt.« Anna lachte Tränen, Helen lachte mit. »Und wie küßt der Russe?« fragte sie schließlich. Nachdenklich rubbelte Anna ihre Nasenspitze. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. Helen war fassungslos. »Er hat dich nicht geküßt? Ja, was war denn dann?« – »Eine gute Frage«, sagte Anna.

Während des Frühstücks kam Helen noch einmal auf Annas und Kurakins Abgang am vergangenen Abend zu sprechen. »Man beginnt über dich zu tratschen«, warnte sie. Anna tat, als sei ihr das egal. »Wer schon, Linde und die alte Schreckschraube, die Schischkina. Sollen sie doch. Wahrscheinlich tratschen sie auch über dich.« Helen wiegte den Kopf. »Möglich, aber anders. Du bist einundzwanzig, ich bin sechsundzwanzig. Luis und Walter sind nicht fünfzig, sondern dreißig und vierzig. Und sie sind beide nicht verheiratet, sondern ledig.« Sie kratzte das letzte Restchen Butter vom Teller und versuchte es möglichst flächendeckend über ihr Brot zu verteilen. Anna sah ihr schweigend zu. »Übrigens ist die Schischkina keine Schreckschraube, sondern eine tolle Frau«, fuhr Helen fort. »Und wenn du glaubst, daß sie auf dich eifersüchtig ist, bist du im Irrtum. Die liebt in Kurakin nicht den Mann, sondern den Menschen und will ihn bloß vor dir beschützen. « – »So etwas Absurdes«, sagte Anna. Aber irgendwie gefiel ihr die Vorstellung. Sie begann zu lachen. »Worüber lachst du?« fragte Helen.

Anna gab keine Antwort. Wenn sie sich einer Situation nicht gewachsen fühlte, tat sie, als sei ihre Aufmerksamkeit von etwas anderem gefangengenommen. Sie sah sich im Speisesaal um. Jugendstil und Warschauer Pakt erschienen ihr ein Widerspruch in sich, die Gegenwart führte die Leichtigkeit von gestern ad absurdum. Am Nebentisch saßen zwei graphitgraue Männer und eine schrille Frau. Die Männer trugen ihre Anzüge, als wären es Uniformen. Sie sprachen russisch. Anna empfand ein vages Unbehagen. Unwillkürlich tat sie, was sie bisher vermieden hatte: Sie sah zu Kurakin hinüber. Er saß mit dem hakennasigen Oxford-Professor von gestern abend ins Gespräch vertieft am anderen Ende des Raumes. Der helle Schopf des Engländers und Kurakins glatter Schädel bewegten sich im Rhythmus von Rede und Gegenrede. Beide Männer rauchten, bläuliche Schwaden legten sich zwischen sie und die anderen und isolierte sie, als säßen sie auf einer Insel. Aber Annas Blick erreichte Kurakin. Mit einer heftigen Handbewegung vertrieb er den Rauch und sah zu ihr herüber. Anna wurde rot und sah rasch weg.

Der Legationsrat schusselte in den Saal und mahnte zur Eile. Der Bus werde in wenigen Minuten zum Plattensee abfahren. Um 17 Uhr werde er noch einmal am Hotel sein, um jene Damen und Herren aufzulesen, die den Tag lieber in Budapest zubringen wollten. Mit einem Lächeln für Helen trat er an den Tisch der Mädchen. Er hätte zwei Plätze ganz vorn im Bus reserviert, die Fahrt werde zwar eine Hetzerei werden, aber sie sei lohnend, ob er jetzt bitten dürfe ... Die Mädchen folgten ihm in die Halle. Plötzlich stand Kurakin vor Anna. »Warten Sie hier auf mich, ich hole Sie in einer Stunde ab«, sagte er und verließ, ohne ihre Antwort abzuwarten, das Hotel. Fassungslos sah Helen ihm nach. »Frechheit, für wen hält sich der Mann, komm Anna«, schnaubte sie. Anna rührte sich nicht vom Fleck. »Steh nicht da wie hypnotisiert, komm schon«, drängte Helen. Anna schüttelte den Kopf. Helen zerrte an ihrem Arm. »Du kannst doch nicht hier warten bis ...« – »Doch, ich kann«, unterbrach Anna. Es klang so entschlossen, daß Helen aufgab. »Du bist nicht mehr zu retten«, sagte sie und folgte dem Legationsrat.

In der Halle herrschte kaum Betrieb. Anna hatte das Gefühl, daß der Rezeptionist, der Mann am Lift und die wenigen Menschen, die die Halle betraten oder verließen, sie neugierig anstarrten. Sie fühlte sich unsicher. Sie nahm auf einer Wandbank Platz, schlug die Beine übereinander und versuchte gelangweilt dreinzuschauen. Es mißlang. Sie wünschte, sie hätte den Reiseführer nicht Helen angehängt, sondern selbst eingesteckt und könnte jetzt darin blättern. Lesen machte sich immer gut. Lesen oder schreiben. Sie kramte in ihrer Handtasche, suchte nach Papier und Bleistift, die Handtasche fiel zu Boden, der Inhalt rollte über den Teppich. Anna bückte sich, um ihn einzusammeln, sie verwünschte sich und ihren Impuls, Kurakins Aufforderung nachzukommen, sie verwünschte Kurakin, Ungarn und die ganze Welt. Ihr Lippenstift war unter die Bank gerollt, um ihn zu angeln, mußte sie auf die Knie. Sie beugte sich weit vor, und just in dieser würdelosen Position wurde sie von Linde Weber entdeckt. Die spitzen, schwarzen Schuhe der Journalistin schoben sich in Annas Gesichtsfeld, sie wußte, noch ehe sie aufsah, wer vor ihr stand. »Sieh an, Fräulein Clarin in Nöten.« Sie hörte die Deutsche lachen. Rasch stand sie auf, Zorn vertrieb ihre Unsicherheit. »Mit dieser Art von Nöten kann ich leben«, gab sie schnippisch zurück. Linde sah sie neugierig an. »Warum so aggressiv«, sagte sie begütigend. »Ich sah Sie hier verlassen sitzen und wollte Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten.«

Die folgenden zwanzig Minuten waren für Anna von unerträglicher Peinlichkeit. Linde hatte sich auf Annas Bank fallen lassen. Sie sah attraktiv aus und war gelassen. Sie fuhr mit beiden Händen durch ihr langes Haar, sah zu Anna auf und sagte: »Setzen Sie sich endlich.« Anna setzte sich. Folgsam wie ein Schulkind, dachte sie, und ihre Unzufriedenheit mit sich wuchs. Sie kam sich linkisch vor und fragte sich, warum sie nicht den Mut aufbrachte, aufzustehen und zu gehen. Sie wollte mit dieser Frau, die ihre Gegnerin war, kein Gespräch führen ... Weshalb Gegnerin? Gestern noch hatte sie die Greco sympathisch gefunden und gegen Helens Angriffe verteidigt. Was war seit gestern anders geworden? Kurakin. Der verflixte Russe hatte alles auf den Kopf gestellt ... Im Nu transferierte Anna ihre Wut auf Kurakin. Ein Mann, der sie in ein schiefes Licht brachte, mit dem sie nicht umzugehen wußte, der ihr außer Atemlosigkeit und bohrender Neugier keine jener Sensationen verschaffte, die Anna von einem Flirt erwartete. »Wollen Sie die Stadt besichtigen?« hörte sie Linde sagen. Anna nickte. »Sie könnten mit uns kommen, Luis und ich wollen die Sehenswürdigkeiten von Budapest abklappern.« – »Nein danke.« Annas Knappheit grenzte an Unhöflichkeit. Linde zündete sich eine Zigarette an und sah die Jüngere nachdenklich an. »Wenn Sie die Stadt nicht kennen, sollten Sie nicht allein gehen, Sie sprechen die Sprache nicht«, sagte sie freundlich. Anna fand die Art der Frau herablassend und ihren Ton überheblich. »Ich danke für Ihre Fürsorge«, antwortete sie schadenfroh, »aber ich gehe nicht allein, Herr Kurakin wird mich begleiten.« Sie wünschte, sie hätte es nicht gesagt. Sowie sie seinen Namen aussprach, wurde sie paradeisrot, was Linde zur Kenntnis und zum Anlaß nahm, sich in das Thema Kurakin zu verbeißen.

»An Ihrer Stelle, Kindchen, würde ich mich nicht darauf verlassen, daß Oleg auftaucht.« Sie wartete auf Annas Reaktion, als keine kam, fuhr sie fort. »Wie lange kennen Sie ihn? Seit gestern, wenn ich nicht irre. Ich kenne ihn seit Jahren. Ich weiß, wie verrückt er ist. Verrückt, schwierig, unberechenbar. Er überquert Ozeane und robbt durch den Dschungel und wird pünktlich auf die Minute sein, wenn es um seinen Beruf geht, aber im Privatleben ist er unbeständig wie der Märzwind. Ich saß einmal drei Tage lang in London und habe vergeblich auf ihn gewartet. Oleg war nach Kuba abgedampft, weil man ihm ein Interview mit Che Guevara in Aussicht gestellt hatte. Leider vergaß er, mich zu benachrichtigen.« Linde drückte ihre Zigarette aus. Ihre Hände waren schmal und schön, ihre Nägel kurz geschnitten und nicht lackiert, sympathische Hände, hätte Anna gestern noch gefunden, heute fand sie die Frau von Kopf bis Fuß zum Kotzen. »Sie wissen, wie besessen Oleg von seinem Beruf ist? Nein, woher sollten Sie es wissen ... « Linde ließ nicht locker. Oleg sei Sonderkorrespondent der UPI, er könne sich seine Themen aussuchen, er sei mit seinen siebenundvierzig Jahren an der Spitze, top of the pyramid ... »Ach, er ist erst siebenundvierzig, ich dachte, er sei fünfzig«, entfuhr es Anna. Linde sah sie einen Augenblick lang verwundert an, dann lachte sie spöttisch: »Und Sie, Kindchen, wie alt sind Sie?« Es klang, als empfände sie Annas Jugend als Makel.

Als Luis Mendez mit seinen Fototaschen auftauchte, kam Anna sich vor wie eine belagerte Festung mit Befreiung in Sicht. Linde stand auf. »Sie wollen also Ihr Glück probieren und auf Oleg warten?« Ein Hieb, den Anna parierte. »Ich glaube, Ihre und meine Vorstellung von Glück sind verschieden, aber ich werde auf Herrn Kurakin warten, ja.« Linde ging grußlos, Luis winkte freundlich und rief Anna quer durch die Halle zu: »Cinderella, sagen Sie Oleg, er soll die Zeit nicht vergessen, der letzte Bus nach Wien fährt um 17 Uhr!«

Anna fühlte sich gedemütigt. Sie wollte nach Hause. Die Sehnsucht nach ihren Eltern war plötzlich so stark, daß sie fürchtete, es würden ihr die Tränen kommen. Was hatte sie hier zu suchen, weshalb war sie noch hier? Draußen schien die Sonne, jeder der eintrat, brachte einen Schwall Frühlingsluft mit, und sie saß in der dämmrigen Halle, bestellt und nicht abgeholt. Sie ging zur Rezeption und bat um einen Stadtplan. Er hätte nur einen, den könne er nicht aus der Hand geben, sagte der Empfangschef, aber er würde ihr eine Skizze zeichnen, wo, wenn er fragen dürfe, wolle das Fräulein denn hin? Anna überlegte. »Ich war am Burgberg und beim Grabmal des Derwisch. Was würden Sie mir sonst noch empfehlen?« – »Ich würde Ihnen empfehlen, sich Ian Keynes anzuschließen. « Eine Stimme mit englischem Akzent, Anna wandte sich um, der Oxford-Professor stand hinter ihr. »Begleiten Sie mich in die Bäder«, sagte er und schmunzelte, als Anna ihre Stirn in Falten legte. »Das ist kein unsittlicher Antrag, ich meine die öffentlichen Bäder. Wissen Sie, daß es in Budapest hundert und dreiundzwanzig Thermalquellen gibt? Man sagt, die Stadt sei über dem Tor zur Hölle erbaut.« Seine hellen Augen zwinkerten vergnügt. Anna lächelte ihn an, Keynes lächelte zurück. In seinen Augen las sie keine Forderung, sondern jene leise Huldigung, die ihr vertraut war, die sie entgegennehmen konnte wie einen ihr zustehenden Tribut. »Wo liegen Ihre Bäder?« fragte sie, wobei sie den Kopf ein wenig schief legte und Keynes von unten her ansah. Sie wußte um ihre Wirkung, der Brite legte sich ins Zeug. »Das Király-Bad, sehr alt, in der Nähe der Burg. Das Széchenyi-Bad, üppiger Jugendstil. Das Gellert-Bad, hier im Haus, reinster Jugendstil ... lieben Sie Jugenstil? Ich bin davon besessen. Allein dieses Hotel, sehen Sie sich um!« Sein langer Arm beschrieb einen Halbkreis, sein Gesicht nahm einen schwärmerischen Ausdruck an. »Das ist für mich Mitteleuropa, diese Wollust am Dekor.« Er ließ seinen Arm sinken. »Werden Sie mich begleiten?« fragte er. »Ja«, wollte Anna sagen. Der Gedanke, mit Ian Keynes etwas anzusehen, das weder Helen noch Kurakin sehen würden, war erfreulich. Die Vorstellung, mit Ian Keynes den Tag zu verbringen, war zwar nicht aufregend, aber angenehm. »Ja«, wollte Anna sagen, als Kurakin die Halle betrat.

Es war etwas Eigenes um seine Auftritte. Obwohl sie nahezu lautlos vor sich gingen, nahm man sie wahr, als würden sie von Pauken und Trompeten angekündigt. Alle in der Halle Anwesenden wandten die Köpfe nach dem großen Mann mit dem glatten Schädel und dem leichten Gang. Auch Ian Keynes sah ihn kommen. Als Kurakin auf ihn und Anna zutrat, lächelte er gottergeben. »Ich gestehe, Oleg, ich wollte Miss Clarin entführen ...« Kurakin schnitt ihm das Wort ab. »Gott ist auf der Seite der Starken, Ian.« Er faßte Annas Ellbogen und drängte sie zum Ausgang. Höflich bedauernd nickte sie Keynes zu und ging widerstandslos mit Kurakin. Wie seine Beute, dachte sie. Der Gedanke gefiel ihr, er erzeugte einen Anflug von Gänsehaut.

Das Wetter war strahlend und windstill. Im Schatten war es frisch, aber die Sonne wärmte kräftig. Kurakin ließ Annas Ellbogen erst los, nachdem sie die breite Uferstraße überquert hatten. Wieder standen sie an der Donau. »Lassen Sie sich ansehen, ich möchte wissen, wie Sie bei Tageslicht aussehen«, sagte der Mann. Seine Augen zeichneten die Konturen ihres Gesichts nach und nahmen einen vergnügten Ausdruck an, als Anna das Kinn hob, ihn ihrerseits musterte und sagte: »Ansehen auf Revanche.« Sie begannen gleichzeitig zu lachen. Die Spannung, die sich einzustellen pflegte, sobald sie einander in die Nähe kamen, wich. »Wissen Sie, was wir jetzt tun werden? Wir gehen zu Gerbeaud. Das berühmteste Kaffee von Budapest, meine Großmutter hat dort bereits Kuchen gegessen. Ich möchte Sie Kuchen essen und heiße Schokolade trinken sehen, Anna Clarin.« Sie überquerten die Elisabethbrücke. Die Donau war tatsächlich blau und wirkte übermütig. Sie begegneten nur wenigen Menschen. Die meisten gingen mit gesenkten Köpfen einher, weder das herrliche Wetter noch die Tatsache, daß Sonntag war, schien ihre grauen Werktagsgesichter aufzuhellen. Man hörte weder Kirchenglocken noch das Johlen von Kindern, noch Verkehrslärm. Auch hier, im Stadtzentrum trugen die Häuser Spuren der heftigen Kämpfe von 1956. Weder den Siegern noch den Besiegten schien daran zu liegen, diese Spuren zu beseitigen. Die Geschäftsstraßen, deren Eleganz einst legendär gewesen war, wirkten wie Kulissen aus einem Endzeitfilm. Viele Auslagen waren beschädigt und notdürftig mit Holz oder Pappe vermacht, viele waren leer, die wenigen ausgestellten Waren machten den Eindruck von armseligen Attrappen. Und Oleg Kurakin sammelte Eindrücke. Er sprach nicht viel. Er ging langsamer dahin, als am Abend zuvor an der Donau und betrachtete seine Umgebung mit professioneller Intensität. Anna spürte das. Sie versuchte die Stadt mit Kurakins Augen zu sehen, den Augen eines Menschen, dessen Beruf es war, über Zustände zu befinden und sie zu beschreiben. Es gelang ihr nicht. Die Präsenz des Mannes, neben dem sie schweigend einhertrabte, vernebelte ihre Sicht auf die Stadt.

Er hatte den Weg zum Kaffeehaus gefunden, als wäre er hier zu Hause. Salons im Jugendstil, Marmortischchen, Plüsch, eine lange Kuchenanrichte, die bis auf ein paar vertrocknete Kuchenstücke leer war. Gerbeaud. Ein paar alte Leute saßen an Tischen und in Fensternischen. Sie sprachen kaum und schienen auf nichts mehr zu warten. Ein faltiger Kellner erklärte Kurakin, daß es weder heiße noch kalte Schokolade gebe und daß außer Sandtorte nichts Eßbares zu haben sei. Kurakin und Anna hatten in einer Ecke am hintersten Ende des Raums Platz genommen. Im schrägen Licht der Sonne tanzte der Staub. »Als meine Großmutter in den zwanziger Jahren bei Gerbeaud war, muß es hier von schönen Frauen und eleganten Männern gewimmelt haben«, sagte Kurakin. »Sie beschrieb mir die Toiletten der Damen und erzählte mir von einer Kuchentheke, die so lang war, daß man von einem Ende das andere nicht sah. Darauf hätten sich die unglaublichsten, köstlichsten Patisserien getürmt und sich in hohen Kristallspiegeln verdoppelt, daß man meinte, im Kuchenhimmel zu sein.« Er lachte leise. »Meine Großmutter war eine Frau, die aus den banalsten Dingen Märchen machte.« Seine Stimme klang zärtlich. »Sie müssen sie sehr geliebt haben«, sagte Anna. Kurakin lehnte den Kopf zurück, im grellen, durch die Fensterscheiben gebrochenen Mittagslicht nahmen seine Augen eine zitronengelbe Färbung an. »Meine Großmutter war die wichtigste Frau in meinem Leben. Sie hat mich gewiegt und geküßt, sie hat mich gescholten und mit mir gebetet, sie hat für mich, als ich klein war, Geschichten erfunden, und als ich größer wurde, hat sie mit mir diskutiert. Es gab keine Frage, die sie nicht versucht hätte zu beantworten, und später, als ich längst erwachsen war, hat sie mit der leidenschaftlichen Neugier eines jungen Mädchens Fragen an mich gerichtet ...« Er brach ab. »Erzählen Sie weiter«, bat Anna. Kurakin sah sie an, wie er ein wißbegieriges Kind angesehen hätte. »Was wollen Sie hören, die Geschichte meiner Großmutter?« Anna nickte. Sie vergaß den dünnen Kaffee und die traurige Stadt und die Zeit, sie sah in seine Augen und hörte seine Stimme, die ihr eine Welt erschlossen.

Warwara Iwanowna, Tochter eines angesehenen St. Petersburger Arztes. Bis ins Alter bewahrte ihr Gesicht die rosige Frische einer jungen Schlittschuhläuferin auf der Newa und ihr Geist die Sehnsucht nach Neuem. Letzteres schrieb man in der Familie der Tatsache zu, daß Warwara just an jenem Sonntag im März 1861 zur Welt gekommen war, an dem im ganzen Reich die Aufhebung der Leibeigenschaft verkündet wurde. Für Zar Alexander II., den Schöpfer dieser epochalen Reform, hegte sie ihr Leben lang eine schwärmerische Verehrung. Sie fand die Leidenschaft des Kaisers für seine um achtundzwanzig Jahre jüngere Geliebte Katharina Dolgorukaja überaus romantisch. Wenn die Matronen im Salon von Warwaras Mutter über die skandalösen Zustände bei Hofe tuschelten und sich den Mund darüber zerrissen, daß die Mätresse des Kaisers eine Wohnung im Winterpalais bezog, während die arme Kaiserin dahinsiechte, nahm sie keck für die Liebenden Partei. Als der Zar und Katharina nach dem Tod der Zarin heirateten, zündete Warwara in ihrer Lieblingskirche Kerzen für die beiden an. Im selben Jahr, zu Weihnachten 1880, feierte sie selbst Verlobung. Konstantin Iljitsch Kurakin war um zehn Jahre älter als seine Braut. Der stattliche Tuchfabrikant aus Moskau verwöhnte Warwara mit Geschenken und umgab sie mit zärtlicher Fürsorge. Als Zar Alexander im März 1881 einem Attentat zum Opfer fiel, reiste Konstantin Iljitsch, der sich eben in Woronesch aufhielt und wußte, wie traurig seine Braut über den Tod des Kaisers sein würde, ohne Aufenthalt nach St. Petersburg, um sie zu trösten.

»War das weit?« fragte Anna atemlos, Kurakin lachte leise. »Sehr weit.« – »Wurden sie glücklich?« fragte Anna. Kurakin nickte. »Nach ihrer Hochzeit zogen sie in das Moskauer Stadthaus meines Großvaters. Ein weitläufiger Bau im Viertel hinter dem Bolschoitheater. Ein sehr lebendiges Haus. Gäste kamen und gingen, Verwandte kamen und blieben, Diener wurden in den Haushalt hineingeboren und starben daraus weg. Der Salon meiner Großmutter war einer der gesuchtesten in Moskau, bei ihr begegnete man Unternehmern und Bankiers, berühmten Künstlern, Gelehrten aus dem In- und Ausland. Meine Großeltern dachten kosmopolitisch. Sie reisten viel und mit den Jahren immer mehr, da Großmama immer noch kinderlos war und sämtliche einschlägige Bäder Europas in der Hoffnung aufsuchte, sie würde doch noch schwanger werden.« — »Und?« fragte Anna gespannt. Die Haut über ihren hohen Backenknochen war vor Aufregung rosig geworden, ihr geschwungener Mund stand etwas offen. Kurakin sah auf ihren Mund, als er antwortete. »Wider alles Erwarten hat es schließlich geklappt, zehn Jahre nach der Hochzeit meiner Großeltern gab es bei Kurakins eine Taufe.« – »Ihr Vater«, sagte Anna. Kurakin atmete den Rauch seiner Zigarette aus, weshalb Anna sein Gesicht nicht genau sehen konnte, als er sprach: »Nein. Meine Mutter.«

Irina Konstantinowna blieb das einzige Kind der Kurakins. Konstantin Iljitsch, selbst hoch gebildet, überwachte die Erziehung seiner Tochter sorgfältig. Sie besuchte ein ausgezeichnetes Gymnasium. Als sie erklärte, daß sie Ärztin werden wolle, unterstützte er ihren Entschluß. Warnungen von Verwandten und Freunden, daß Universitäten die Brutstätten subversiver Ideen seien, wischte der liberal eingestellte Intellektuelle mit dem Argument beiseite, es sei wichtig für junge Menschen, mit den geistigen Strömungen ihrer Zeit in Berührung zu kommen. Seine Tochter hätte nicht nur das Feuer ihrer Mutter, sondern auch seine, Kurakins Vernunft geerbt, sie würde sich nicht verhetzen lassen, sondern selbst ein Urteil bilden.

Mit zwanzig war Irina ausnehmend hübsch und ausnehmend gebildet, ihr Verstand und ihre Zunge waren scharf, und sie sympathisierte offen mit den Sozialrevolutionären. Auch dafür brachte ihr Vater Verständnis auf. Er meinte, Irina hätte den beginnenden Strukturwandel im Reich, den Russisch-Japanischen Krieg und seine Folgen, Streiks, Demonstrationen, Attentate und die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, die Schwächen des Systems zu beseitigen, bewußt miterlebt. Unter diesen Voraussetzungen sei es nur natürlich, daß sie versuche, an einer Welt für morgen zu bauen. Warwara Iwanowna, die sonst so Fortschrittsgläubige hatte ihre Bedenken. Irina nahm immer weniger am gesellschaftlichen Leben ihrer Kreise teil. Sie verschwand ganze Abende, dann halbe Nächte lang. Arbeitskreise mit Studienkollegen, sagte sie. Einmal brachte sie einen jungen Mann zum Mittagstisch nach Hause. Er war ein paar Jahre älter als Irina. Er hatte ein wildes Gesicht mit ausgeprägten Backenknochen und extrem schrägen Augen. Irina stellte ihn den Eltern als Lew Jakowlew, Medizinstudent und Dichter vor. Warwaras Fragen beantwortete er einsilbig oder gar nicht, was die temperamentvolle Frau ärgerte. Sie war nicht sehr höflich zu Jakowlew und warf ihm gegen Ende des Essens an den Kopf, daß sie glaube, er sei im Untergrund tätig und benütze einen Decknamen. Jakowlew kam nie wieder. Und Irina ging bald nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Rotkreuzschwester an die Front. Ihre Besuche daheim waren selten und kurz. Warwara betete in einem Jahr mehr als in ihrem ganzen Leben zuvor. Im Februar 1916 kam Irina unerwartet nach Hause. Sie sah elend aus. Ohne Umschweife erklärte sie den Eltern, daß sie schwanger sei und daß sie den Vater ihres Kindes, Lew Jakowlew, nicht heiraten könne. Er sei zu Weihnachten 1915 an der Nordwestfront gefallen.

Kurakin wandte den Kopf und sah zum Fenster hinaus. Anna betrachtete sein Profil, sie sah das Licht in seinen Augen schimmern, sie saß da und schwieg und wartete, bis er sich ihr wieder zuwandte. »Ich bin unehelich geboren«, sagte er ein wenig heiser. Er räusperte sich, ehe er fortfuhr. »Ich kam im August 1916 auf der Datscha meiner Großeltern bei Woronesch zur Welt. Meine Mutter ließ mich auf den Namen Oleg taufen. Über meinen Vater sprach sie nie.« Er verstummte. Er sagte so lange nichts, daß Anna befürchtete, er habe seine Erzählung beendet. »Vielleicht hat es ihr weh getan, über ihn zu sprechen, vielleicht hat sie ihn zu sehr geliebt«, versuchte sie ihn aus der Reserve zu locken. Kurakin drehte den Kaffeelöffel zwischen seinen langen Fingern. »Möglich«, sagte er, legte den Löffel weg und sah sich nach dem Kellner um. »Es muß schwer sein, sich alles über den eigenen Vater ausdenken zu müssen«, überlegte Anna ein wenig zu treuherzig. Der Mann wandte den Kopf und sah sie an. »Nicht alles, ein paar Fakten sind mir überliefert, sie ergeben das perfekte Melodram.« Sein Ton war von einer Gleichgültigkeit, die Anna peinlich berührte. »Mein Vater war der Bastard eines versoffenen Fürsten. Ein radikal umstürzlerischer Mathematiklehrer namens Jakowlew hat die entehrte junge Mutter geheiratet und das Kind als das seine angenommen. Er ist Lew ein guter Vater gewesen, aber er hat dem Jungen einen leidenschaftlichen Haß gegen die herrschende Klasse eingeimpft und ihn frühzeitig auf die Revolution eingeschworen. Im Alter von zehn Jahren nahm Lew, den seine Mutter auf den Namen Iwan hatte taufen lassen, den Namen Lew an, weil er »Löwe« heroischer fand. Sein Credo hieß Kampf. Kampf dafür, daß eines Tages alle Macht vom Volk ausgehen werde. Auf seine Art war er wohl charismatisch, es heißt, er habe Menschen nicht bloß begeistert, er habe sie verzaubert.« Er dachte eine Weile nach, ehe er ohne Wärme fortfuhr: »Mit Sicherheit ist ihm das bei meiner Mutter gelungen. Drei Monate nach meiner Geburt erklärte sie meinem Großvater, sie müsse mich verlassen, sie müsse Lews Fackel weitertragen. Sie legte mich in die Arme meiner Großmutter, bat sie, mich nie zu verlassen und ging an die immer chaotischer werdende Front. Bald darauf galt sie als vermißt.«

Der Kellner ging vorüber, Kurakin winkte ihn an den Tisch, der Kellner nickte und ging weiter. »Bitte«, sagte Anna, »erzählen Sie mir, was mit Ihrer Mutter geschehen ist.« Kurakins Augenbrauen zogen sich unwillig zusammen, Anna spürte sein Widerstreben, seine Nervosität, spürte, daß er von hier fort wollte. »Bitte«, wiederholte sie leise. »Sie können mich doch nicht mitten in einer halbfertigen Geschichte hängenlassen.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich mit der gleichen Plötzlichkeit, mit der er sich bewegte. Seine Züge wurden weich, er lächelte flüchtig. »Sie sind geschickt, meine Liebe. Und Sie sind eine gute Zuhörerin. Sie haben sich das Ende der Geschichte verdient.«

Kurakins kehrten mit ihrem Enkelkind nach Moskau zurück, weil sie hofften, dort eher etwas über Irina zu erfahren. Die gesellschaftliche Ächtung, die ihnen Olegs unehelicher Geburt wegen widerfuhr, machte ihnen wenig aus, die Sorge um Irina und die Freude an dem Kind erfüllten sie restlos. Dann kam die Februarrevolution. Marodierende Banden drangen in das Haus der Kurakins ein, sie erschossen den alten Hausmeister, bedrohten Olegs Kinderfrau und stahlen, was sie tragen konnten. Im Gegensatz zu vielen seiner Freunde und Bekannten war Konstantin Iljitsch auch nach der Konstituierung der provisorischen Regierung nicht davon überzeugt, daß das Ärgste vorüber sei. Deshalb schickte er im Sommer 1917 die heftig protestierende Warwara mit Oleg nach Paris, wo er schon Jahre zuvor einen Teil seines Vermögens angelegt hatte. Er selbst wollte vorläufig in Moskau bleiben, um eine Anlaufstelle für Irina zu sein, er hatte die Hoffnung, seine Tochter wiederzusehen, nie aufgegeben. Ende Oktober ergriffen die Bolschewiken die Macht. In St. Petersburg gab es keinen nennenswerten Widerstand, aber in Moskau kam es zu heftigen Straßenschlachten. In der ganzen Stadt fiel das Licht aus. Konstantin Iljitsch saß im Dunkeln, die Angst um Irina verdichtete sich zur Panik. Wenig später führte sein alter Diener einen Mann herein. Er trug eine Schirmmütze und an der Brust eine rote Schleife. Irina schicke ihn, sie sei von einer Kugel getroffen worden, als sie an der Seite der Roten Garden gekämpft habe, Konstantin Iljitsch möge kommen ... nein, kein Arzt, es sei nichts mehr zu machen ... nur er, der Vater, möglichst schnell ... Eine Stunde später drückte der Vater seiner Tochter die Augen zu.

Anna wischte sich über die Augen. »Brauchen Sie ein Taschentuch? « fragte Kurakin und fuhr, als Anna den Kopf schüttelte, lächelnd fort. »Kein Grund zur Trauer, Anna Clarin, die Geschichte ist gut ausgegangen. Meinem Großvater ist es gelungen, Rußland zu verlassen, meine Großeltern und ich lebten jahrelang ziemlich vergnügt in Paris, die beiden umgaben mich mit so viel Liebe und Verständnis, daß ich niemals das Empfinden hatte, eine Waise zu sein.« Er brach ab, weil Anna ihn anstarrte, als suche sie in seinem Gesicht nach der Antwort auf eine ungelöste Frage. »Hatte Lew Jakowlew gelbe Augen?« sagte sie schließlich. Kurakin legte den Kopf in den Nacken und lachte laut. »Eine gute Frage. Meine Großmutter behauptete, er hätte Löwenaugen gehabt. Kommen Sie, Anna Clarin.«

Es war früher Nachmittag, als sie auf die Straße traten. Ziellos wanderten sie durch enge Gassen und Boulevards, landeten an der Donau, verschwanden aufs neue im Gassengewirr von Pest. Sie gingen locker, unterhielten sich ohne Krampf, kamen vom Hundertsten ins Tausendste. Das zwanghafte Aufeinander-Zutreiben, das ihre erste Begegnung gekennzeichnet hatte, war einer behaglichen Zweisamkeit gewichen. »Sehen Sie sich um«, sagte Kurakin, »ein Tag in einer Stadt wie dieser, und man hat das Wesen des real existierenden Sozialismus begriffen. Sehen Sie, wie er die überkommene Kultur des Landes erstickt und das Entstehen einer neuen verhindert? Sehen Sie, wie er die Menschen verkrüppelt? Können Sie sich vorstellen, daß aus diesen hoffnungslosen Schattenexistenzen noch einmal Helden werden, wie das Jahr 1956 sie hervorgebracht hat?« Anna konnte Pathos nicht leiden. »Warum nicht«, erwiderte sie scharf, »sie haben es einmal getan, sie werden es wieder tun, die Magyaren sind zäh wie Weiden.« Kurakin betrachtete ihr Profil, er sah mit Vergnügen, wie sie ihre kleine gerade Nase kämpferisch in die Luft reckte. Sie machte lange Schritte, ihr Haar flatterte wie eine Fahne im Wind, sie redete sich in Rage. »Nach der Revolution gab es in Österreich zweihunderttausend Flüchtlinge aus Ungarn, zwei Drittel davon in Wien. Fast alle Wiener Schulen haben damals für die Ungarnhilfe gearbeitet, meine Schule hat eine Gruppe von Jugendlichen in einem Flüchtlingslager betreut. Die meisten von ihnen waren nicht viel älter als ich. Sie haben Molotowcocktails auf Panzer geschmissen und wahnsinnig mutig gekämpft, und als es schiefging, mußten sie wie die Hasen flüchten, und im Lager haben sie oft geweint. Aber nicht aus Verzweiflung, sondern aus Wut! Und jeder einzelne von ihnen hat gesagt, daß er es wieder tun würde, wenn sich die Gelegenheit dazu ergebe.« Anna spürte Kurakins Blick und brach ab. »Was ist?« fragte sie. Kurakin blieb stehen, also blieb auch Anna stehen. Sie wurde unsicher. »Ist was?« sagte sie leise. Die Augen des Mannes lachten nicht mehr, sein Gesicht erschien ihr fast bedrohlich, sein langes Schweigen war lähmend. »Wie alt warst du im Herbst 1956, Anna Clarin?« fragte er schließlich. »Vierzehn ... na ja, noch nicht ganz. Warum?« sagte Anna und sah ihn neugierig an. Kurakin nagte an seiner Unterlippe. Wieder schwieg er lange. Plötzlich ergriff er Annas Schultern, neigte sich zu ihr hinunter und raunte in ihr Ohr: »Alte Männer sind gefährlich, ihnen ist die Zukunft egal, wußtest du das, Anna Clarin?« Sie spürte seinen Atem an ihrer Wange. Er roch nach Zitronenseife und Tabak. Annas Herz klopfte dumpf. Kurakin ließ sie los und richtete sich auf. »Das mit den alten Männern stammt von G. B. Shaw. Ich liebe Shaw. Wer ist dein Lieblingsdichter, Anna?« — »Rilke«, sagte sie artig und kam sich wie ein Schulmädchen vor.

Er hatte sich bei ihr untergehakt und wieder zu gehen begonnen. Anna spürte plötzlich, wie müde und hungrig sie war. Ihre Füße schmerzten. »Kennst du Mensch und Übermensch?« fragte er. »Eines der geistreichsten Stücke der Weltliteratur. Don Juan in der Hölle. Nein? Ah, ich möchte, daß du liest, wie Shaw die Aussichtslosigkeit des Mannes, der Frau zu entrinnen, beschreibt ... Wie viele Männer wird es geben, die dir nicht entrinnen können. Gibt es einen Mann in deinem Leben, Anna Clarin? Ich weiß nichts von dir.« Die Sonne war verschwunden, der Himmel war grau geworden, es wehte ein kräftiger, kalter Wind. Anna fröstelte. Kurakin bemerkte es sofort. »Du frierst«, sagte er, blieb stehen, legte seinen Rock ab, drückte ihn Anna in den Arm und schlüpfte aus dem Pullover, den er unter dem Rock getragen hatte. Ohne auf Annas Protest zu achten, zog er ihn über ihren Kopf. Sie sah unglücklich an sich hinunter, der Pullover wurde von der darunterliegenden Kostümjacke ausgebeult. »Ich seh’ aus wie ein Faß«, jammerte sie. Kurakin hatte seinen Rock wieder angezogen. Er lachte. »Das schönste Faß der Welt«, sagte er und strich mit seinen großen Händen Annas Haare glatt.

In einem Haustor stand ein Mann und beobachtete sie mit einem freundlichen Lächeln. Anna lächelte spontan zurück. Er war der erste Passant, der sich für das fremde Paar zu interessieren schien. Er war grauhaarig und mager und es fehlten ihm ein paar Zähne. Er löste sich aus dem Haustor und kam auf Kurakin und Anna zu. »Verzeihän Sie bittä, ich hörte Sie deutsch sprächän, kommen Sie aus Österreich?« fragte er. Seine Stimme klang kultiviert. »Ja, aus Wien«, sagte Anna. Der Mann strahlte sie an. »Wien, die schönste Stadt der Wält mit den schönsten Frauen der Wält. Ich war dort gewesän, als junger Mann, vor dem Kriege.« Wer hatte kürzlich das gleiche von Budapest gesagt, war es ihr Vater gewesen? Plötzlich wurden ihre Augen feucht, sie schluckte und ging auf den Mann zu. »Wie lieb von Ihnen, das zu sagen. Die Ungarn sind ein wunderbares Volk ... ich wünsche ihnen Glück ...« Es ärgerte sie, daß sie zusammenhangloses Zeug stotterte, wahrscheinlich lag es an Kurakin, der wie ein Turm hinter ihr stand und sie verlegen machte. Sie trat noch einen Schritt auf den Ungarn zu, bis sie dicht vor ihm stand. »Darf ich Ihnen etwas schenken«, sagte sie ohne zu wissen, was sie ihm eigentlich schenken wollte, was sie bei sich trug, das sie ihm schenken konnte. Sie begann in ihrer Handtasche zu kramen, suchte in Panik nach irgend einem passenden Gegenstand und ertastete ihren Kugelschreiber. Ein Vierfarbenkugelschreiber, ein Geschenk von Nora. Ohne zu zögern, holte sie ihn heraus und hielt ihn dem Mann entgegen.

Später würde Kurakin, wenn er die Szene beschrieb, von Annas Grazie des Gebens und von des Ungarn Grazie des Nehmens sprechen. Der dünne Mann nahm den Kugelschreiber von Anna entgegen, als wäre er ein Orden. Er nahm ihn ohne Zögern, stolz und froh. Mit verklärtem Gesicht untersuchte er den Druckmechanismus, immer wieder strahlte er das Mädchen an, ohne etwas zu sagen. Plötzlich ergriff er Annas Hand, beugte sich tief darüber und küßte sie. Dann drehte er sich um und verschwand im Haus. Anna wandte sich nach Kurakin um. Er sah sie mit einer Zärtlichkeit an, deren Intensität sie erschreckte. Er murmelte ein paar russische Worte, ehe er sagte: »Komm, wir müssen ein Taxi suchen, es ist spät, der Bus wird nicht ewig auf uns warten.«

Sie erreichten die Donau. Kein Taxi. »Hinter uns liegt das Parlament, vor uns die Kettenbrücke, dahinter das Gellert. Kannst du so weit laufen?« fragte Kurakin. Anna nickte. Sie liefen. Annas Schuhe klopften auf dem Asphalt, Kurakins weiche Sprünge waren kaum zu hören. Er hielt ihre Hand fest in der seinen. Anna. bekam Seitenstechen. »Kannst du noch?« fragte Kurakin, Anna nickte. Der Bus stand mit laufendem Motor vor dem Gellert, die Reisenden hatte ihre Plätze bereits eingenommen. Sie starrten dem großen kahlköpfigen Mann, der Hand in Hand mit dem Mädchen im monströsen Pullover über die Straße lief, entgegen. Flüchtig nahm Anna das mißbilligende Gesicht Ewgenias und das süffisante Lächeln des französischen Botschafters und das Schmunzeln von Ian Keynes wahr. Die Bustür stand offen, davor standen Luis und Helen. »Oleg!« schrie Luis. »Anna!« stöhnte Helen. »Sie sehen aus wie Hundebesitzer, denen die Dackel ausgerissen sind«, keuchte Anna. Oleg warf den Kopf zurück und lachte laut.

Der Bus fuhr nach Westen. Am Himmel stand eine grau und violett schattierte Wolkenwand, die knapp über dem Horizont abriß, darunter zeigte sich ein Streifen weichen orangefarbenen Lichts. Er wurde schmaler, und als er verlosch, war es Nacht. Die Dunkelheit und das Geschaukel im Bus machten die Leute schläfrig. Niemand sprach, manche dösten, der französische Botschafter schnarchte. Anna saß neben Helen. Wie ein ungehorsames Kind hatte die Freundin sie bei der Hand genommen, sie auf den Sitz neben dem ihren gezogen und, kaum daß der Bus angefahren war, mit ihrer Strafpredigt begonnen. Von der Tatsache, daß die ganze Gesellschaft auf sie habe warten müssen, einmal abgesehen, die Art und Weise, wie sie mit dem Russen angekommen sei ... einfach kompromittierend ... total derangiert, in Kurakins Pullover, dem Pullover eines verheirateten Mannes! ... Auch Kurakin war ins Gebet genommen worden. Er und Luis saßen hinter den Mädchen, Anna hatte ein Gemisch aus Französisch und Spanisch vernommen, Luis zunächst vorwurfsvoll, Kurakin gereizt, dann Lachen, schließlich Schweigen. Was gesagt wurde, hatte sie Helens unausgesetztem Geschimpfe wegen nicht verstanden. Mit einem »Komm, sei friedlich« hatte sie den Wortschwall schließlich zum Versiegen gebracht. Helen döste weg.

Anna blieb trotz ihrer körperlichen Müdigkeit hellwach. Nicht einen Augenblick vergaß sie, wie nahe Oleg Kurakin war. Manchmal glaubte sie sein Atmen zu hören. Ohne sich umzudrehen, wußte sie, daß auch er nicht schlief. Sie hatte das Gefühl, daß seine Gedanken sie physisch berührten, sich wie hauchzarte Materie auf ihrer Stirn, ihrem Mund, ihren Augenlidern niederließen. Es gab die Zeit nicht mehr, nur diesen Augenblick, der sich wie eine Seifenblase dehnte. Der dunkle Bus war eine Insel, von der alle Menschen abgelegt hatten, es gab nur Anna und Oleg, Oleg und Anna.

Sie kamen an die Grenze. Oleg beugte sich vor und fragte leise: »Hast du Angst?« Anna wandte sich um, sie sah seine Augen im Licht der Grenzscheinwerfer schillern und schüttelte den Kopf. Auf der österreichischen Landstraße legte der Bus an Geschwindigkeit zu. Helens Kinn war im Schlaf abwärts gekippt, ihr Kopf pendelte hin und her. Anna kniete auf, fischte Helens Regenmantel aus dem Gepäcksnetz, knüllte ihn zu einem Polster und stopfte ihn zwischen Helens haltlosen Kopf und die Fensterscheibe. Sie ließ sich auf ihren Sitz zurückfallen, im Schwung breitete sich ihr Haar über die Lehne und hing hintüber. Anna versuchte, das Zifferblatt ihrer Uhr zu erkennen, sie würden bald dasein, am Horizont war der Widerschein des beleuchteten Wien zu sehen. Dann spürte sie den Duft von Zitronenseife und Tabak. Etwas berührte ihr Haar. Sie hätte gern gewußt, ob es Olegs Hände waren oder sein Mund. Sie schloß die Augen und bewegte sich nicht und hatte ein Gefühl, als ob ihre Nervenenden in einen Honigtopf hingen. Und dann hörte sie es kaum wahrnehmbar raunen: Je t’aime, Anna. Je t’aime.

Wien. Die Secession. Die Nächte sind nicht mehr kalt, dachte Anna, als sie aus dem Bus stieg. In ein paar Wochen wird der Flieder blühen. Und gleich darauf, als stünde alles, was ihr Leben betraf, mit Oleg in Beziehung: Wo wird Oleg sein, wenn hier der Flieder blüht? Die Reisenden blockierten den Gehsteig, stießen laute Abschiedsrufe aus, taten, als sagten sie engen Freunden adieu. Anna schüttelte Hände von Leuten, mit denen sie während der ganzen Fahrt kein Wort gewechselt hatte. Und dann stand sie vor Kurakin. Sein kahler Schädel spiegelte im Licht der Straßenlaterne, seine Augen funkelten gelb und wild. »Wir gehen noch nicht nach Hause, Anna«, sagte er und griff nach ihrer Reisetasche. Ehe Anna ein Wort sagen konnte, hatte Helen sich eingemischt. »Es ist II Uhr nachts, wo wollen Sie jetzt noch hin?« fuhr sie ihn an, ihre Mißbilligung war greifbar. Er habe ein kleines Gasthaus entdeckt, irgendwo hinter diesem Markt — Kurakin deutete auf den Naschmarkt -, dort gebe es ausgezeichneten Schaschlik und einen Mann, der die Balalaika spiele. Er breitete die Arme aus und rief theatralisch: »Kommen Sie, kommen Sie alle, wer mitkommt, ist mein Gast!« Befremdetes Hüsteln der Diplomaten, rasche Abschiede. Ewgenia Konstantinowna pflanzte sich vor Kurakin auf, sie ergriff die Aufschläge seines Rocks und riß daran, während sie auf ihn einsprach. Sie sprach russisch, und was sie sagte, klang wie ein SOS-Ruf. »Schenja, Schenja«, lachte Kurakin und löste seine Rockaufschläge aus dem Griff der Frau. Sie drehte sich um, stieg in ein wartendes Taxi und fuhr davon. Helen hatte neben Anna Aufstellung genommen. »Mach dir keine Hoffnungen, ich weiche keinen Schritt von deiner Seite«, sagte sie und sah nicht ohne Wehmut dem Legationsrat nach, der beteuert hatte, morgen sei ein schwerer Tag im Amt, indes, er hoffe auf ein baldiges Wiedersehen ... Es blieben Luis, Linde und Ian Keynes. »Eine Stunde, Oleg, nicht länger, wir müssen morgen früh nach Paris«, sagte Luis. Linde fuhr mit beiden Händen durch ihr Haar. »Oleg, Khan der Goldenen Horde,« spöttelte sie. »Den Abschluß dieser bizarren Reise will ich miterleben.« In ihren Augen saß eine wehe Ahnung. Es war Ian Keynes, der die Situation entspannte. »Ein großartiger Vorschlag, das mit dem Gasthaus«, meinte er. »Ich habe seit dem Frühstück im Gellert nichts mehr gegessen.« Er nahm Lindes Tasche über die Schulter und wandte sich an Kurakin: »Welche Richtung?«

Ein Wirtshaus auf einem kleinen dreieckigen Platz in Margareten. Links und rechts vom Eingang hölzerne Kübel, in denen Buchsbäume vegetierten. Ihre vertrockneten Blättchen raschelten im Wind, rund um die Kübel schlichen Katzen. Im Inneren des Lokals gab es acht Tische, die bis auf einen unbesetzt waren, und eine altmodische Schank. Der Geruch von Holzkohlenfeuer ließ das schäbige Wiener Beisel, in dem es von Rechts wegen nach Gulasch und Bier hätte riechen müssen, fremd wirken, die Töne einer Balalaika verstärkten diesen Eindruck. Der Wirt lehnte hinter der Theke. In der Ecke neben der Theke stand ein Tisch, an dem der Balalaikaspieler und zwei schnurrbärtige Männer saßen. Der Bart des einen war lebensbejahend aufwärts gezwirbelt, der des anderen hing abwärts. Die Männer lauschten dem Musikanten, der die Saiten seines Instruments leise zupfte und dazu ein trauriges russisches Lied sang.

Oleg trat ein, stieß einen Ruf aus, der wie ein Schlachtschrei klang, und die Atmosphäre begann zu knistern. Der Balalaikaspieler sprang auf und umarmte den Kahlkopf, als wäre er sein Bruder. Ein gewaltiges Rückenklopfen hob an, die Männer sprachen russisch, das Gespräch lief weich und dunkel dahin, bis das Wort Wodka dröhnend fiel. Der Wirt verschwand in der Küche und kehrte mit einer Flasche wieder, die, den anerkennenden Blicken Olegs und der Männer nach zu schließen, Besonderes enthielt. Oleg schenkte allen Anwesenden ein, Helens Protest erstickte er im Keim, er war ein Gastgeber, dem man nicht entrann. »Nastrowje!« rief er. Auf euer Glück. Er sah Anna an und leerte das Glas auf einen Zug, und die anderen folgten ihm. Er versammelte seine Gäste um einen Tisch, er bestellte Borschtsch und Schaschlik, und ehe die Suppe kam, hatte er eine zweite und eine dritte Runde Wodka auffahren lassen. Keynes hatte einen roten Kopf, Linde war blaß, und Helen wurde langsam grün. Luis versuchte, den Freund einzubremsen. »Oleg, es ist genug, die Leute werden krank«, sagte er und deutete auf Helen. »Nein, sie werden immer schöner«, erwiderte der Russe und starrte Anna an.

Wenn man Anna gefragt hätte, wie sie sich fühlt, hätte sie sagen müssen: Wunderbar, das Leben klopft von meinen Fußsohlen bis hinauf in meine Haarspitzen. Ihre Wangen waren rosig, ihre Zähne glänzten, wenn sie lachte, bog sie den Kopf zurück und auf ihrem runden glatten Hals schimmerten zwei blaue Adern. Sie aß mit Genuß, der Wodka machte sie nicht betrunken, er steigerte ihr Lebensgefühl. In ihrer Fähigkeit, den Augenblick zu genießen, lag eine Lockung, der sich nicht nur Oleg, sondern auch die beiden anderen Männer ergaben. Luis hatte seine Kamera hervorgeholt und fotografierte Annas Gesicht. Sie bemerkte es nicht, sie lächelte dem Balalaikaspieler zu, der längst Tanzweisen spielte, und klatschte mit den Händen den Takt. Ian Keynes beugte sich über den Tisch und versuchte, Annas Arm zu erhaschen. »Hören Sie, Anna von Österreich«, sagte er mit schwerer Zunge, »gibt es in Ihrem Stammbaum Hunnen?« Er war betrunken, aber mit Stil. Er mußte sich sammeln, ehe er fortfuhr: »Wer war es doch, den Ihr Kanzler Metternich auf den Balkon seines Wiener Palastes führte, um ihm zu sagen, daß da unten, vor der Schwelle seines Hauses Asien beginne?« Langsam wanderten die Augen des Briten zwischen Anna und Kurakin hin und her, dann wandte er sich an Helen und Linde. »Sie, meine Damen, verkörpern die Neue Welt und Europa. Aber Anna von Österreich und Oleg Kurakin sind Asien.«

» Wodka!« rief Oleg. »Es ist genug«, flehte Luis. Linde und Helen tuschelten, Linde stand auf und fragte den Wirt, wo sie telefonieren könne. Der Wirt deutete auf die Küchentür, während er die Gläser füllte. Linde verschwand. Oleg winkte den Balalaikaspieler heran, er trank ihm zu, der Musikant beschleunigte den Rhythmus. Der Mann mit dem hängenden Schnurrbart zog eine Mundharmonika hervor, er trat näher und begann den Balalaikaspieler zu begleiten. Die Musik wurde wilder und schriller. Nun kam auch der Mann mit dem Zwirbelbart näher, er klatschte in seine riesigen Hände und schrie: »Kasatschok!«

Niemand hätte später zu sagen vermocht, wie Oleg Kurakin auf dem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes gelandet war. Plötzlich stand er ohne Jacke und Krawatte oben, sein Hemd war weit geöffnet, er ging geschmeidig in die Knie und begann den Kosakentanz zu tanzen. Alle waren aufgesprungen. Sie bildeten einen Kreis und klatschten wie verrückt den mitreißenden Zweivierteltakt des Kasatschok. Kurakins kahler Schädel glänzte vor Schweiß, sein Hemd klebte an seinem Körper, er atmete schwer, aber er hörte nicht auf. Ka-ka-kasatschok! Immer wieder ging er in die Knie, schleuderte die Beine seitwärts, der schwere Körper schnellte scheinbar mühelos immer wieder in die Höhe. Wenn Oleg Kurakins Augen nicht gewesen wären, hätte der Tanz etwas Spielerisches gehabt. Aber Oleg Kurakins Augen waren von einer Wildheit, die alle, sogar den betrunkenen Keynes, beklommen machte. Oleg Kurakins Augen waren auf Anna gerichtet, sie hielten den Blick des Mädchens fest, wie hypnotisiert sah Anna in die gelben Lichter, sie begann im gleichen stoßweisen Rhythmus wie Kurakin zu atmen. Die anderen hatten zu klatschen aufgehört. »Anna, wir gehen!« schrie Helen in das Spektakel. Die Musikanten brachen ab. Kurakin stand schwer atmend auf dem kleinen Tisch, wortlos streckte er den Arm aus, griff nach dem vollen Wodkaglas, das der Wirt ihm reichte, seine Augen hatten Annas immer noch nicht freigegeben. »Ich trinke auf die Stadt, aus der wir kommen«, sagte er laut. »Ich trinke auf die Stadt, die aufgehört hat, Budapest zu heißen. Ich trinke auf Annapest!« Er leerte das Glas in einem Zug, warf es, ohne sich umzusehen, über seinen Kopf nach hinten und lachte, als es auf dem Schanktisch zersplitterte.

Und dann ging alles sehr schnell. »Das Taxi ist da«, sagte Linde. Luis nahm die Reisetaschen der Mädchen, er und Linde bugsierten Anna und Helen mit einer Hast in den wartenden Wagen, als handle es sich um Flucht. Helen nannte dem Fahrer Annas Adresse, das Auto fuhr los. Anna drückte ihr Gesicht an die Fensterscheibe. Die Wirtshaustür stand offen. Sie sah den Tisch, auf dem Oleg immer noch stand, sie sah, daß die wilde Lebensfreude aus seinem Gesicht gewichen war, er blickte sich um, als suche er jemanden. Die Musikanten hatten wieder zu spielen begonnen, der Wirt und Ian Keynes klatschten den Takt. Starr saß Anna im Taxi. Der jähe Szenenwechsel und das Schwanken des Wagens setzten ihr zu, der Alkohol machte sich bemerkbar. Sie versuchte, das Schwindelgefühl in den Griff zu kriegen und zu begreifen, weshalb sie neben Helen in einem Auto saß und wo die Euphorie der letzten Stunden so plötzlich hingekommen war. Oleg. »Er weiß nicht, wo ich wohne«, sagte sie laut. »Er fährt morgen weg, und er hat nicht gesagt, wann wir uns wiedersehen.« - »Anna, reiß dich zusammen«, flehte Helen. Sie wollte nach Annas Hand greifen, aber Anna machte Fäuste und bohrte sie in ihre Jackentaschen. »Anna, hör mir zu.« Helen sprach langsam und eindringlich, als hoffe sie, auf diese Weise Annas Verstandesebene zu erreichen. »Der Mann ist nichts für dich, das weiß er selbst. Oleg Kurakin ist ein Frauenbetörer, aber kein Schuft, der junge Mädchen verführt. Du könntest seine Tochter sein.« Anna riß die Hände aus ihren Taschen und hielt sich die Ohren zu, worauf Helen schrie: »Kurakins Sohn ist ein Jahr älter als du!« Der Taxifahrer sah neugierig in den Rückspiegel, pfiff durch die Zähne und brummte: »Na servas.«

Der Wagen hielt vor Annas Wohnhaus. Anna stieg aus und ging grußlos. »Nimm dich zusammen, laß deine Eltern nichts merken«, rief Helen ihr nach. Das schwere Haustor klappte hinter Anna zu, sie stieg in den Aufzug, drückte den Messingknopf, über dem auf einem gelb gewordenen Elfenbeinplättchen eine römische Zwei stand und wartete auf das vertraute Knirschen, mit dem der Lift sich in Bewegung setzte. Sie stellte ihre Reisetasche an eben jener Stelle der abgewetzten roten Plüschbank ab, auf der sie zwölf Jahre lang ihre Schultasche abgestellt hatte. Sie las das Schild, das neben dem länglichen Spiegel über der Bank angebracht war, und das sie las, seit sie lesen konnte. »Kindern unter 12 Jahren ist es untersagt, den Aufzug ohne Begleitung Erwachsener zu benützen.« Das Übertreten dieses Verbotes hatte ihr Erregung und Gewissensqualen verursacht, immer wieder hatte sie mit sich gerungen, ob es zu jenen Sünden zählte, die man bei der Osterbeichte zugeben mußte, oder ob man die Sache zwischen sich und dem lieben Gott abmachen konnte. Der Lift hielt mit dem gewohnten Ruck und dem gewohnten Ächzen. Anna stieg aus. Hinter einem der hohen geätzten Gangfenster brannte Licht. Die Küche. Die Eltern waren also noch wach. Himmlische Mutter, ich kann ihre Fragen jetzt nicht ertragen, dachte Anna und sperrte vorsichtig auf. »Anna?« Die Stimme des Vaters. Die Tür zum Salon ging auf. »Gott sei Dank, daß sie da ist«, seufzte die Mutter. »Komm herein, erzähl, wie war’s?« fragte der Vater. Anna sah in die vertrauten Gesichter, sah nichts als Erleichterung und Erwartung. »Wunderbar war’s«, sagte sie, begann zu schluchzen und rannte in ihr Zimmer.

Kurakin

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