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Ludwig Tieck: Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen (1811)
ОглавлениеTiecks letztes Märchendrama basiert auf einem sehr ähnlichen Bearbeitungsverfahren wie die vorherigen; daher gehe ich hier nur überblickartig darauf ein, wie sich Gemeinsamkeiten und Abweichungen äußern. So geht Däumchen anders als in den anderen drei Adaptationen auf verschiedene literarische Vorlagen zurück.1 Ähnlich aber wie in Rothkäppchen deutet sich schon im Titel eine Persiflage auf eine religiös motivierte Poetik der Legendendramatik an.2 Die Parodie in Form eines dreiaktigen Märchendramas ironisiert weiterhin heldenhafte Ritterdramen wie im Blaubart – hier durch die Darstellung einer im Zerfall begriffenen Artus-Runde, in der Artus als hilfloser König Preußens fungiert.3 Weiterhin hat Tieck im Vergleich zu Perrault wieder Figuren hinzugefügt (zum Beispiel den Hofrat Semmelziege), unpersonifizierte Figuren individualisiert und Beziehungen unter ihnen neu erfunden.
Generell lassen sich drei Handlungsebenen unterscheiden: So wird, wie im Paratext angekündigt, das Märchen nach Perrault erzählt – Däumchen stiehlt einem riesenhaften Oger seine Siebenmeilenstiefel, als er von seinen Eltern ausgesetzt wird und verhilft schließlich dem König durch die magischen Fähigkeiten der Stiefel zum Sieg. Weiterhin dienen Motive aus der Artus-Sage zur Persiflage der Regierung Friedrich Wilhelms III., da die Stückhandlung in dessen Kriegszeit versetzt wird. Die Okkupation durch Napoleon wird angedeutet und die Unfähigkeit des Königs von Preußen, der von einem zwergenhaften Däumchen gerettet werden muss, herausgestellt.4
Neben diesen intertextuellen, ironischen Anspielungen auf Prätexte, Gattungen und historisches Inventar finden sich drittens gesellschaftssatirische Momente. Gut nachzeichnen lässt sich diese an der Figur des Hofrats Semmelziege: Dessen eigentlich niedere Motivationen und die banalen Zänkereien mit seiner Ehefrau werden durch seinen unangemessen erscheinenden elaborierten Sprachgebrauch der Lächerlichkeit ausgesetzt. Gegenstand des Spotts in Tiecks selbstbezüglicher Literatursatire ist die Gräkomanie.5 Semmelziege, der sich in jambischen Trimetern, dem Versmaß der griechischen Tragödie ausdrückt, wird zu deren Vehikel:
SEMMELZIEGE O Göttersöhne, Jugendfreunde, Weisheitsbrüder,
Du, Hoher, mit dem Klang der süßen Lieder,
Du, Großer, mit dem tiefen Spähersinn,
Wißt und erfahrt, der Hofrat ist dahin,
Ein Sklav, gefangen, schlimmer noch als tot,
Bin ich dem Wüttrich dort nur Pierrot.
ALFRED Ich verstehs nicht, explizier dich deutlicher.
PERSIWEIN Du siehst aus wie vom Theater, und doch nahm dein Genie ehemals einen höhern Schwung.
SEMMELZIEGE Hätt’ ich erfahren nie, was Schwung bedeutet!
Wie schön auf sichrer ebner Erde wallen!
Weh mir, ob diesem Streben nach der Höhe!
ALFRED Also bist du kuriert und ein vernünftiger Mensch geworden?
SEMMELZIEGE O Freund, dahin auf ewig sind die Tage,
Als ich des Adlers Fittich mir gewünscht,
Das Morgenrot zu rühren mit dem Scheitel,
Erfüllung übervoll der Jugendtriebe
Ward mir, die Liebe fand die Gegenliebe.
ALFRED Das halte der Henker aus. Kerl, laß dich doch in verständliches Deutsch übersetzen.6
Tiecks Märchenstück weist viele derartige Reminiszenzen auf ästhetische Diskurse um 1800 auf. Neben der besagten Kritik am Gräzisieren folgt weitere an der etwa von Schiller im Drama praktizierten Antikenrezeption oder der von Tieck mitbegründeten Begeisterung für das Mittelalter.7 Bei Däumchen handelt es sich demnach um eine vielschichtige und satirische Vermischung der Epochen Mittelalter, Klassizismus, Aufklärung und Romantik.8 Es findet sich eine Fülle an philosophischen, naturwissenschaftlichen, poetologischen, literatursatirischen und persiflierenden Formzitaten;9 zudem gibt es ungewöhnlich viele Nebenschauplätze, und auch die Einheit von Ort, Zeit und Raum wird außer Kraft gesetzt.
Die märchenhaften Züge werden wiederum durch den Einbruch realistischer Perspektiven betont und gleichermaßen gebrochen, wenn zum Beispiel die fachlich-handwerkliche Überprüfung der wundersamen Siebenmeilen-Stiefel mit pseudo-historischer Ursprungsklärung vorgenommen wird.10 Trotz der mannigfaltigen Bedeutungsebenen und -brüche bleibt das Märchen wie in den anderen Märchendramen als primärer Bezug immer sichtbar.
Im Vergleich zum Gestiefelten Kater, der mit Däumchen auf Märchenebene inhaltlich und durch die Anspielungen auf den preußischen König in politsatirischer Hinsicht Parallelen aufweist, fällt die theatersatirische Dimension weniger ins Gewicht. Stattdessen ist der Ton der Bearbeitung in Bezug auf die zeitgenössischen Anspielungen generell schärfer, wie auch Scherer bemerkt:
Das Däumchen ist drastischer in der Erfassung von Elend, Armut, Not, zeitgeschichtlich konkreter kontextualisiert und hierbei auch expliziter in der Erwähnung von Kriegsgewalt, hinsichtlich der Formverulkung […] transparenter in der Satirisierung der Figuren, weniger transparent indes mit Blick auf die allegorische Begründung, skeptischer und resignativer insgesamt im Vergleich zur einst noch geglaubten Produktivität romantischer Poesie.11
Demnach radikalisiert Tieck in diesem späten Werk seinen früh angelegten Umgang mit Märchen – er nutzt das Märchen mit seiner charakteristischen Veranlagung zur Überzeichnung bei gleichzeitiger formaler Eindeutigkeit als artifizielle Ausdrucksform. Auf diese Weise werden künstlerische und künstliche Konventionen als solche transparent gemacht. Indem Tieck neben der Form des Märchens auch die dramatische wählt, wirkt die transformierende Verbindung von märchenhafter und theatraler Illusion implizit. Auch ohne ein parabatisches Verfahren, wie es Tieck in seinen anderen Märchendramen noch einsetzt, wird hier die Künstlichkeit der Märchenform offengelegt und im satirischen Drama als Instrument der Kritik eingesetzt.