Читать книгу Der Katzenschatz - Hanna Nolden, Lea Baumgart - Страница 4

Kapitel 1

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„Jonas!“

Widerwillig machte Jonas die Augen auf. Das Hämmern an der Tür war unerträglich. Sogar die Ratten waren davon wach geworden. Und das, obwohl sie in der Nacht wieder eine ihrer Partys gefeiert hatten.

„Ich hab Ferien“, maulte er.

„Du kannst dir einen Zehner verdienen“, trällerte seine Mutter mit süßlicher Stimme. Jonas schnitt eine Grimasse und setzte sich auf. Er gähnte und fuhr sich durch die wirren braunen Haare. Er hörte das Knarren der Treppenstufen und wusste, dass seine Mutter ihren Posten verlassen hatte, jetzt, da sie ihn erfolgreich geweckt hatte. Einen Augenblick lang blieb Jonas noch auf der Kante des Bettes sitzen. Dann begrüßte er seine Ratten, die ihre kleinen Nasen durch die Gitterstäbe schoben und an seinen Fingern schnüffelten, als ob sie auf Leckereien hofften.

„Guten Morgen, William. Guten Morgen, Ignatio! Legt euch ruhig wieder hin. Nachher gibt's was Feines.“

Unten am Frühstückstisch trug seine Mutter blendende Laune zur Schau. Sie sang bei einem Lied im Radio mit, während sie French Toast in einer Pfanne brutzelte, und so tat, als hätte sie ihre Weckattacke längst vergessen. Erst als sie Jonas das Essen servierte und ihn anstrahlte, hatte er die Gelegenheit, sie zu fragen, worum es bei diesem plötzlichen Geldangebot eigentlich ging.

„Frau Rigby ist krank. Sie hat mich gebeten, für sie einkaufen zu gehen und ihre Katzen zu füttern. Aber wir bekommen heute in der Galerie eine Lieferung. Daher kann ich leider nicht.“

Jonas riss die Augen auf.

„Die Katzenfrau?“ Er erschauderte unwillkürlich. „No way! Das ist es nicht wert.“

„Jonas“, versuchte seine Mutter es liebevoll, aber er fiel ihr ins Wort: „Ich bin allergisch auf Katzen.“

„Du bildest dir ein, gegen Katzen allergisch zu sein“, korrigierte sie.

Die Wahrheit war: Jonas mochte keine Katzen. Und die Katzenfrau war ihm unheimlich.

„Du kannst ja Tabea mitnehmen“, schlug seine Mutter vor. „Tabea mag Katzen. Wolltet ihr euch heute nicht sowieso treffen?“

Ihm entging nicht, wie deutlich und betont seine Mutter den Namen seiner besten Freundin aussprach, und er musste sich auf die Zunge beißen, um sie nicht zu verbessern. Das war ohnehin vergebene Liebesmüh. Tabea war Visu, aber das irgendeinem Elternteil oder Lehrer zu erklären, hatte sie aufgegeben. Jonas selbst sah darüber hinweg. Ihn interessierte japanische Popmusik nicht im Geringsten, und an Tabeas auffälliger Kleidung und ihren ständig neuen Haarfarben und Frisuren hatte er sich derart satt gesehen, dass es ihm gar nicht mehr auffiel. Allerdings hielt er sich daran, sie Delilah zu nennen, wie sie es sich gewünscht hatte.

Jonas sah auf die Uhr. Seine Freundin hatte von 10 – 18 Uhr Internetverbot. Ein großer Teil der Visu- bzw. Visual Kei-Szene spielte sich online ab. Delilahs Mutter sorgte daher dafür, ihre Tochter regelmäßig aus dem Haus zu jagen. Anziehen und Schminken würden aber auch noch einmal eine Stunde in Anspruch nehmen. Zeit genug für ihn, in Ruhe zu frühstücken und duschen zu gehen.

„In Ordnung“, sagte er also. „Ich mach's. Wenn Delilah hier ist.“

Seine Mutter grinste ihn an. „Danke, mein Schatz. Dann bestell Frau Rigby einen schönen Gruß von mir. Ich mach mich jetzt fertig.“

Typisch. Seine Mutter hatte bekommen, was sie wollte. Jetzt ließ sie ihn allein, um sich ihrerseits für den Alltag aufzubrezeln – ganz so, wie Delilah es tat. Bloß eben auf Erwachsenenart.

Jonas hatte bereits geduscht und den Abwasch erledigt, als Delilah klingelte. Schnell versuchte er, etwas Ordnung in sein dichtes Haar zu bringen, aber nach ein paar Mal Drüberstreichen richtete es sich prompt wieder auf. Er seufzte und fragte sich kurz, warum er sich überhaupt die Mühe machte. Delilah allerdings hatte sich Mühe gegeben. Sie trug einen schwarzen Haarreif mit weißen Punkten und einem roten Schleifchen in ihrem schulterlangen, derzeit pinkfarbenen Haar. Dazu ein rot-schwarz gestreiftes, langärmeliges Oberteil und einen schwarzen Faltenrock.

„Süß siehst du aus“, sagte er und versuchte, beiläufig zu klingen, aber nachdem er sie so lange gemustert hatte, wirkte das unecht. Sie lächelte leicht und beugte sich zu ihm vor, wie um ihn zu umarmen oder ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Aber dann zuckte sie plötzlich zurück und richtete sich wieder auf. Jonas lächelte verlegen und tat so, als hätte er nichts bemerkt. Sie waren befreundet, seit sie sieben waren, aber in letzter Zeit war alles manchmal ein bisschen seltsam zwischen ihnen. Delilah hatte Brüste bekommen, die sie mit ihren Visu-Kleidern perfekt in Szene setzte. Und Jonas selbst hatte feststellen müssen, dass ihn diese Brüste längst nicht mehr kalt ließen.

Seine Mutter störte den leicht peinlichen Moment. „Hallo Tabea!“

Delilah verzog säuerlich das Gesicht. Jonas' Mutter hingegen strahlte sie an. Sie wusste ganz genau, dass Delilah es nicht mochte, Tabea genannt zu werden.

„Hat Jonas dir schon von eurem Auftrag erzählt?“

Delilah sah ihn fragend an.

„Wir sollen für die Katzenfrau einkaufen“, verriet er mit rollenden Augen.

„Oh!“ Die Sonne ging auf in Delilahs Gesicht. Das lag wohl zum einen an den Katzen und zum anderen an der Möglichkeit, sich in der Öffentlichkeit eines Supermarkts zeigen zu dürfen. Delilah liebte das Getuschel der Omis.

„Dann lass uns gleich aufbrechen!“, rief sie.

Auf den Straßen war nicht viel los. Es waren Ferien, und die meisten Erwachsenen, die nicht gerade arbeiteten, waren mit ihren Kindern in den Urlaub gefahren. Delilah war heute wenig gesprächig. Sie tauschten bloß ein paar Belanglosigkeiten aus. Jonas kaute unentwegt an seiner Unterlippe Er war nervös wegen der Katzenfrau. Er wusste nicht genau, warum, aber die Frau war ihm unheimlich. Delilah hingegen zeigte keinerlei Nervosität. Manchmal glaubte Jonas, sie hatte vor gar nichts Angst. Vielleicht lag das an ihrer Kostümierung, die sie schützte. Wie eine Rüstung gegen die Welt. Jonas betrachtete seine Freundin heimlich. Sie lächelte vor sich hin und checkte die Bürgersteige, um doch noch ein paar entsetzte Blicke zu erhaschen. Noch vor einem oder zwei Jahren hatte sie ganz anders ausgesehen. Lange, nussbraune Haare hatte sie gehabt und sich auch noch nicht geschminkt. Da hatte er sie auch noch Tabea nennen dürfen. Sie hatte mit ihren Eltern und einigen Katzen in einem schönen Haus mit großem Garten gelebt. Aber ihr Vater war irgendwann ausgezogen. Über Nacht. Einfach weg. Und Tabea war mit ihrer Mutter in eine kleine Wohnung gezogen. Eine Sozialwohnung, denn Tabeas Mutter war arbeitslos. Katzen waren dort nicht erlaubt. J-Pop schon. So hatte alles angefangen. Tabea war in dem Haus mit dem Garten geblieben. Und hier kam Delilah und hatte vor nichts mehr Angst.

Sie blieben vor dem Haus von Frau Rigby stehen. Ein alter Jägerzaun, windschief und morsch, umgab einen verwilderten Garten. Zwei Katzen saßen auf der Türschwelle und sahen die nahenden Gäste an, als wären sie die Torwächter. Aus dem Haus war Radau zu vernehmen. Es wimmelte darin nur so vor Katzen, das wusste Jonas, der schon ein paar Mal mit seiner Mutter hier gewesen war. Es klang so, als würde ein regelrechter Krieg im Haus toben. Delilah schien davon nichts zu bemerken. Schon hatte sie die Pforte aufgeschoben und ging auf die beiden Katzen zu.

„Hallo ihr Schönen!“, sagte sie freundlich und ging in die Hocke. Die erste Katze, schneeweiß und bildschön, kam und schnüffelte an ihrer Hand, so wie die Ratten es am Morgen mit Jonas getan hatten. Sie maunzte leise und stieß Delilah mit dem Köpfchen an. Delilah strahlte. Sie öffnete die Hand und streichelte die Weiße, die sich gleich hinlegte, um sich noch ausgiebiger verwöhnen zu lassen. Die andere Katze, schwarz bis auf eine weiße Pfote, und struppig obendrein, rührte sich nicht. Sie starrte Jonas unverwandt an, als würde sie ihm misstrauen. Jonas bekam eine Gänsehaut. Oh ja! Er wusste schon, warum er Katzen nicht mochte!

„Die haben bestimmt Flöhe“, sagte er und setzte sich ruckartig in Bewegung, um zu klingeln. Delilah erwiderte nichts. Die Weiße schnurrte unter ihren liebkosenden Händen.

Auf das Klingeln folgte eine kurze Stille, dann ging der Radau weiter. Die Stimme der alten Frau Rigby mischte sich unter die der Katzen.

„Komm ja schon. Komm ja schon.“

Die Tür ging auf und da stand sie. Eine kleine alte Frau mit schlohweißen, wirren Haaren. Sie trug ein quietschgelbes Hauskleid mit weißen Blümchen darauf und darüber eine fadenscheinige, weiße Schürze mit tiefen, ausgebeulten Taschen. Frau Rigby musterte Jonas so skeptisch, wie die schwarze Katze es zuvor getan hatte. Delilah schien sie gar nicht zu bemerken. Die alte Dame war allerdings auch ziemlich kurzsichtig, und schwerhörig obendrein.

„Jonas“, sagte sie. „Hallo! Deine Mutter hat schon angekündigt, dass du wohl kommen würdest.“

Sie nahm eine Liste und ein paar Geldscheine aus ihrer Schürze und drückte sie Jonas in die Hand.

„Hier ist die Liste und hier ist das Geld.“

Dann machte sie auf dem Absatz kehrt, ging wieder ins Haus und schlug die Tür zu, so heftig, dass Jonas zusammenzuckte.

„War's das schon?“, fragte Delilah verwundert und kam langsam in die Höhe. Jonas zuckte die Achseln. „Offenbar.“

Delilah stöhnte, als sie beide mit Tüten beladen vom Supermarkt zurückkamen. Das größte Gewicht hatten die Dosen mit dem Katzenfutter. Jonas fragte sich, warum die Alte sich das Zeug nicht liefern ließ. Er selbst bestellte das Stroh und das Knabberzeug für seine Ratten im Internet. Klar, auf den Namen seines Vaters – aber die Rigby hatte doch gewiss ein Bankkonto. Aber nein, obwohl sie schlecht zu Fuß war und immer andere einspringen mussten, holte sie das Futter beim Supermarkt – der, nebenbei bemerkt, auch einen Lieferdienst hatte. So führte die gut gemeinte Nachbarschaftshilfe von Jonas’ Mutter und anderen zu einer zunehmenden Abhängigkeit der Frau und verhinderte ihre Selbstständigkeit und ihr Ankommen in der Gegenwart. Jonas grinste. Das hätte sich im Ethikunterricht bestimmt gut gemacht. Aber jetzt waren ja Ferien. Er beschleunigte seinen Gang.

„Komm schon, De – wir haben es ja gleich geschafft.“

Er stieß die Gartenpforte mit dem Knie auf. Auf dem Absatz vor der Haustür saßen wieder die beiden Katzen. Die Weiße maunzte freundlich in Delilahs Richtung zur Begrüßung. Die Schwarze starrte Jonas nur wieder misstrauisch an. Darauf schien sie sich der Weißen zuzuwenden und ihr etwas zu sagen. So klang es zumindest. Dann setzten sich beide Katzen in Bewegung und verschwanden durch die Katzenklappe ins Haus. Drinnen verstummte der Lärm und nur wenige Sekunden später ging die Tür auf. Frau Rigby stand dort und beäugte sie mit gerunzelter Stirn. Jonas bekam erneut eine Gänsehaut. Delilah ließ die Taschen sinken.

„Kommt rein, Kinder. Ich habe euch Limonade gemacht.“

Jonas konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen. Limonade machen – schon wieder so ein altmodisches Zeug! Wer machte denn schon selber Limonade? Trotzdem: Durst hatte er. Er durchquerte hinter Delilah und Frau Rigby das Wohnzimmer. Überall saßen Katzen, aber sie schwiegen alle, starrten ihn an und ihm wurde trotz der Hitze eiskalt. Sie saßen auf Kratzbäumen, auf den Schränken, in den Regalen, auf dem Sofa, auf dem Couchtisch, sogar auf dem Fernseher. Aber unordentlich war es trotzdem nicht. Irgendwie hatte es Frau Rigby geschafft, trotz der vielen Katzen ein omamäßiges, gemütliches Zuhause zu behalten – bloß, dass alle Sitzmöglichkeiten bereits belegt waren … Das heißt: nicht ganz. Merkwürdigerweise war ein abgewetzter Ohrensessel aus bordeuxrotem Leder mit einem weißen Häkeldeckchen auf der Rückenlehne gänzlich unbesetzt von Katzen. Vermutlich war das der Platz, auf dem Frau Rigby immer saß. Es war seltsam, dass die Katzen ihn nicht einnahmen, wenn die alte Frau nicht da war – aber was verstand Jonas schon von Katzen. Vielleicht hatte sie ihnen irgendwie klar gemacht, dass das ihr Platz war.

Die Küche war sehr ordentlich. Zwei Katzen fraßen aus Näpfen am Boden, aber hier tummelte sich niemand auf den Küchenschränken oder den Borden. Jonas atmete auf. Mit den Tiermessies aus dem Fernsehen hatte Frau Rigby offenbar nichts gemein. Sie schien tatsächlich alles im Griff zu haben.

Sie stellten die Tüten am Boden ab und Frau Rigby begann, sie auszuladen.

„Setzt euch an den Küchentisch, Kinder. Und nehmt euch.“

Sie folgten der Anweisung. Die selbst gemachte Limonade befand sich in einer großen Bowlenschale und Delilah musste zum Einschenken eine Kelle benutzen. Entgegen Jonas’ Erwartungen war die Limonade köstlich! Und tatsächlich kein Vergleich zu dem Zeug aus Flaschen. Überrascht sah er zu Frau Rigby auf, die ihn belustigt ansah.

„Da staunst du, was? Jaja, ich hatte auch mal kleine Kinder.“

Jonas nahm noch etwas nach. Delilah schaute sich um und meinte: „Nett haben Sie es hier, Frau Rigby.“

Jonas staunte immer wieder darüber, wie höflich sie sein konnte, und wie gut sie es verstand, mit Erwachsenen Smalltalk zu betreiben.

„Danke, mein Schatz.“

Delilah lächelte. Während Jonas sie betrachtete, kam sie ihm unglaublich zerbrechlich vor. Er wusste, wie sehr seine Freundin die letzten Jahre gelitten hatte und wie empfänglich sie für freundliche Worte war. Manchmal hätte er sie am liebsten einfach in die Arme genommen oder ihr über die Haare gestrichen, aber das konnte sie nicht leiden. Freundliche Worte dagegen schon, und er gab sich immer Mühe, ihr Komplimente zu machen.

Als Frau Rigby die Einkäufe wegsortiert hatte, drückte sie ihm und Delilah jeweils einen 5-Euro-Schein in die Hand.

„Vielen Dank, Kinder. Das war wirklich sehr nett. Wenn ihr mögt, kommt mich doch mal besuchen. Dann mache ich Limonade für euch. Oder Aprikosenkuchen.“

Delilah strahlte.

„Danke schön! Sehr gerne!“

Jonas verkrampfte sich. Das meinte sie doch wohl nicht ernst! Hier in der Küche war Frau Rigby zwar weniger unheimlich, aber zurück im Wohnzimmer bekam er schon wieder eine Gänsehaut. Auf einmal ging ein großes Gemaunze los und der Radau, den er von draußen gehört hatte, schwoll wieder an. Die Katzen kamen in Bewegung. Überall um ihn wuselte es. Jonas wurde schwindelig. Er konnte nicht sagen, warum, aber er fühlte sich bedroht. Alles drehte sich. Er wollte sich die Ohren zuhalten. Plötzlich kippte die Welt – nein, er kippte! Und dann war alles schwarz.

Der Katzenschatz

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