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Autoritätsverlust und Machtwechsel

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Die Februarrevolution von 1917 war im Großen und Ganzen eine elementare Erhebung gegen die Monarchie gewesen. Im Augenblick des Thronsturzes begann aber zugleich ein noch umfassenderer Auflösungsprozess. Die neue Provisorische Regierung unter dem liberalen Fürsten Georgij J. LwowLwow, Georgij J. (Fürst) war mit einer Unzahl von auseinanderstrebenden Kräften konfrontiert. Sie bewirkten in der Summe allmählich ein fast völliges Zerfallen der Gesellschaft.

Bezeichnenderweise ging die Zahl der Streiks nach der Wende vom Frühjahr 1917 nicht zurück. Vielmehr wuchs mit den Ansprüchen und Erwartungen der Betriebsbelegschaften das Selbstvertrauen des »Proletariats«. Die Entstehung von Fabrikkomitees offenbarte eine bedeutende Machtverschiebung. Von Direktoren und Arbeitern der Betriebe gleichermaßen der Parteilichkeit verdächtigt, sah sich das Kabinett LwowLwow, Georgij J. (Fürst) vor allem durch die Gewalt des Widerspruchs herausgefordert. Der Einfluss der Bolschewiki stieg. Die seit Februar existierenden »Roten Garden« untergruben die Autorität der städtischen Milizen im Bereich des Sicherheitswesens. Außerdem wurden die Menschen in einer nicht enden wollenden Aneinanderreihung von Versammlungen zunehmend politisiert.


Eine Gruppe revolutionärer Milizen in Petrograd 1917

Das Bestreben, im Zuge der Umwälzungen gewonnene Freiheiten beizubehalten, beherrschte nicht zuletzt auf dem Land die weitere Entwicklung. Im Unterschied zu autarken Einzelhöfen, die unter dem ZarenNikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) vor 1914 gefördert worden waren, erlebte im Jahr 1917 die Dorfgemeinde als Landumverteilungs- und steuerliches Solidarhaftungskollektiv einen Aufschwung. Die Provisorische Regierung, der schließlich die vor allem agrarische Interessen vertretenden »Sozialisten-Revolutionäre« angehörten, registrierte unter anderem in den zentralen Gebieten eigenmächtige Abholzungen von Wäldern in bisher nicht [24]dagewesenem Ausmaß. Besetzungen und Zerstörungen von Herrenhöfen häuften sich. Die Anarchie war nicht mehr aufzuhalten. Da die Revolutionäre oft von Frontheimkehrern oder Deserteuren angestachelt wurden, kam es ab der Jahresmitte 1917 zu einer weiteren Radikalisierung. Aus den Provinzen Tambow, Pensa, Woronesch, Saratow, Orjol, Tula und Kasan meldete man Fälle von Lynchjustiz an Großgrundbesitzern – teilweise handelte es sich um Racheaktionen für die Hinrichtungen von Bauernrebellen im Gefolge der Revolution von 1905. Allein im September und Oktober legten Bauern außerdem ungefähr 250 Herrenhäuser, also ein Fünftel aller Gutsbesitze dieser Regionen, in Schutt und Asche.

Die Sozialisten-Revolutionäre gehen auf die Bewegung der Narodniki in den 1860er Jahren zurück. Letztere versuchten, in Distanz zum Marxismus einen russischen Weg zum Sozialismus zu finden, der vor allem dezentral auf die Dorfgemeinde aufbaute. Die radikale Intelligenzija, Vertreter der gebildeten Gesellschaftsschicht, war dabei federführend. Sie wollte »ins Volk gehen«, scheiterte aber zunächst mit dem Versuch einer politischen Aufklärung der Agrarbevölkerung.

1902 schlossen sich Vertreter dieser wiederbelebten Richtung in der geheim gegründeten Partei der Sozialisten-Revolutionäre zusammen. Deren Kampforganisationen bevorzugten den individuellen Terror gegen die Repräsentanten der alten Macht. Die Parteistrukturen blieben allerdings schwach. 1917 spaltete sich die PSR primär in einen rechten und linken Flügel. Letzterer hielt zeitweilig zu den Bolschewiki. Schließlich verschwanden jedoch alle und damit auch die sozialistischen Parteien aufgrund der schrittweisen Errichtung der KP-Alleinherrschaft.

Parallel zur Abrechnung mit der Aristokratie bildeten sich in den jeweiligen Kreisen und Orten eigene Sowjets, die als »Dorfgemeinde in revolutionärer Form« das alte Ideal der dörflichen Selbstverwaltung verkörperten. Bisweilen riefen lokale Räte sogar Dorfrepubliken mit eigenen Hoheitszeichen und Fahnen aus. Nicht wenige stellten außerdem Polizisten oder Richter ein, bildeten Rote Garden und Milizverbände aus Freiwilligen.

Konkurrenz zu den dörflichen Vertretungsgremien gab es auf dem Lande unter derartigen Bedingungen seltener. In der Provinz setzte man eher auf Kooperation. Der Einfluss der Zentralinstanzen blieb in den [25]meisten ländlichen Gebieten begrenzt. In Petrograd wiederum hätte der Arbeiter- und Soldatenrat jederzeit die Herrschaft an sich reißen können. Viele erblickten in ihm die höchste Autorität, zumal sich die Regierung trotz pazifistischer Grundstimmung in der Bevölkerung zur Weiterführung des Krieges gegen die Mittelmächte entschlossen hatte.

Das Fass zum Überlaufen brachte Außenminister Pawel N. MiljukowMiljukow, Pawel N.: Er sprach sich nicht nur für den Fortbestand des Kriegsbündnisses mit den Westmächten aus, sondern schien sogar von Gebietsgewinnen und einem »Siegfrieden« zu träumen. Ein Sturm der Entrüstung fegte MiljukowMiljukow, Pawel N. aus dem Amt. Eine Regierungsumbildung folgte. Alexander F. KerenskijKerenskij, Alexander F. übernahm das Kriegsministerium. Er hatte bislang, als einziger Repräsentant der Linken im Kabinett LwowLwow, Georgij J. (Fürst), das Justizwesen geleitet. An der Seite KerenskijsKerenskij, Alexander F. traten weitere sozialistische Politiker in die Regierung ein. Sozialisten-Revolutionäre und sozialdemokratische Menschewiki, die sich eigentlich auf die Räte stützten, halfen der schwächelnden Staatsführung auch deshalb, weil sie selbst auf die Übernahme der Macht schlecht vorbereitet waren.

»Menschewiki« bedeutet im Russischen ›Gruppe der Minderheit‹ oder ›Minderheitler‹, eigentlich richtigerweise eher eine Bezeichnung für ihre Gegner, die Bolschewiki. Tatsächlich waren die Menschewiki als gemäßigtere Richtung der russischen Sozialdemokraten zunächst Lenin und seinen Mitstreitern keineswegs unterlegen. Allerdings verloren die alles andere als einheitlich auftretenden Menschewiki im Laufe des Jahres 1917 gegenüber den Bolschewiki beträchtlich an Boden. Im Sowjetkommunismus letztlich in die Illegalität gedrängt, gründeten sie die teilweise bis nach 1945 bestehende Parteiorganisation im Exil. Ähnliches galt für die Sozialisten-Revolutionäre und die Konstitutionellen Demokraten.

Marxistische Kreise hielten in diesem Zusammenhang außerdem eine »bürgerliche« Phase der Revolution für notwendig. Unter den [26]gespaltenen Sozialdemokraten schwor allein LeninLenin, Wladimir Iljitsch seine Partei der Bolschewiki auf eine neue Taktik ein. Nach seiner von den feindlichen Mittelmächten unterstützten Rückkehr aus dem Exil orientierte er sich mit Friedenslosungen und der Forderung, die Räte an die Spitze des Staates zu stellen, an populären Vorstellungen von der Zukunft des Landes. LeninLenin, Wladimir Iljitsch präsentierte auf diese Weise eine Alternative zu dem von den übrigen Sozialisten mitgetragenen Regierungskurs. KerenskijKerenskij, Alexander F. und seine Ministerkollegen schienen unterdessen die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung nicht zu erkennen. Sie starteten im Juli 1917 eine neue große Offensive gegen die Mittelmächte, die sogenannte KerenskijKerenskij, Alexander F.-Offensive. Der Angriff endete in einem Desaster: Nicht nur war dem Vorstoß an den Fronten kein Erfolg beschieden, sondern es meuterten nun auch ganze Regimenter. Die Armee befand sich in Auflösung.


Kriegsminister Alexander KerenskijKerenskij, Alexander F. (1881–1970, links) bei den Truppen im Juli 1917

Teile der Streitkräfte stellten sich klar gegen die Staatsführung. Ein Maschinengewehrregiment in Petrograd und die Matrosen der Kronstädter Marinebasis, des bedeutenden Flottenstützpunktes an der Ostsee, zeigten sich entschlossen, die Provisorische Regierung aus dem Weg zu schaffen. Gemeinsam mit ihnen lehnte sich im Juli 1917 eine wachsende Zahl von Demonstranten gegen die bisherige Kriegspolitik auf. Der Gewaltpegel schnellte nach oben – die Februarereignisse schienen sich zu wiederholen. Erneut kamen viele Menschen zu Tode, bis schließlich die Proteste nachließen, ohne einen Systemwechsel bewirkt zu haben. Neben dem Einsatz von Kampfverbänden, die sich gegenüber der bedrängten Regierung loyal verhielten, [27]entschied insbesondere die Haltung der Bolschewiki über den Ausgang der Ereignisse. Noch zögerten sie, den bewaffneten Aufstand herbeizuführen. Eine vorzeitige Erhebung könnte mit einer Niederlage enden, warnte LeninLenin, Wladimir Iljitsch.


Demonstrationen in Petrograd im Juli 1917. Immer mehr Menschen lehnten die bisherige Kriegspolitik der Provisorischen Regierung ab.


KerenskijKerenskij, Alexander F. und die Provisorische Regierung 1917

Alexander KerenskijKerenskij, Alexander F., der Fürst LwowLwow, Georgij J. (Fürst) im Juli als Premierminister ablöste, brandmarkte LeninLenin, Wladimir Iljitsch sowie dessen Parteigenossen inzwischen als Putschisten und »verräterische Agenten der Deutschen«. Die Bolschewiki, erklärten Vertreter der Regierung, seien im Auftrag Berlins damit befasst, Russland ins Chaos zu stürzen. Etwa 800 Gefolgsleute von LeninLenin, Wladimir Iljitsch wurden daraufhin verhaftet. LeninLenin, Wladimir Iljitsch selbst hatte zwar beträchtliche Finanzmittel aus Deutschland erhalten, war aber keineswegs ein willfähriges Instrument von Kaiser WilhelmWilhelm II., dt. Kaiser und dessen Generälen. Er floh schließlich nach Finnland. Von dort aus plante er den Machtwechsel. Ein Streit über die weitere Vorgehensweise spaltete zwar die Anhänger LeninsLenin, Wladimir Iljitsch. Dieser profitierte aber von der zunehmenden Destabilisierung des Landes. Der Staat, bemerkte der Schriftsteller Konstantin PaustowskijPaustowskij, Konstantin, »zerfiel wie ein Klumpen feuchten Lehms«, und »an der Front schmolz die Armee unaufhaltsam hinweg«.

Während die Gesamtlage auch die Gremien der sozialistischen Regierungsparteien in eine noch tiefere Krise stürzte, verlor das Kabinett [28]KerenskijKerenskij, Alexander F. weiter an Boden. In entscheidenden Fragen der Außen-, Friedens-, Sozial- und Agrarpolitik legte es keine Tatkraft an den Tag. Vielmehr gerieten sich der Premier und der neue Oberste Befehlshaber des Heeres, Lawr G. KornilowKornilow, Lawr G., darüber in die Haare, welche Rolle ihnen bei der Wiederherstellung der Ordnung zufallen solle. KerenskijKerenskij, Alexander F. gelang es schließlich, den Rivalen loszuwerden.


Demonstration gegen den »KornilowKornilow, Lawr G.-Putsch« 1917

Sein erfolgreiches Auftreten gegen den sogenannten »KornilowKornilow, Lawr G.-Putsch« erwies sich jedoch als Pyrrhussieg. Die »sozialistische Einheitsfront«, die KerenskijKerenskij, Alexander F. gegen die Militärs bildete, half letztlich nur den Bolschewiki, die speziell in den hauptstädtischen Räten bald den Ton angaben. Der wichtigste Mitstreiter LeninsLenin, Wladimir Iljitsch zu jener Zeit, Leo TrotzkiTrotzki, Leo, wurde zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjets gewählt. TrotzkiTrotzki, Leo [29]lenkte außerdem ab Oktober 1917 ein Militärrevolutionäres Komitee zur Verteidigung gegen vorrückende deutsche Truppen und zur Abwendung der »Konterrevolution«. Damit verfügte er über einen »Generalstab«, dem sich die Garnison der Hauptstadt unterstellte. KerenskijKerenskij, Alexander F. bekam kaum mehr Unterstützung, um sich gegen den Angriff der Bolschewiki zu verteidigen.


Das Ankleidezimmer der Zarin im Winterpalais nach dem Machtwechsel. Die wichtigsten Gebäude wurden von den Bolschewiki und ihren Anhängern in Petrograd handstreichartig und ohne größere Gefechte besetzt.

Russland war im Oktober 1917 reif für einen neuerlichen Machtwechsel. In Petrograd vollzog er sich im Umfeld des zweiten Sowjetkongresses vornehmlich als Staatsstreich. Anderswo, vor allem in Moskau, konnte die Räteherrschaft erst nach tagelangen Kämpfen etabliert werden. Dass LeninLenin, Wladimir Iljitsch obendrein den Umsturz im Namen der Räte zur Etablierung der bolschewistischen Einparteiendiktatur nutzte, vertiefte die Differenzen unter den Linken zusätzlich. Die mächtige Eisenbahnergewerkschaft verlangte daraufhin einen Interessenausgleich [31]zwischen den sozialistischen Kräften und drohte, andernfalls das Transportwesen zum Erliegen zu bringen. Angesichts der Gefechte in Moskau willigte die bolschewistische Parteileitung in Gespräche mit den Menschewiki und den Sozialisten-Revolutionären ein.

Dann aber wendete sich das Blatt. Militärisch gewannen die Bolschewiki vor allem auch in Moskau die Oberhand. KerenskijKerenskij, Alexander F. stand als Verlierer fest. Die neu geschaffene Regierung, der Rat der Volkskommissare unter der Leitung von LeninLenin, Wladimir Iljitsch, setzte sich durch. Daraufhin brach LeninLenin, Wladimir Iljitsch die Verhandlungen ab, um unverzüglich mit den Eisenbahnern hart ins Gericht zu gehen und ihre Gefangennahme zu fordern. Parallel dazu nahm er die parteiinternen Gegner ins Visier, deren Kompromissbereitschaft gegenüber den sozialistischen »Verrätern« er anprangerte. Die Attackierten verließen aus Protest das bolschewistische Zentralkomitee. Fünf Volkskommissare stellten überdies ihre Posten zur Verfügung. Sowohl in der Provinz als auch in der Hauptstadt herrschten Uneinigkeit und Zwietracht.


Panoramagemälde (Ausschnitt). Die »Oktoberrevolution« als opferreiche Massenerhebung war speziell in Bezug auf die Ereignisse in Petrograd ein Mythos der Sowjetführung. Verbreitung fand er in der Retrospektive vor allem durch visuelle Medien. Neben Gemälden waren es insbesondere die Szenenbilder von Sergej EisensteinsEisenstein, Sergej Film Oktober, die international Wirkung zeigten.

Nie war Russland der vollständigen Anarchie näher als in den Tagen der Machtergreifung LeninsLenin, Wladimir Iljitsch und in den darauffolgenden Monaten. Der Umsturz hatte unmittelbare Folgen und verlief mancherorts spektakulär. Zum großen Wendeereignis wurde die Oktoberrevolution letztlich aber erst in der Nachbetrachtung, als ihre mittel- und langfristigen Auswirkungen bereits bekannt waren.

Der Russische Bürgerkrieg 1917–1922

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