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Das Lachen

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Unverwechselbar und eindringlich, so, wie die Blüten ihr volles Aroma entfalten und sich danach noch lange aus der Erinnerung zurückholen lassen, so lebte Jasmin ihren Namen. Ihr natürliches, beinahe allzu leichtes Auftreten konnte jeden bedachten Blick in einen Genuss verwandeln. Nahezu einem Bild glich die junge Frau! Anmutig, schlank und hoch gewachsen kam sie daher, federnd fast, begann bald hier, bald da das Leben zu streifen. Klare blaue Augen, die im Wechselspiel mit langen dunklen Haaren kokettierten, sprühten voll jugendlicher Lebenslust. Oder glänzten sie gar vor Erwartung? Ungewöhnlich füllig frisiert war sie, es schien, als wollte sie ihr Gesicht in den passenden Rahmen setzen. Außerdem fand ihre Wesensart überall schnell Gefallen. Leichter als vielen anderen Bewerbern war es ihr schließlich auch gelungen, in der Werbung eine Anstellung zu finden.

Zu voreilig? Nein. Weil sich bald herausstellte, dass sie auch für kreatives Gestalten wie geschaffen war und nicht nur über ein gutes Gespür verfügte, sondern ihr auf Anhieb auch passende Ideen in den Sinn kamen. Da Probleme ihr kaum etwas anhaben konnten und es auch an Einfällen nicht mangelte, gelang ihr meist, was sie sich vornahm und man konnte sagen: Sie ersann, begann und gewann.

»Ist wohl an der richtigen Stelle angelangt«, stellte Cordula fest. Zwei Wochen lang hatte sie Jasmin beständig beobachtet. Weil sie selbst unter weit schwierigeren Voraussetzungen eingestellt worden und von gleichem Alter war, konnte sie es schon darum nicht unterlassen, die Kollegin neugierig zu ergründen.

Jasmin verschenkte noch eine weitere Besonderheit: Die Aufgeschlossene war mit einem so breiten und lauten Lachen bedacht worden, dass es niemand einzudämmen vermochte. Wenn es sie überkam, durchdrang es weithin alle Räume, hallte, dass es eine Freude war, und steckte unwillkürlich jeden an! Es war fast ein Unding, solch ausgelassener Fröhlichkeit zu entkommen!

Nur in die jetzige neue Zeit schien es manchmal nicht recht zu passen. Da versuchte gerade der alte Sozialismus in die neue Marktwirtschaft zu gleiten, was vorher kaum denkbar war, und Arbeit zu finden glich beinahe einem Glücksspiel. Schlag auf Schlag schlossen immer mehr Läden, Betriebe und Institutionen. Ersatzweise schossen Westberater – pilzsporenähnlich – aus dem Boden; so auch in der Werbeabteilung dieses Kaufhauses. Hier arbeitete nicht nur ein Abteilungsleiter – wie üblich und ausreichend –, sondern gleich drei: nämlich der frühere aus dem Osten und zwei neue aus dem Westen. Einem dieser Neubesetzungen namens Peter war es äußerst wichtig, nie sein Gesicht zu verlieren. Deshalb trug er es mit Make up geschützt, stolz und erhaben überall hin. Sein Haar war exakt drapiert und das, obwohl es ohnehin schon markant schwarz gefärbt war. Solch ein Tiefschwarz hatte es im Osten wirklich nicht gegeben, kein Blick ging an dieser auffallenden Farbe vorbei. Nicht nur das wirkte dominant, er gab sich auch dünkelhaft. Manchmal hatten Cordula und Jasmin das Gefühl, eher der Kosmetikindustrie als den Fähigkeiten ihres Vorgesetzten Respekt zollen zu können. Unter sich, stießen sie sich drucksend an und gaben ihm schließlich den heimlichen Spitznamen »der schwarze Peter«. Und das war weiß Gott treffend. War der Mann einmal von sich als Sieger überzeugt, bestimmte er alles weitere und benahm sich dabei oft daneben.

Aus purem Vergnügen schüchterte er die hier Arbeitenden ein, bevorzugte gerade jene, die mitten im Lernstadium schüchtern auftraten. Eine zugezogene finstere Miene und ein präzise geschnittener Bart um den Mund machten ihn noch unwirklicher. Viele empfanden ihn darum unerträglich, zumal es auch nichts zu geben schien, was diesen Mann hätte erweichen können. War er nur ausgezogen, um den »Ossis« das Fürchten zu lehren? Aber selbst wenn das stimmte, hatte er eines gewiss nicht bedacht: dass es hier noch quicklebendige, spontane Menschen gab. Und immer, wenn Peter auf der obersten Treppe aller Belehrungen angekommen war, die Stimme sich mit heftigen Anordnungen überschlug und seine Spießigkeit restlos auf die Spitze trieb, war es soweit: Kein leises Kichern, nein, eine losprustende Jasmin gesellte sich dazu! So prompt verströmte sie völlig unbefangen ihr herzliches, laut schallendes Lachen! Tief aus dem Bauch aufsteigend kam es heraus und genauso schleuderte sie es ihm ins Gesicht: hemmungslos, schlagartig und unaufhaltsam!

Da war er entwaffnet!

Es machte ihn fix und fertig. Er verkrampfte, versuchte noch jammervoll, irgendetwas Undefinierbares durch die Zähne zu pressen, das sich gegen das Lachen wehren könnte – aber unmöglich. Dann kniff er seine Augen zu und seine Lippen verbissen sich nach innen. Auf dem Absatz folgte eine Kehre und eine laut zuschlagende Bürotür – seine letzte Rettung.

Jasmin – ihm über? Keiner wagte die unausgesprochene Frage wirklich zu stellen, aber immerhin war es so: Hatte sie mal ihren freien Tag, war es nur halb so erfrischend. Und, wer hätte das gedacht, sogar »der schwarze Peter« muffelte noch mürrischer vor sich her, als das gemeinhin bei ihm üblich war.

Kein Wunder also: Alle mochten Jasmin. Jetzt, um dieses amüsanten Machtspiels bereichert, schlossen Cordula und die anderen heimlich schon Wetten ab, wie lange es wohl diesmal dauern würde, bis Jasmin den Chef wieder verlachte. Einerseits verwirrte es »den schwarzen Peter«, andererseits bekam gerade sie von ihm die persönlichsten Aufträge. Und trotz dieses Widerspruchs wiederholte sich das Szenario Tag für Tag.

Bis zu jenem Donnerstag.

Damals platzte unverhofft ein Neuer herein, räusperte sich, riss alle Türen auf und stampfte mit festen Schritten quer durch die Abteilung. Er war ein großer, gewichtiger Kerl. Zwar verhüllte der lange edle Wollmantel manches in schmeichelhafter Tücke, aber dass seine Hände in den Taschen derart fest gestrafft waren, das war Cordula schon bedenklich vorgekommen. Ob der »den schwarzen Peter« suchte? Mehrmals maß er die Räume im Tempo übergroßer Schritte aus. Vor – zurück, vor – zurück! Unverhohlen dreist grinsend, laut und ohne jede Grußformel.

Nachdem er so fast zehn Minuten lang sämtliche Ecken in Augenschein genommen hatte, doch seine Kür nicht die erwartete Beachtung fand, legte sich die inzwischen sichtbar gewordene rechte Hand schwer betont auf seine Brust und es war, als öffnete sie ihm damit auch den Mund.

»Mein Name ist Giesbert, und ich bin ein guter Freund vom Peter.«

Keiner, der das noch bezweifelt hätte.

»Wieder so’n Schönling, diesmal in Ostausgabe.« Cordula mochte ihn nicht, stellte sich gerade beide Pinkel nebeneinander vor und leise, zu den anderen bedauerte sie: »Find ich doch zu schade, dass Jasmin diesen tollen Auftritt hier verpasst hat«.

Diese war mit Peter in einer Besprechung. Also erfuhr Cordula von Giesbert bald das Wesentlichste, nämlich, dass er ein heimattreuer Besitzer jener Pension sei, deren Dienste auch »der schwarze Peter« schon mehrfach in Anspruch genommen hatte. Herumgezeigte Fotos ließen dort eine kleine, fast puppenstubenhafte Einrichtung erkennen. Dies alles wäre in der nächsten Stadt. Als sein ersehnter Peter dann endlich kam, lebte Giesbert freudig auf, wirkte geradezu entfesselt.

Nachdem sich die beiden Freunde dann unter vier Augen abgesprochen hatten, wurde – wer auch sonst? – Jasmin hereingerufen. Sie sollte eine Modenschau moderieren! Das hatte der clevere junge Mann für seine Pension schon seit Jahren vorgehabt und die geschichtsträchtige Wende käme ihm jetzt wie gerufen. Dazu sollte Jasmin die entsprechenden Kleidungsstücke eigenständig heraussuchen, alles dann vor Ort arrangieren, die Waren entsprechend kommentieren und sie im Zuge der Moderation seinen Gästen geschickt anbieten. »Der schwarze Peter«, so sehr er Jasmin mochte, hatte inzwischen doch erkannt, dass sich für sie damit auch eine Möglichkeit bot, über sich selbst hinauszuwachsen. Zu allererst war beiden Männern Erfolg und materielles Denken eigen und darum versprachen sie sich von dieser Geschäftsidee einen ordentlichen Gewinn.

***

Für Jasmin war der Auftrag eine willkommene Abwechslung im bisherigen Aufgabenbereich, sie übernahm ihn – wie jede neue Sache – leicht und voller Überschwang. Doch sollte es nicht bei dieser einmaligen Aktion bleiben, Herr Giesbert hatte auf einmal alle nasenlang irgendetwas anderes im Sinn. So kam es, dass Jasmin immer häufiger in der Pension weilte und er wiederum regelmäßig in der Werbeabteilung war. Das tat er bald mit einer Selbstverständlichkeit, dass man meinte, er gehöre bereits hierher.

Jasmin aber schien hin und wieder bedrückt, bewegte sich anders und irgendwie seltsam verändert. Einmal ertappte die Freundin sie verstört, ein anderes Mal vollkommen ernst oder, was sie nie von ihr kannte, in Gedanken versunken vor sich hinstierend. Keinem erzählte sie etwas, Fragen wehrte sie ab und selbst Cordula, die einzige beste Freundin, erfuhr erst nach langem Drängen, was denn geschehen war.

»Wisst ihr«, erklärte Jasmin rätselhaft langsam, alle standen um sie herum und hörten aufmerksam zu: »Viele Wochen hab ich mit mir gerungen, alles Mögliche erwogen und bin eigentlich immer noch hin und her gerissen. Glaubt mir, es tut mir wirklich leid für euch, aber ich muss das jetzt einfach tun. Ich komme nicht los von ihm, meine Gedanken sind nur dort. Und stellt euch vor, ihm geht es genauso. Er wünscht nichts mehr und nichts inniger, als dass ich immer bei ihm in der Pension bin. Dort könnte ich mitarbeiten, bekäme so die Chance, selbstständig zu werden, die ich mir nicht entgehen lassen will. Dazu kann er noch so richtig charmant sein, dass ich ihm, wenn er mich so ansieht, sowieso kaum was ausschlagen kann. Eigentlich«, wurde sie nun merklich leiser, »haben wir alles schon abgesprochen. Hier bei euch – so ohne ihn – halte ich es kaum mehr aus.«

Ob mehr verblüfft oder mehr ergriffen, der ganze Kreis staunte. Ein Raunen ging umher. Hatten sie etwas verpasst? Cordula, die im Laufe der Offenbarung zur Säule erstarrt war, fand jedoch als erste zu ganzen Sätzen zurück. »Wie konntest du bloß so eine Neuigkeit derart lange mit dir herumtragen?« Sie drückte die Freundin zwar kopfschüttelnd, aber fester als sonst an sich und barg den verrückten Wuschelkopf in ihren Armen. Lachenden wie tränenden Auges ermutigten nun alle Jasmin zu diesem Schritt. Was sonst? Denn obwohl die Neuigkeit auf Cordulas Seele lastete, spürte sie innerlich doch, dass sie die lieb gewordene Freundin ziehen lassen muss. Man tröstete sich, hatte unmittelbar erlebt, was Jasmin durchlitt und letztlich wollten alle auch nur, dass es ihr gut ging.

Bald darauf kündigte die junge Frau, Wehmut mit hoffnungsvoller Erwartung bekämpft.

***

Von Jasmin hörten sie nichts mehr, obwohl es Cordula anfangs oft noch so vorkam, als ob sich ihr Lachen nur tief in den Wänden versteckt hielt oder sonst irgendwie vergraben wäre. Es gelang ihr nur schwer, diese Trennung zu verarbeiten. Aber die Jahre bahnten sich ihren Weg durch den Trott der Gewohnheit und irgendwann hielt es Cordula für angebracht, ein Treffen ehemaliger Kollegen zu organisieren, vor allem mit dem Hintergrund, Jasmin wiederzusehen. Unbedingt! Denn jedes Mal, wenn Cordula jemanden laut lachen hörte, musste sie noch immer an Jasmin denken. Den anderen ging es ähnlich. Niemand war so stark im Gedächtnis haften geblieben wie sie mit ihrem ansteckenden Lachen. Und sogar »der schwarze Peter« vermisste sie, hatte sich erst gestern, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, immer noch interessiert nach ihr erkundigt. Was zum Teufel war nur los mit ihm, wenn sogar er das zugab?

Endlich, sechs Wochen nach Cordulas Beschluss, fand das Treffen statt.

***

Aber welche Wesensfremde saß ihr da gegenüber!

Und es war beileibe nicht nur der Ecktisch, der sie trennte. Es konnte nicht stimmen – das sollte Jasmin sein? Mit der sie intensiv Arbeits- und Freizeitleben geteilt hatte? Die immer lachte? Wo waren die alte Ausgelassenheit und die herrlich herzhafte Freude geblieben? Passte das überhaupt noch in dieses veränderte Gesicht? Und verflixt, warum sagte sie nichts, war sie stumm geworden? Es dauerte. Es dauerte Cordula alles viel zu lange, diese angespannte Stille, die sich durch das Abendessen zog, und selbst danach brauchte es viel Zeit, ehe Jasmin der eigenen Stimme wieder Zutrauen schenkte. Und es vergingen einige gespannte Minuten, ehe alles aus Jasmin herausbrach.

»Ich freue mich riesig, hier bei euch zu sein.« Jetzt erst blickte sie jeden an.

»Wisst ihr, vor ein paar Jahren gelang mir zunächst alles. Es war genauso, wie ich es mir ausgemalt hatte. Die Pension lief gut und mit dem tollen Beruf war’s mir eher Herausforderung als wirkliche Arbeit. Ich hatte enormen Spaß dabei, alles auszuschmücken und hab die Pension richtig auf Vordermann gebracht. Erinnert ihr euch noch an die alten Fotos? Jetzt müsstet ihr das mal sehen! Von der eingestaubten Eigenbrötelei ist nichts mehr übrig. Mit Glas, selbst gemischten Farben und neuen Bildern hab ich alles neu in Szene gesetzt. Und jeder, der das Haus von früher her kennt, hat es bewundert. Auch Giesbert. Das war die erste Zeit – und meine beste. Alles schien in Ordnung. Aber irgendwann«, wurde sie leiser, »hatte sich das geändert.«

Die Pause, in der sie den Rauch ihrer Zigarette wegblies, so, als könnte sie dadurch auch altes Geschehen in Luft auflösen, war spannungsgeladen. Cordula merkte, dass Jasmin fror. Sie hatten schlechte Plätze erwischt, saßen ungünstig im Luftzug. Ich werde, nahm sie sich vor, nachher gleich den Kellner fragen, ob’s nicht möglich ist, einen anderen Tisch zu bekommen.

»Ich weiß nicht mehr genau, wie und wann das alles passiert ist. Giesbert hat genossen, was ich so kreierte, und gemerkt, dass mir alles recht gut von der Hand ging. Da hat er zunächst die Putzfrau und später auch noch die Küchenkraft entlassen, weil die ihm zu langsam waren. Waren sie ja wirklich«, bestätigte die Veränderte so heftig nickend, als säße Giesbert direkt neben ihr.

»Dadurch hat er enorm Geld gespart. Nach und nach habe ich die anfallenden Arbeiten alle noch mit erledigt. Freilich hatte ich dadurch entschieden weniger Zeit für die Gäste, die ich ja eigentlich betreuen soll. Und das wollte ich viel lieber tun! Könnt ihr euch vorstellen, wie das schlaucht, wenn man von früh bis spät total ausgelastet ist? Da kommt’s schon vor, dass man abends nicht mehr topp aussieht, stattdessen abgespannt und müde ist. Das aber konnte Giesbert überhaupt nicht haben. Charmant war er zuletzt nur noch zu allen anderen. Und so gab’s nach und nach immer öfter Streit. Irgendwann verstanden wir uns überhaupt nicht mehr.«

»Und deine Eltern?« Bewegt von diesem Geständnis wollte es Cordula jetzt genauer wissen. »Du hast doch ein prima Verhältnis zu deinem Vater. Warum gehst du nicht einfach weg von Giesbert?« Jasmin seufzte tief. »Geht nicht. Ich kann doch die Pension nicht einfach im Stich lassen! Ich glaube, Giesbert würde mich umbringen. Er ist so jähzornig, wisst ihr. Und vollkommen unberechenbar, wenn er wütend ist! Und mit meinen Eltern hat er gar nichts am Hut. Auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin und um weitere Differenzen zu vermeiden, sind meine Eltern schon Ewigkeiten nicht mehr bei uns gewesen. Umgekehrt aber komme ich nicht zu ihnen, weil mir keine Zeit dafür bleibt, ich hab keine zwei Stunden übrig, um hinzufahren. Und Giesbert würde das auch kaum dulden. Was denkt ihr, was ich hinter mir habe, weil ich heute zu euch wollte? Nie kann er mich entbehren, sagt er, und so bin ich ständig unter Druck, weiß schon nicht mehr, was richtig ist. Manchmal denke ich, er hat ja Recht: Die Pension kostet alle Zeit, da geht es von Montag früh bis Sonntag spät durch. Für mich bleibt da einfach nichts. Auch andere Freundinnen haben sich inzwischen zurückgezogen. Ich kann ja nie mitgehen, gelle?«

Verdammt, jetzt fand es Cordula höchste Zeit, die Toilette aufzusuchen. Fühlbar schon rannen ihr die ersten Tränen übers Gesicht. Ihre Wut hatte sich dermaßen angestaut, dass sie nicht länger stillsitzen mochte. Wie gebrochen ihre Freundin war! Aber endlich, dachte Cordula, endlich hat sie wenigstens wieder »gelle« gesagt und damit das einzige Wörtchen, was auf ihren Ursprung deutete. Aber für alles andere hatte sie nur ein Kopfschütteln. Der Kerl sollte ihr mal über den Weg laufen! Warum nur kam Jasmin nicht von ihm los? Hier und jetzt war sie als Freundin gefragt, fand sie. Sie musste Jasmin helfen.

Als der Kellner kam, änderte Cordula die äußeren Bedingungen, sie nahmen einen anderen Tisch. Doch was nützte es, Jasmin ihre Hilfe anzubieten – sie tat das so behutsam wie möglich –, wenn die Angesprochene schon gleich zu Anfang resignierend den Kopf schüttelte. Ihr fehlte jede Kraft, eigene Wünsche durchzusetzen. »Ich werde bei ihm bleiben«, waren für Cordula die unglaublichsten Worte des Abends.

***

Nach zwei weiteren Jahren hatte Cordulas Arbeitsbereich beständig zugenommen. Sie war nun leitende Mitarbeiterin, was sie in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet hätte. Sie war stark eingespannt und es kam vor, dass sie Werbemittel im Außendienst besorgen musste. Da war sie dann viel unterwegs. So auch an diesem Tag. Jetzt, nachdem alles Notwendige erledigt, es inzwischen Nachmittag und damit Zeit für einen Imbiss war, steuerte sie die erstbeste Pommesbude an. Sie wunderte sich noch, es hatte an der Stelle nie eine gestanden, die musste neu sein. Cordula wählte rasch. Da blickte sie beim Entgegennehmen ihrer Pommes in ein Augenpaar, das sie zusammenfahren ließ. Fast wären ihr doch die Fritten aus dem Pappdeckel geglitten! Aber – es hatte ihr die Sprache verschlagen. Die Übergabe, die dort stattfand, hätte stummer nicht sein können. Die Frau, deren Haare von einer weißen Haube gebändigt wurden, deren Kittel die Schwangerschaft nicht mehr kaschieren konnte und die ihr jetzt tief bückend die Ketchupflasche reichte – war Jasmin.

Die Fritten schmeckten. Doch Cordulas Gedanken schweiften ab. Für einen Augenblick erwog sie noch, sich umzudrehen und zu Jasmin zurückzugehen. Wären ein paar passende Worte nicht angebracht gewesen? Aber sie sah an sich herunter, in diesem eleganten Kostüm war es ihr nicht möglich, Anteilnahme zu zeigen. Außerdem, so rechtfertigte sie sich selbst, hätte Jasmin ebenfalls mit ihr reden können. Aber die sagte auch nichts. Aus Scham? Und im Gehen verfluchte Cordula wieder diesen Giesbert, der ihre Freundin so würdelos abgeschoben hatte. Niemals, so schwor sich Cordula hier und jetzt, würde sie im Leben nur bloßes Werkzeug ihres Mannes sein wollen! Selbst dann nicht, wenn sie deswegen allein bleiben müsste.

***

Cordula glaubte fast, Jasmin aus ihren Gedanken verdrängt zu haben, da meldete sich diese telefonisch. »Sag’, ist es möglich, dass wir uns treffen?« Und ob. Schneller hatte Cordula selten einen Termin freigeschaufelt. Umso enttäuschter war sie danach. Endgültig, so musste sie bilanzierend feststellen, ist diese Freundschaft als erledigt abzutun. Ihr Körper bebte geradezu, weil er über soviel Unverfrorenheit nicht fertig werden konnte. Sie atmete tief und ließ alles noch einmal an ihr vorbeiziehen …

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr dazu gekommen war, zu fragen, ob es ein Junge oder ein Mädchen sei. So entsetzt, so erbost war sie darüber, dass der beiläufig mitgebrachte Vertreter, der sicher Jasmins neuer Arbeitgeber ist, ihr ohne Skrupel einen Versicherungsvertrag aufschwatzen wollte. »Pfui, Teufel«, schimpfte sie laut vor sich hin und in die Trauer über die verlorene Freundschaft mischte sich eine gehörige Portion Zorn.

Jahre später, in denen sich für Cordula neue und beständigere Freundschaften gebildet hatten, war sie noch immer auf derselben Arbeitsstelle geblieben. Heute erlebte sie beim Dekorieren ihrer Figuren etwas Eigenartiges. Es geschah auf einem Podest im Innenraum des Warenhauses, unmittelbar an der Rolltreppe. Da beobachtete sie einen kleinen Jungen, der ihr viel Spaß bereitete. Neugierig schaute er ihr zu und stellte schon bald viele Fragen, die alle mit »Warum?« anfingen, so dass auch sie sich nach einer Weile herausgefordert sah, ihn zu necken. Erst nur ein wenig, dann etwas heftiger. Aber wie verschlug es ihr die Sprache, als der Kleine ihr herzhaft ins Gesicht lachte. So ausdauernd, so kraftvoll, dass sie eine Gänsehaut bekam. Das gab es doch gar nicht! Der Kleine konnte nicht aufhören! Und sie stand da, gelähmt, unfähig, etwas zu sagen oder zu tun.

Sich aufrichtend ließ sie den Blick über die gesamte Etage schweifen und erblickte weiter hinten die große, nun frauliche Gestalt mit dem noch immer fülligen schwarzen Haar. Mit einem leichten Stups schickte sie den lachenden Jungen zu seiner Mutter.

Kaufhausgeflüster und andere Geschichten

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