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Die letzten Jahre des Zarenreiches

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Nicht wenige Beobachter sagten das Ende des Zarenreichs bereits vor dem Ersten Weltkrieg voraus, und noch mehr empfanden den Nieder- und Untergang des Reichs im Nachhinein als unvermeidlich und folgerichtig. Gegen diese Sichtweisen spricht allerdings die Tatsache, dass geschichtliche Entwicklungen selten zwangsläufig sind. Der Sturz des letzten Zaren Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) war keine ausgemachte Sache. Die Agrarkrise seit der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 sowie die Unruhen in den wachsenden Städten und insbesondere unter der Arbeiterschaft wiesen jedoch auf die Schwäche des Staatsapparates hin.

Außen- und innenpolitische Probleme erschütterten das Regime von Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) in den Grundfesten. Infolge der Niederlage im Krieg [20]gegen Japan 1904/05 war Russland in seine erste große Revolution von 1905 bis 1907 geschlittert. Sie endete mit halbherzigen und anschließend oft in Frage gestellten Zugeständnissen an die Aufständischen, die politische Teilhabe und Reformen verlangten. Zugleich trat dabei ein außerordentliches Aggressionspotenzial zutage. Dieses beruhte unter anderem auf den Alltagserfahrungen der vorwiegend ländlichen Bevölkerung, die drakonische Strafen sowohl seitens der eigenen Dorfgesellschaft als auch der »Herrschaft« und der staatlichen Institutionen gewohnt war. Gruppendynamische Prozesse und Rachegefühle trugen zur Eskalation gleichermaßen bei wie die großen sozialen Gegensätze und vorhandenen Feindbilder. Pogrome mit unzähligen jüdischen Opfern wurden zum Merkmal einer Gewaltperiode, die nicht bloß den Zeitraum von 1905 bis 1907 umfasste und deren Beginn genauso schwer zu benennen ist wie ihr Ende.


Eine friedliche Demonstration in Sankt Petersburg Anfang 1905. Ihre gewaltsame Auflösung führte zur ersten großen Revolution in Russland.

Trotz gewisser Ähnlichkeiten zwischen den Erschütterungen der ersten Russischen Revolution und jenen am Ende des Ersten Weltkrieges führte jedoch keine direkte Linie bis zum Sturz von Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) Gewiss: Die Aufstände wurden ab 1905 brutal unterdrückt. Gestaltungsmöglichkeiten in der konstitutionellen Monarchie blieben einer kleinen Gesellschaftsschicht vorbehalten. Ebenso wenig konnten [21]Industrialisierungsmaßnahmen und Verbesserungen der Agrarproduktion die Kluft zwischen Regierung und Opposition, zwischen den reichen und den armen Bevölkerungsgruppen überbrücken. Unter anderem verschärfte die Radikalisierung der Regimegegner die Gegensätze. Allerdings musste das angeschlagene System nicht zwangsläufig zusammenbrechen, als der ZarNikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) im Sommer 1914 seine Soldaten gegen die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn zu den Waffen rief.

Der Hurrapatriotismus zu Beginn des Ersten Weltkrieges, der jedoch lediglich Teile der Stadtbevölkerung erfasste, sowie die »vaterländische Gesinnung« des Parlaments, der Duma, täuschten nur kurzfristig über die Probleme des Landes hinweg. Die Krise verschärfte sich bald über das Maß der bekannten Unzulänglichkeiten hinaus. Strategische und kriegswirtschaftliche Entscheidungen entzweiten die Gesellschaft. Die zivile und militärische Führung des zerbrechlichen Reiches verlor an Einfluss und Gestaltungsspielraum. Um der Kritik an der Unfähigkeit der Zarenherrschaft und ihres Behördenapparates etwas entgegenzusetzen, gründete man Komitees und Spezialausschüsse. Mit ihnen wollten vor allem die lokalen Selbstverwaltungskörper Materialknappheit und Versorgungsengpässe beseitigen. Die höheren Gesellschaftskreise, hieß es in diesem Zusammenhang, hätte man zur Rettung des Reiches schon früher heranziehen sollen. Tatsächlich arbeiteten jedoch die neu gebildeten Gremien vielfach eher gegen- als miteinander. Die Zersplitterung des gesamten Wirtschaftslebens erschwerte die Versorgung zusätzlich. Auf die benötigten Waren warteten Abnehmer oft vergeblich, zumal auch das Transportwesen marode war.

Wirtschaftliche und organisatorische Defizite gingen mit sozialen und politischen Unmutsäußerungen, der Verfolgung von Sonderinteressen und einer schleichenden Auflösung des Reichsgefüges einher. Der ZarNikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar), die Armee und die Minister waren 1916/17 weitgehend diskreditiert. Die Opfer, die Soldaten und Zivilisten im Krieg gleichermaßen bringen mussten, verloren in den Augen der Bevölkerung angesichts der Organisationsmängel, der Niederlagen an den Fronten, der steigenden Lebenshaltungskosten, der schlechten Güterverteilung und des Mangels an Nahrungsmitteln endgültig jeden Sinn. Die Desillusionierung vergrößerte sich, als immer mehr Nachrichten über Fehlentscheidungen, Korruption und »Kriegsgewinnlertum« Verbreitung fanden. Hinzu kamen Gerüchte und Meldungen über die Verhaftung von [22]Unruhestiftern, die es gewagt hatten, ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen. Unzufriedenheit und Widerstandsgeist wuchsen, zunächst speziell in den urbanen Zentren. Die Bereitschaft, in den Fabriken zu streiken oder auf den Straßen zu demonstrieren, nahm zu. Sie mischte sich mit einer fundamentalen Systemkritik.


Soldaten der Petrograder Garnison verbünden sich im Zuge der Februarrevolution 1917 mit den Demonstranten.

Bei Protestkundgebungen im Februar bzw. März 1917 in der Hauptstadt Sankt Petersburg, die seit 1914 Petrograd hieß, riss die Befehlskette schließlich an ihrer wichtigsten Stelle. Teile der Garnison weigerten sich, weiter auf ihre »rebellierenden Brüder und Schwestern« zu schießen. Auch die Duma widersetzte sich den Anordnungen von Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) und gründete ohne seine Zustimmung ein selbstständiges Komitee zur Bewältigung der schwierigen Situation. »Bauernsoldaten« entledigten sich des Öfteren gewaltsam »lästiger« Kommandeure und verbrüderten sich mit der Bevölkerung. Die Räte (russ. sowjet für ›Rat‹), die erstmals im Rahmen der Revolution von 1905 gebildet worden waren, traten erneut in Erscheinung. Während ihre Leitungsorgane Kontakt mit den Parlamentariern und mit deren Komitee aufnahmen, [23]dankte der ZarNikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) angesichts seines vollständigen Machtverlusts am 15. März 1917 ab. Potenzielle Nachfolger des bisherigen Monarchen verfügten über einen geringen gesellschaftlichen Rückhalt. Der Thron blieb vakant. Die rund dreihundertjährige Herrschaft der Romanows fand ihr Ende.

Der Russische Bürgerkrieg 1917–1922

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