Читать книгу Kurakin - Hanna Molden - Страница 7

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2.

»Boyohboy« japste Helen, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Dieser Kurakin, wie der dich ansieht, der totale Wahnsinn! Ich bin mir vorgekommen wie beim Scharadenspielen: Europa und der Stier.« Anna hatte sich auf das Bett fallen lassen. Sie schloß die Augen. »Ich hab’s dir ja gesagt, Russen sind die geborenen Besetzer.« Sie lachte, es klang ein wenig unsicher, ihre Hände fühlten sich noch immer an, als lägen sie in den seinen. Helen trat vor Anna hin und sah auf sie herunter. »Du siehst aufgelöst aus«, stellte sie fest. »Er bringt dich ganz schön durcheinander.« Als Anna keine Antwort gab, begann sie ihre Reisetasche auszupacken. Sie ging im Zimmer auf und ab, verschwand im Badezimmer, Anna hörte Wasser rauschen und ein Glas klirren und Helen rufen: »Ein Glück, daß Helmut dich so nicht sehen kann.«

Helmut. Seit einem Jahr war Anna mit ihm zusammen. Ihre Tante Nora sprach von ihm als Annas Liebhaber. Anna mochte das Wort nicht, es kam ihr irgendwie schäbig vor. »Weißt du ein besseres?« hatte Nora gefragt, als Anna sich beschwerte. Anna wußte keines. Sie war ihm auf einem Faschingsfest begegnet, die Devise hatte Schwarz und Weiß gelautet, als Mohrin mit baumelnden Ohrringen und Bastrock und Kraushaarperücke war Anna ein durchschlagender Erfolg beschieden. Als sie gegen zwei Uhr morgens den handgreiflichen Annäherungsversuchen eines Rauchfangkehrers zu entkommen suchte, wurde sie von einem Mehlwurm gerettet. Der Mehlwurm tanzte gut, roch gut und hieß Helmut. Nichts sträubte sich in Anna, als er mit ihr zu schmusen begann. Als der Morgen graute und er sie vor ihrem Haustor absetzte, zeigte die äußere Erscheinung beider, wie weit der Flirt gediehen war: Der Mehlwurm war rundum geschwärzt, die Mohrin an strategisch wichtigen Stellen erbleicht. Zwei Wochen später hatten Anna und Helmut sich zum ersten Mal geliebt. Es war im VW des jungen Mannes geschehen. Auf der Höhenstraße. Es hatte einen Schneesturm gegeben ... »Ich sagte: ein Glück, daß Helmut dich so nicht sehen kann«, schrie Helen aus dem Badezimmer. »Ich bin nicht taub«, schrie Anna zurück. Helen war zu sehr mit ihrem eigenen Gefühlszustand beschäftigt, um bei dem Annas zu verharren. »Was meinst du, soll ich mich umziehen?« fragte sie, als sie aus dem Badezimmer trat. Anna lag noch immer auf dem Bett. Sie drehte den Kopf, musterte die Freundin, und schüttelte den Kopf. »Faltenrock, Twinset, flache Latschen – ideal für die Stadtrundfahrt. Putz dich erst am Abend auf. Der Abend verlangt eine Metamorphose.« Sie sah zu, wie Helen ihre rotblonden Locken in allerlei Varianten zu legen suchte und ihr Make-up auffrischte. »Ich habe Hunger«, sagte sie, richtete sich auf und begann in ihrer Tasche zu kramen. »Irgendwo muß Schokolade sein.«

Sie erwischten den Bus in letzter Minute, er fuhr los, kaum daß sie saßen. Sie sahen sich um und stellten fest, daß weder Luis noch Linde, weder Kurakin noch die Schischkina an der Rundfahrt teilnahmen. Die Erwartung in ihren Augen erlosch. »Wahrscheinlich streift er Hand in Hand mit Sieglinde durch die Stadt«, sagte Helen gallig. »Wer ist Sieglinde?« fragte Anna, die nicht recht mitdachte, weil es sie wurmte, daß sie Kurakin vermißte. »Wer schon, das schwarze Gift«, schnaubte Helen. »Die heißt mit Sicherheit Sieglinde.« Helen zog das Sieg gehässig in die Länge. »Wenn du ihr Alter und ihre Nationalität bedenkst, kannst du dir ausrechnen, wes Geistes Kind ihr Vater war.« Anna wurde ärgerlich. »Hör auf mit dem Unsinn. Warum läßt du an der Frau kein gutes Haar, die interessiert sich doch gar nicht für deinen spanischen Schönling.« – »Vielleicht hast du recht.« Helen lächelte hinterhältig. »Denn noch lieber hätte sie den Russen, und das, mein Anna-Mäuschen, würde dir nicht passen.« – »Blöde Kuh«, entfuhr es Anna. »Selber blöd«, sagte Helen patzig.

Die Freundinnen blickten gradeaus und taten, als lauschten sie dem Fremdenführer. Ein magerer, kleiner Mann, von dem Annas Mutter behauptet haben würde, daß er wohl bessere Tage gesehen hatte. Er sprach deutsch, englisch und französisch, aber alles, was er sagte, klang ungarisch. »Vor uns, meine Damen und Härrän, liegt der Burgbärg, gekrönt von dem Budavári palota, dem Burgpalast... « Sie verließen den Bus und wanderten zum Schloß. Die Fassaden der historischen Gebäude waren lieblos instand gesetzt worden. In den schmalen Altstadtgassen herrschte kaum Leben, ein paar ältere Menschen waren unterwegs, sie sahen die Fremden nicht an, sondern blickten zur Seite, als schämten sie sich, in der Öffentlichkeit ertappt worden zu sein. Die Reisegruppe stand vor der Matthiaskirche, ein eisiger Ostwind fegte über den Platz. »In der Matthiaskirche ist Kaiserin Elisabeth zur Königin von Ungarn gekrönt worden. Die Ungarn haben sie angebetet. Mir ist saukalt! « sagte Anna und hakte sich zähneklappernd bei Helen unter. Die Unstimmigkeit von vorhin war vergessen. »Bittäschön, Halászbástya, zu deutsch Fischerbastei«, sagte der Fremdenführer und wies auf das neoromanische Aussichtsbollwerk, als hätte er es eigenhändig erbaut. »Blicken Sie nieder auf die Donau, meine Damen und Härrän, sie ist die Lebensader unserer Stadt. Wie eine Muttär mit ihrer Brust nährt sie Buda und Pest.« Die Mädchen kicherten. »Auf der Fischerbastei treffen sich die Liebespaare, sagte mein Vater«, meinte Anna. Sie sah sich um, eine alte Frau mit einem kleinen Hund schritt die Terrasse müde ab, außer ihr und der Reisegruppe war niemand zu sehen. »Na ja, vielleicht früher«, sagte Anna leise, »vor dem Krieg, da soll Budapest wahnsinnig schick und voll Leben gewesen sein.« Der Fremdenführer gestikulierte mit seinen dürren blaugeäderten Händen, er erklärte das Panorama. » Országház, das Parlament. Vor uns die Kättänbrückä ... «, zum Abschluß würde man noch zum Grabmal des Gül-Baba fahren, »das ist ein Därwisch gewesän, der 1541 in Buda verstarb, er hat den Koran gelährt, man nanntä ihn >Vater der Rosen‹ ... « – »Sieh dir das Licht an«, sagte Helen, »unwirklich schön. In der Dämmerung vergißt man, wie traurig die Stadt ist.«

Als sie in das Hotel zurückkehrten, war die Halle nahezu menschenleer. In einer Ecke drückte sich eine junge Frau herum; während Helen den Schlüssel von der Rezeption holte, pirschte sie sich an Anna heran. »Haben Sie Nähnadeln zu verkaufen, bittä? Zwirn? Hansaplast bittä?« Anna schüttelte den Kopf. »Nein, leider ...« Aus dem Büro hinter der Rezeption tauchte ein Mann mit ausdruckslosem Amtsgesicht auf, die Frau zog den Kopf ein und verschwand. Betreten sah Anna ihr nach. »Es geht ihnen dreckig. Wir hätten etwas mitbringen sollen. Blöd, daß wir nicht daran gedacht haben.« – »Ein paar Nähnadeln würden ihre Misere nicht ändern«, sagte Helen trocken. »Komm mit, dort drüben ist eine Bar, vielleicht gibt es Kaffee.«

In der Bar roch es nach Mottenpulver. Die Spiegel waren teilweise blind, die Fauteuils verschlissen. In einer Fensternische saß Luis. Er hatte einen Cognacschwenker vor sich, rauchte eine Zigarette, und starrte in das trübe Licht einer unbeschirmten Glühbirne. Die Entschlossenheit, mit der Helen auf ihn zuging, ließ auf ihr wahres Wesen schließen. »Ihr wart nicht auf der Stadtrundfahrt, wo wart ihr?« fragte sie und ließ sich Luis gegenüber in einen Stuhl fallen. »Helen darling. « Der Spanier lächelte derart gewinnend, daß Anna, auch wenn sie selbst dem Mann nichts abgewinnen konnte, die Freundin plötzlich sehr gut begriff. Eingebildet und zu glatt, nicht meine Wellenlänge, hatte sie im Laufe des Morgens gedacht. Doch wenn er lächelte, wie eben jetzt ... Sein Gesicht war ebenmäßig, sein Mund klein und schmal, aber hübsch, seine großen, runden Lider wölbten sich über Augen von seltsam rauchigem Blau. Er streckte seine Beine von sich und dehnte die Arme, bis sie knackten. »Helen darling«, stöhnte er, »wir sind k. o. Ewgenia hat Oleg zu einem oppositionellen Dichter begleitet, über dessen Leben und Leiden Oleg schreiben möchte. Linde und ich sind durch Budapest gehetzt, wir haben sämtliche Schlüsselstellungen der Revolution abgeklappert, Kiliankaserne, Csepel, ... ich habe wie verrückt fotografiert und bin hundemüde.« Er gähnte, um zu demonstrieren, wie müde. »Schenja und Oleg haben sich hingelegt, Linde wollte unter die Dusche, ich nehme nur noch rasch einen Drink.« Als Helen sich nach einem Kellner umsah, wedelte er matt mit der Hand. »Vergiß es, keiner da, die haben grade Schichtwechsel. Sei froh, der Cognac ist schlechter Verschnitt, und im Kaffee ist mehr Malz als Bohne.« Anna, die an Helens Stuhl lehnte, trat von einem Fuß auf den anderen. »Kommst du? Wenn nicht, gib mir den Schlüssel, ich möchte aufs Zimmer.« – »Ich bleibe noch«, sagte Helen und reichte ihr den Schlüssel. Luis beobachtete sie lächelnd und stand auf. »So long Helen darling, ich muß jetzt nach oben«, schnurrte er. Mistvieh, dachte Anna. Es freut ihn, daß sie ihm nachläuft, und er lacht über sie. Sie drehte sich um und ging zum Aufzug, nur um diesen grenzdebilen Ausdruck der Anbetung auf Helens sonst so klugem Gesicht nicht mehr sehen zu müssen. »Wir könnten heute abend an einem Tisch sitzen«, hörte sie die Freundin den Spanier beschwören. »Ich meine wir alle, Linde und dein Freund und Ewgenia ... du weißt, heute abend, beim Dinner auf der Margareteninsel.« – »Wenn es sich ergibt«, antwortete Luis vage und gähnte noch einmal.

Jäher Wechsel zwischen Hochstimmung und Niedergeschlagenheit sei ein typisches Merkmal der Adoleszenz, pflegte Annas Patentante Nora zu behaupten. Sie mußte es wissen, sie war von Beruf Psychologin. Helen und Anna waren dem adoleszenten Stadium zwar entwachsen, aber an diesem Abend schienen sie in eine frühere Entwicklungsphase zurückzufallen, Noras These traf auf beide zu. »Ein widerlicher Schnösel ist er, dein Iberer«, wütete Anna, sobald sie die Zimmertür hinter sich zugeschlagen hatte. »Schlechte Manieren hat er. Und ein Sadist ist er. Es macht ihm Freude, dich zu quälen.« Als sie sah, daß Helen, die niedergeschlagen auf dem Bett saß, mit den Tränen kämpfte, war sie mit zwei Schritten an ihrer Seite. Sie legte den Arm um die Freundin und wiegte sie wie ein Kind. »Nicht traurig sein, Helen«, bat sie, »er ist es nicht wert. Weißt du was, wir machen uns jetzt teuflisch schön, du wirst auf der Margareteninsel auftauchen wie die Königin von Saba, Luis wird lange Zähne kriegen, und dann kannst du immer noch entscheiden, ob du ihm einen Tritt gibst, oder ob er dein König Salomon wird.« Helen wischte sich die Augen und versuchte ein Lächeln, das etwas schief geriet. Minuten später standen die Mädchen kichernd vor dem Badezimmerspiegel. »Noch mehr Grün, Helen, und tusch dir die Wimpern, daß sie rascheln, wenn du mit ihnen klimperst.« – »Zuviel?« – »Nein, verrucht ist gut, denk an dein Endziel.« – »Make-up?« – »Nur ja nicht! Das schmierst du ihm ins Sakko, wenn’s soweit ist, und wie der gebaut ist, nimmt er dir das übel.« – »Was ist mit dir Anna, schminkst du dich nicht?« – »Mach’ ich doch nie ... aber was, gib ihn her, deinen Malkasten, ich versuch’s ... nein, keine Farbe, nur Wimperntusche ... so. Und jetzt die Roben.«

Nicht auf einzelne Kleidungsstücke, sondern auf die Gesamterscheinung komme es an, hatte Annas Mutter gepredigt und Annas pubertäre Sehnsüchte nach mehrfach übereinandergetragenen Petticoats und spitzen Schuhen mit hohen Haken beizeiten eingebremst. Passende Kleidung erspare Peinlichkeiten, hatte sie unermüdlich wiederholt, und mit der Zeit hatte Anna den mütterlichen Stilbegriff übernommen. Unter der Prämisse >Weniger ist mehr< pflegte sie sorgfältig darüber nachzudenken, was zu welchem Anlaß passe. Sobald die Reise nach Budapest beschlossene Sache war, hatte Anna zu überlegen begonnen, was sie anziehen würde. »Lies lieber einen Reiseführer«, hatte Helen sie gerügt, es sich aber schließlich nicht verkneifen können zu fragen: »Also, was wirst du anziehen?« – »Das graue Kostüm mit der blau-weiß gestreiften Bluse für die Reise und das graue Flanellkleid mit dem weißen Pikeekragen für den Abend.« – »Warum trägst du immerzu Grau?« hatte Helen gefragt. »Weil’s mir steht. Und weil Grau immer paßt«, hatte Anna geantwortet.

Arm in Arm standen die Mädchen vor dem großen Wandspiegel. »Wir sind ein epochaler Anblick«, grinste Anna. Sie musterte Helen. »Du siehst toll aus«, sagte sie und meinte, was sie sagte. Helens etwas zur Üppigkeit neigende Figur kam in dem schmiegsamen schwarzen Jerseykleid vorteilhaft zur Geltung. Hübscher Busen, ausladende Hüften, die Beine zwar nicht lang, aber gut, mit schlanken Fesseln. Sie besaß den verletzlich wirkenden Teint der Rotblonden, ihr rundliches, eher unauffälliges Gesicht gewann durch Wimperntusche und Lidschatten, die das blaße Grün der Augen hoben. Anna nickte zufrieden. »Weißt du, was mein Vater sagen würde, wenn er dich so sehen könnte? Eine pikante Frau!« Helen lächelte froh.

»Dein weißer Kragen macht sich toll«, sagte sie. Nicht ganz ohne Neid betrachtete sie Annas kräftigen, langen Hals, das auffallende Gesicht und die schrägen, grauen Augen, die heute noch schräger wirkten, weil Anna ihr Haar an den Schläfen zurückgenommen und mit zwei Kämmen festgesteckt hatte. Das graue Kleid saß nicht zu straff und nicht zu lose, es betonte nicht, es deutete an: kleine hochsitzende Brüste, den flachen Bauch, schmale Hüften, das feste runde Gesäß, lange, gerade Beine. Anna selbst fand ihre Beine zu stämmig, weshalb sie sie im Sitzen so gut wie nie überkreuzte und im Stehen stets gleichmäßig belastete. Nora hatte einmal behauptet, Anna besäße die Figur und das Gebaren eines Mädchens, das sich Zeit läßt, eine Frau zu werden.

»Genug gegafft, wir müssen gehen«, entschied Anna. Sie griff nach dem persisch gemusterten Fransentuch, das sie Noras Garderobe entliehen hatte, warf es lässig über eine Schulter und lachte Helen zu: »Wir sind umwerfend, wir sind unbesiegbar, komm.« Als Helen den Aufzug rufen wollte, schüttelte Anna den Kopf. »Nix Maschinä, bittäschön. Denk an die Königin von Saba, wir schreiten, nein, wir schweben treppab.« Sie trugen die Köpfe hoch, Erwartung pochte in ihren Körpern, und in ihren Augen glänzte die Gewißheit, daß sie heute abend die Welt aus ihren Angeln heben würden. Und dann lief wieder alles schief.

In der Halle stand der Legationsrat und trat nervös von einem Bein auf das andere. »Er zappelt«, sagte Anna leise. Er eilte auf die Mädchen zu. »Meine Damen, Sie haben sich verspätet, der Bus ist bereits abgefahren ... nein, nein, keine Sorge, ich habe auf Sie gewartet, um Sie auf die Margareteninsel zu begleiten.« Er heftete seine Augen auf Helens Busen und brachte sie nicht wieder hoch. »Wir werden ein Taxi nehmen, Botschafter de la Chapelle wird ebenfalls mit uns kommen. Sie kennen ihn von der Konferenz, Miss Lindsay? Sonderbeauftragter der französischen Regierung, wichtiger Mann ... Nicht mehr der Jüngste, hat sich nach der Rundfahrt hingelegt und verschlafen.«

Der Botschafter nahm neben dem Fahrer Platz, der Legationsrat quetschte sich zwischen Anna und Helen auf den Rücksitz. In Linkskurven drückte er sein Knie gegen Annas, in Rechtskurven rieb er seinen Arm an Helens Busen. Rechtskurven schien er zu bevorzugen, er kostete sie aus. Von der Margareteninsel sah man so gut wie nichts, denn als sie ankamen, war es Nacht. Das Innere des Restaurants war dunkel getäfelt, es roch leicht nach Moder, stark nach Zwiebel und schwer nach Schnaps. Alle Tische waren für die Reisegesellschaft aus Wien reserviert. Trotz des schummrigen Kerzenlichts erfaßten Helen und Anna die Lage mit einem Blick: Mendez, Kurakin, Linde und die Schischkina in trautem Gespräch in einer Nische, in der selbst bei gutem Willen keine weitere Person Platz gefunden hätte. Der Legationsrat meckerte selig. »Die Letzten werden die Ersten sein. Ein Glück, daß wir verspätet sind, Exzellenz, so haben wir die schönsten Frauen des Abends für uns.« Er steuerte einen Tisch neben einem infernalisch beheizten eisernen Öfchen an. »Shit«, flüsterte Helen. »Trag es mit Fassung«, murmelte Anna.

Halászlé, die Fischsuppe, pörkölt das Gulasch, zuckersüßer Tokajer und barack pálinka, feuriger Marillenschnaps aus Kecskemét, von dem Anna in der vergeblichen Hoffnung nahm, er werde die schweren Schwaden in ihrem Kopf lichten. Das Kerzenlicht flackerte über die bunten Tischtücher und glänzte auf Kurakins Glatze. Der Russe hatte nicht ein einziges Mal in ihre Richtung geblickt. Er sprach mit Linde, lachte sie an, beugte sich vor, um ihr Feuer zu geben, sein Kopf war dem von Linde bedenklich nah, Anna hatte es genau gesehen.

»Kennen Sie den Mann mit dem kahlen Kopf?« fragte sie den Botschafter. Er sah sich um. »Sie meinen Oleg Kurakin? Eine eindrucksvolle Erscheinung.« – »Och«, machte Anna, der Franzose lächelte. Er sei mit Kurakin nur flüchtig bekannt, soviel er wisse, seien Kurakins Großeltern 1918, bald nach der Oktoberrevolution, mit Oleg von Moskau nach Paris geflohen. Anna riß die Augen auf. »Was, so alt ist er schon?« Wieder lächelte der alte Herr. »Er war damals noch ein kleines Kind, er dürfte jetzt an die Fünfzig sein.« – »Also ist er in Frankreich zu Hause?« wollte Anna wissen. De la Chapelle schüttelte den Kopf. Er meine sich zu erinnern, daß Kurakin Schweizer Staatsbürger sei, doch ja, seit Kurakin vor etlichen Jahren diese Schweizer Erbin geheiratet habe. Die Verbindung sei damals Tagesgespräch in Paris gewesen. Der Botschafter beobachtete Anna. »Sie interessieren sich für Monsieur Kurakin, Mademoiselle?« fragte er listig. »Nein«, sagte Anna um eine Idee zu heftig und fügte, um jeden Verdacht des Diplomaten zu ersticken, ein schnippisches »nicht für den Mann, nur für die Glatze« hinzu.

Die Stimmung im Restaurant hatte sich verändert, noch ehe die Zigeuner auftauchten. Das gepflegte Gemurmel war einem mit lautem Lachen und Gläserklirren versetzten Stimmengewirr gewichen, die Leute hatten rote Köpfe. »Was habe ich gesagt, es wird ein Mullatschag«, strahlte der Legationsrat und versuchte dem Botschafter zu erklären, daß mulatság eine in der ungarischen Tiefebene geborene, in gemilderter Form in Wien als Mullatschag übernommene Art von zügellosem Fest sei. »Bitte mich nicht mißzuverstehen, Exzellenz, zügellos nur, was Wein, Musik und Tanz betrifft.« Er kicherte. »Seine Hand ist schon an meinem Strumpfband«, flüsterte Helen Anna verstohlen zu. Der Legationsrat war auch sonst nicht mehr zu bremsen. Er habe von 1957 bis 1960 an der österreichischen Botschaft in Budapest gedient, sprudelte er, eine düstere Zeit, in der Tat, und doch auch eine feurige, die Ungarn hätten Feuer im Blut, ein Feuer, das ansteckend sei, das hier in der Luft liege, das früher oder später jeden erfasse. Er sprang auf, schwenkte sein Schnapsglas und rief, ehe er es kippte, »ägeschegädre, Gesundheit!« in den Raum. Im nächsten Augenblick erschienen die Zigeuner.

Sie waren zu dritt. Sie trugen eine auf Folklore getrimmte Tracht, die nicht zu ihnen paßte. Sie legten ihre Geigen mit einer Zärtlichkeit, die etwas Erotisches an sich hatte, an die Wangen; und wenn sie mit geschlossenen Augen und wiegenden Körpern fiedelten, war es ein Liebesakt. Sie gingen von Tisch zu Tisch. Wo sie hinkamen, verstummte jedes Gespräch. Der Rhythmus holte sich die Leute, er verführte selbst die in steifer Würde befangenen Diplomaten, er ließ ihre Schultern unbeholfen zucken und ihre Füße zaghaft wippen. Anna hatte die Augen geschlossen, sie sah bunte Kreise und fühlte sich schwindlig. Ein langgezogener dunkler Geigenton vibrierte dicht an ihrem Ohr, sie sah auf und direkt in die Augen des Zigeunerprimas.

Er stand über sie gebeugt, ließ seine Geige um sie tanzen, kreiste sie ein mit seiner Fremdartigkeit und seiner Musikalität. Anna fühlte sich gleichzeitig bedrängt und hingerissen. Jedermann im Raum sah herüber, sah, wie der dunkle Mann mit seinen Tönen um sie warb, nur Kurakin sah es nicht. Sein Stuhl war leer, war er schon gegangen? Die beiden anderen Zigeuner hatten sich dem Reigen ihres Primas angeschlossen, sie umringten Anna bis sie nichts mehr wahrnahm als fliegende, weiße Ärmel, braune Arme und dunkle Hände, die mit unglaublicher Schnelligkeit und Grazie die Geigenbogen auf- und niederfliegen ließen. Mit einem schrillen Ton brach die Musik ab. Die Reisegesellschaft war außer Rand und Band geraten, die Leute applaudierten und trampelten und schrien »bravo«. Die Zigeuner standen vor Anna, verneigten sich nur vor ihr und verschwanden.

»Sie haben für dich gespielt«, sagte Helen halb verwundert, halb stolz. »Eine Huldigung an Ihre Schönheit, Mademoiselle«, lächelte Monsieur de la Chapelle. »Helen darling, Euer Tisch war das Zentrum des Abends, hier war action!« Luis hatte Linde und die Schischkina verlassen, war herübergekommen und traf Anstalten, sich neben Helen niederzulassen. »Du siehst heute umwerfend aus, junge Frau«, schmeichelte er und winkte dem Kellner. »Barack, please!« Der Legationsrat, der keineswegs gewillt war, auf gewonnenes Terrain zu verzichten, sah ihn böse an. »Trinken Sie nichts mehr, Helen, der Schnaps ist stark«, sagte er und legte seinen Arm in Besitzermanier um ihre Schulter. »Im übrigen ist der Bus bereits vorgefahren.« Helen ließ ihre grünen Augen schläfrig zwischen den beiden Männern hin- und hergleiten. »Sie haben recht«, sagte sie, stand auf und stützte sich, als sie leicht schwankte, auf den Arm des Legationsrats. Sie macht sich, dachte Anna.

Der Bus hielt vor dem Gellert. »Anna, wir sind da«, sagte Helen. Anna hatte darauf bestanden, in der letzten Reihe zu sitzen. »Weil’s so schön schaukelt«, hatte sie gesagt, und Helen war ihr, mit Luis und dem Legationsrat im Schlepptau, gefolgt. Im Licht der spärlichen Straßenbeleuchtung war nicht viel zu erkennen gewesen, einmal hatte Anna geglaubt, es sei Kurakins Schädel, der irgendwo vorn in den ersten Reihen glänzte. »Aber der ist ja gar nicht mehr da«, hatte sie genuschelt und war weggedöst. »Anna, wach auf, wir sind da.« Helen rüttelte sie. Sie waren die letzten, die aus dem Bus kletterten. Der Legationsrat und Luis warteten in der Halle. »Noch einen Drink in der Bar«, sagte Luis, sein Rivale ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß er, sollte Helen das Angebot annehmen, mit von der Partie sein würde. »Ich bin müde, ich geh’ schlafen«, murmelte Anna. Helen zog sie beiseite. »Nicht jetzt, Anna-Mäuschen, bitte! Nur eine halbe Stunde noch, bis dahin weiß ich, wie der Hase läuft.« — »Welcher Hase?« fragte Anna verschlafen und folgte Helen und ihren Anbetern in die Bar. Augenblicke später saß sie neben Kurakin.

Sie hatten zwei Tische zusammengeschoben und die abgenützten Plüschfauteuils rundum gruppiert: De la Chapelle, Ewgenia, Linde, Kurakin und zwei Engländer. »Macht Platz, ihr kriegt Verstärkung«, hatte Luis gerufen und damit ein heftiges Sesselrücken ausgelöst. »Kommen Sie, Mademoiselle Clarin, hierher, neben Monsieur Kurakin, Sie wollten doch Verschiedenes über ihn wissen«, hatte der Botschafter ihr zugerufen. Anna hätte ihn gerne erwürgt. Wer hatte die Bemerkung gehört — einer der Engländer, der mit der imposanten Hakennase, den Helen als Einstein des internationalen Rechts bezeichnet hatte, weil er trotz seiner Jugend bereits Professor in Oxford war? Einstein kaute an seiner Pfeife und lächelte. Hatte er’s gehört? Wer hatte es sonst noch gehört? Mit Sicherheit Ewgenia und Linde, beide hatten ihr Blicke zugeschossen und rasch wieder weggesehen. Und Kurakin? Wortlos hatte er ihr einen Stuhl neben dem seinen zurecht geschoben, in den sie wortlos geplumpst war. Da saß sie nun und wünschte sich über alle Berge.

Der Russe setzte seine Unterhaltung mit dem Botschafter fort, ohne von Anna Notiz zu nehmen. Ihr Unbehagen verebbte. »Was darf ich Ihnen bestellen, Mademoiselle Clarin«, fragte er nach einer Weile. »Danke, gar nichts«, sagte Anna. Kurakin winkte dem Ober und bestellte türkischen Kaffee. Als das Kännchen vor ihm stand, schenkte er ein und schob die Tasse vor Anna hin. »Trinken Sie.« Die fürsorgliche Geste geschah so beiläufig, daß niemand sie zu bemerken schien. Anna fühlte sich geborgen neben Kurakin. Wie unter einer Tarnkappe, dachte sie und betrachtete seine große gutgeformte Hand, die, dicht neben ihr, locker auf der Lehne seines Stuhls lag. Es schien, als hätte er ihren Blick gefühlt, denn seine Hand reagierte. Sie schloß sich krampfhaft um die Lehne, ließ los, durchsuchte fahrig eine Rocktasche, tauchte mit einem Feuerzeug auf und fand erst wieder Ruhe, als sie eine Zigarette hielt. Anna schmunzelte und seufzte zufrieden. Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück und lauschte Kurakins tiefer angenehmer Stimme, Helens aufgeregtem Lachen, dem vielsprachigen Stimmengewirr um den Tisch. Sie wurde wieder müde, angenehm müde, gähnte mehrmals verstohlen und dann so hemmungslos, daß ihre Augen zu schwimmen begannen. Ehe sie wieder klar sah, spürte sie seine Hand an der ihren und hörte ihn sagen: »Kommen Sie, Anna Clarin, wir gehen noch ein wenig an die Luft.«

Die lautlose Plötzlichkeit, mit der Kurakin sich bewegte, war Anna schon am Morgen aufgefallen. Sie hatte sie als beunruhigend empfunden. Nun verschlug sie ihr den Atem. Eben war er noch gesessen, jetzt stand er vor ihr, zog sie mit einer Hand hoch und griff mit der anderen nach Noras Perserschal. »Bis später«, sagte er vage, nickte den Anwesenden zu und zwang Anna durch eine leichte Drehung seiner Hand, sich umzuwenden und, nach einem Schubs in ihren Rücken, vor ihm die Bar zu verlassen.

Wie alles, was Kurakin tat, hatte auch dieser Vorgang eine Kühnheit, der Anna sich widerstandslos ergab. In der Halle hatte er sie an der Hand gefaßt, hatte das Hotel im Laufschritt verlassen, hatte sie mit sich über die dunkle, leere Straße hinüber zur Donau gezogen. Erst als sie die Uferpromenade erreicht hatten, blieb er stehen. Er ließ Annas Hand aus der seinen gleiten, machte einen Schritt von ihr weg und sah auf den Fluß. Sein Atem ging schnell. Anna war hellwach und gespannt, was geschehen würde. Zunächst geschah nichts. Bewegungslos stand der mächtige Mann neben ihr. Er atmete ruhiger, aber er sprach kein Wort. Anna blickte die menschenleere Promenade auf und ab, sie betrachtete den schwarzen Fluß, in dem sich das Licht einiger weniger Laternen spiegelte, sie sah zum mondlosen Himmel auf und wußte, wenn jetzt nicht bald etwas geschah, würde sie aus Nervosität zu kichern beginnen. »Wie die Sterne glitzern«, sagte sie, »ganz hell und kalt.« Kurakin sah immer noch gradeaus, aber seine Starre wich, er begann zu sprechen. »›... unglücksel’ge Sterne, die ihr schön seid und so herrlich scheinet‹ ... Kennen Sie dieses Gedicht?« Anna kannte es nicht, sie schwieg. »Goethe. Wissen Sie, warum er die Sterne unglückselig nannte, wissen Sie es, Anna Clarin?« Lautlos wie eine Riesenkatze hatte er sich ihr zugewandt. »Denn ihr liebt nicht, kanntet nie die Liebe!« Er sprach die Worte mit einer Heftigkeit, als hätte er Anna etwas vorzuwerfen. Das Licht der müden Laternen beleuchtete sein Gesicht. Löwenaugen, dachte Anna wieder und starrte wie hypnotisiert in die gelben Lichter. Plötzlich lachte Kurakin auf. »Ich habe dich erschreckt«, sagte er, und als sie nichts erwiderte: »Ist dir kalt?« Er legte ihr Noras Fransentuch um die Schultern, schlang es einmal um ihren Hals und trat wieder von ihr weg. »Komm, wir gehen bis zur Brücke«, sagte er.

Die Stadt sah aus wie eine in vielerlei Schwarz gemalte Theaterkulisse: Purpurschwarz für Buda, Ebenholzschwarz für Pest, die Kettenbrücke glich einer Tuschzeichnung, welche sich von der silbrigen Schwärze des Flusses kaum, wohl aber vom Mitternachtsblau des Himmels abhob. Das Licht der Sterne irisierte nicht, es blieb punktförmig, in sich geschlossen. Stecknadelköpfe. Die Luft war nicht besonders kalt, aber feucht. Es roch nach frühem, erdigem Frühling. »Ich habe heute einen ungarischen Dichter besucht«, sagte Kurakin. Er hatte seine Hände in die Rocktaschen vergraben und machte lange Schritte. »Eine tragische Figur.« Er schien auf eine Reaktion Annas zu warten, aber Anna gab keine Antwort, sie war damit beschäftigt, sich seiner Gangart anzupassen. Sie haßte es, sich unbeholfen zu bewegen, weshalb sie sich darauf konzentrierte, einen Rhythmus mit Kurakin zu finden. Sie tat ein paar ungleiche Sätze, zappelte ein bißchen und schaffte es schließlich mit Hilfe eines Wechselschritts. Aber die Gelegenheit, ein Gespräch zu beginnen, war vertan, der Mann an Annas Seite war in einen Monolog verfallen.

»Gibt es etwas Tragischeres als einen Dichter, der weder gelesen noch gehört werden darf? Ein Mann von Vierzig mit hängendem Schnurrbart, hängenden Schultern, hängenden Wangen. Einer, der mit der intellektuellen Jugend sympathisierte und mit der Revolution kokettierte und, als es soweit war, nicht den Mut hatte, an der Seite der Jungen, die er so liebte, zu kämpfen. Vielleicht beneidete er sie mehr um ihren Mut, als er sie ihres Mutes wegen liebte, vielleicht ließ er sie deshalb im Stich?« Kurakin blieb einen Augenblick stehen, als wolle er überdenken, was er gesagt hatte. Anna hätte gerne einen griffigen Satz eingeworfen, aber es fiel ihr keiner ein. Kurakin schien ihre Anwesenheit vergessen zu haben. Er schritt wieder aus und spann seine Gedanken fort. »Zu feig für den Kampf, zu feig für die Flucht. Wer von den Aktivisten überlebt hatte, versuchte nach dem Scheitern der Revolution über die Grenze nach Österreich zu entkommen. Und was tat mein Dichter? Blieb wieder auf halbem Wege stehen. Sah, was auf ihn zukam, und blieb. Man sperrte ihn ein. Nach zwei Jahren Gefängnis ließ man ihn frei, weil er im Grunde ein kleiner Fisch war. Was für ein Schicksal, Großes wollen und ein kleiner Fisch bleiben. Man hat ihn unter der Bedingung entlassen, daß er sich in Hinkunft weder über die Ereignisse der Vergangenheit noch über gegenwärtige politische Zustände äußere. Keine Auftritte bei öffentlichen oder privaten Zusammenkünften, keine Interviews, keine Artikel im In- oder Ausland, strenge Zensur seines literarischen Werkes. Der Mann ist ein lebend Begrabener.«

Die Kettenbrücke lag dicht vor ihnen. Annas Schuh drückte, und ihre Geduld war am Ende. Der Spaziergang verlief so gänzlich anders, als sie erwartet hatte. Sie hätte gern geflirtet oder, wenn schon das nicht, wenigstens etwas über Kurakin erfahren. Statt dessen rannte sie mitten in der Nacht hinter ihm her und mußte sich die Lebensgeschichte irgendeines Ungarn anhören, an dem sie nicht im geringsten interessiert war. »Wenn es für den Mann gefährlich ist, über die Zustände hier zu sprechen, dürfen Sie nicht über ihn schreiben. Weshalb sind Sie überhaupt hingegangen? « fragte sie patzig.

Kurakin sah sie an, lächelte, sah wieder weg. »Warum, ja warum, Anna Clarin? Ich habe in den letzten Stunden manches getan, wofür ich keine Erklärung weiß. Vielleicht war ich auf der Flucht? Sie müssen wissen, ich liebe meine Freiheit über alles... « Er brach ab. »Kommen Sie, wir kehren um, es ist spät.« Schweigend gingen sie in die entgegengesetzte Richtung. Anna war irritiert. Sie wußte mit diesem Mann nicht umzugehen, weil sie ihn nicht verstand. Er verpaßte ihr emotionelle Wechselbäder am laufenden Band und brachte ihre Sicherheit ins Wanken. In ihrem müden Kopf wirbelten die Eindrücke des Tages, Bruchstücke von Kurakins Erzählung und seine kryptischen Bemerkungen durcheinander. Wieso Flucht, dachte sie plötzlich, vor wem muß er fliehen, Jesus, am Ende ist er gar kein Journalist, sondern Agent. »Wer bedroht Ihre Freiheit, vor wem sind Sie auf der Flucht?« fragte sie streng.

Es war zu dunkel, als daß sie sein Gesicht hätte sehen können, aber es hörte sich an, als ob Kurakin lachte. »Frei«, sagte er nach einer Weile, »was heißt frei? Bin ich frei? Bist du frei? Die Geschichte der Freiheit ist die Geschichte des Widerspruchs. Ein guter Satz, nicht von mir, sondern von Woodrow Wilson.« Er weicht aus, dachte Anna, er redet und redet, um nicht über sich reden zu müssen. »Weißt du, wer Petöfi war?« fragte Kurakin. Anna knirschte mit den Zähnen. »Aber sicher«, antwortete sie schnippisch. »Ich habe Matura und studiere Jus im vierten Semester. Petöfi Sándor, ungarischer Nationalheld, Dichter und Freiheitskämpfer, 1848, nein, 1849 gefallen.« Ihr Ärger wuchs, als sie merkte, daß seine Frage eine rhetorische gewesen war, Kurakin hatte keine Antwort erwartet, er sprach nicht zu ihr, er sprach zu sich selbst. »Sándor Petöfi, Sohn eines Fleischhauers aus der ungarischen Tiefebene ... wenn man bedenkt, was dieser körperlich schwache Mann mit den romantischen Augen in den lächerlichen sechsundzwanzig Jahren seines Lebens getan und bewirkt hat. Schauspieler, Soldat, Journalist, gefeierter Dichter und glühender Patriot ist er gewesen. Seine Lieder waren es, die in den Menschen die Sehnsucht nach Freiheit weckten, er hat die Pester Jugend zur Revolution geführt ... und dann hatte er die Gnade, das Scheitern seiner Ziele nicht erleben zu müssen, er durfte für seine Ideale fallen.« Pathetischer Schwachsinn, dachte Anna. Ein Steinchen war in ihren Schuh gerutscht, sie versuchte es mit der großen Zehe in eine schmerzfreie Position zu manövrieren, während Kurakin seine Gedanken weiterspann. »Wahrscheinlich hat mein trauriger Dichter von heute nachmittag davon geträumt, ein Petöfi des zwanzigsten Jahrhunderts zu werden, ein Gedicht wie Petöfis Auf, Magyare! zu schreiben, ein Gedicht mit genügend Explosionskraft, um eine Revolution anzuzetteln. Aber mein Dichter ist Prosaist. Prosa setzt Dinge in Bewegung, Lyrik reißt hin. Wahrscheinlich muß man Lyriker sein, um Feuer zu entzünden. Lyriker oder Musiker ... Zigeuner vielleicht.« Bei dem Wort >Zigeuner< horchte Anna auf. »Zigeuner sind Brandstifter«, fuhr Kurakin fort, seine Stimme war leiser und träger geworden. »Sie entzünden Feuer in Mädchenaugen.«

Anna hatte sich eben bücken und ihren Schuh ausziehen wollen, um das lästige Steinchen zu entfernen, das sie unter ihrer Ferse spürte, aber sie verschob es auf später. Endlich ein Thema, das sie betraf, die Brandstifter waren auf sie gemünzt, hatte Kurakin etwa doch gesehen, daß die Zigeuner nur für sie spielten?

Er war stehengeblieben, nahm sie bei den Schultern und zog sie näher zu sich. Das Steinchen rutschte unter Annas Spann und war kaum mehr zu spüren. »Ich habe es gesehen«, sagte Kurakin. »Ich bin vor dem Restaurant auf und ab gegangen, um nachzudenken. Als ich wieder eintrat, haben die Zigeuner für dich zu spielen begonnen. Ich bin an der Tür gestanden und habe gesehen, wie sie dich umringten, wie sie dich mit ihrer Musik bedrängten, bis du dich ihr ergabst, wie deine Augen zu schwimmen begannen. Du warst schön, Anna Clarin.« Er griff nach Annas Fransentuch, ließ es von ihren Schultern gleiten und drapierte es eng um ihr Gesicht, als wäre es ein Nonnenschleier. Seine Augen waren dunkel, sein Mund war nah. Annas Herz pochte laut und schwer, ihre Wangen waren heiß, ihre Hände kalt und ihre Knie gaben nach. Jetzt, dachte sie und schloß die Augen. Kurakin streifte das Tuch von ihrem Haar, nahm ihr Gesicht in beide Hände und zog sie noch näher zu sich. Anna kippte ihm entgegen, im selben Augenblick verrutschte das Steinchen, seine Spitze bohrte sich in Annas Zehenballen. Sie zuckte und stieß einen leisen Schmerzenslaut aus. Beides war kontraproduktiv. Kurakin ließ sie augenblicklich los, Anna stotterte ein verlegenes »Entschuldigen Sie«, schlüpfte aus dem Schuh und schüttelte den Stein heraus. Als sie sich wieder aufgerichtet hatte und zu Kurakin aufsah, wußte sie: Der Zauber war dahin, die Gelegenheit vorüber. Mit einer Zärtlichkeit, die Anna väterlich schien, lächelte er auf sie nieder. »Kommen Sie, ich bringe Sie ins Hotel, es ist spät geworden«, sagte er.

Anna hatte nicht bemerkt, wie nah das Gellert war, ein paar Schritte über die Straße und sie waren da. Die Halle war menschenleer, in der Bar hatte man die Lichter gelöscht, der Rezeptionist döste in seinem Verschlag. Als Anna nach dem Zimmerschlüssel verlangte, schreckte er auf. Fräulein Lindsay habe sich bereits zurückgezogen, Fräulein Lindsay lasse bestellen, Fräulein Clarin möge, sobald sie wieder im Hotel sei, gleich nach oben kommen. Anna kam sich vor wie ein gescholtenes Kind. Sie ging zum Aufzug, der Fahrstuhlführer war nirgends zu sehen, Kurakin hielt die Tür für sie auf. Er ließ sie einsteigen, aber er folgte ihr nicht. »Was ist, kommen Sie nicht mit?« fragte Anna und ärgerte sich augenblicklich über ihre Frage, sie war plump gewesen, aufdringlich und plump. Weshalb ließ ihr Instinkt sie ausgerechnet bei diesem Mann im Stich? »Ich gehe, wenn Sie gestatten, noch etwas spazieren«, sagte er und seine Stimme klang kühl. »Ich danke Ihnen für diesen außergewöhnlichen Abend und wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Er verbeugte sich übertrieben tief, drehte sich um und verließ das Hotel.

Und jetzt noch Helen, dachte Anna und fragte sich, wie sie das Kreuzverhör der Freundin überstehen würde. Sie war plötzlich hundemüde, leer vor Müdigkeit. Leise drückte sie die Klinke nieder, die Tür war nicht versperrt, eine kleine Lampe brannte. Gottlob, Helen schlief. Anna schlich ins Badezimmer. Himmlische Mutter, wie sie aussah! Ihr Haar hatte sich in der feuchten Nachtluft geringelt, sie war blaß, die Wimperntusche hatte sich verschmiert ... Und wenn schon. Sie beugte sich vor, bis ihr Gesicht dicht am Spiegel war, so dicht wie vorhin an Kurakins. »Was werden Sie mit diesem Gesicht in Budapest anstellen?« hatte er am Morgen gesagt. Viel war ihr damit nicht gelungen, oder doch? »Du warst schön, Anna Clarin«, hatte er gesagt, und das war noch keine Stunde her. »Anna Clarin ...«, dabei vibrierte seine Stimme so, daß sie die Gänsehaut kriegte. Der Vater behauptete, Gänsehaut entstehe durch Erregung.

»Was für ein Abend«, sagte Anna halblaut und schon gar nicht mehr unzufrieden mit sich und der Welt. Sie wischte den Rest von Zahnpasta in eines von Helens unbenützten Handtüchern und öffnete leise die Tür.

Auf Zehenspitzen schlich sie zu der Lampe, die Helen hatte brennen lassen und maß, ehe sie sie löschte, mit den Augen die Entfernung zu ihrem Bett. Da erst sah sie etwas auf ihrem Kopfpolster liegen. Es war ein Zettel. Sie holte ihn und hielt ihn unters Licht. Von Helen. Drei große, mit Lippenstift gemalte Fragezeichen.

Kurakin

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