Читать книгу Generation Y - wie wir glauben, lieben, hoffen - Hannes Leitlein - Страница 5
Оглавление„Lass mich dich lernen“
Unsere Gesellschaft befindet sich in einem rasanten Wandel, was auch für Christinnen und Christen und Kirchen enorme Herausforderungen mit sich bringt, die alle Lebens- und Glaubensbereiche betreffen. Globalisierung, Pluralisierung und Digitalisierung sind nur Beispiele dieser großen Veränderungen, in denen wir uns gerade befinden. Der Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn hat dies mit dem Begriff „Paradigmenwechsel“ sehr plausibel beschrieben. Demnach ist ein Paradigmenwechsel wie ein großer Wirbelsturm, der über die Erde stürmt und maßgeblich und nachhaltig das Denken, Leben und Verstehen von uns Menschen verändert. Als Beispiele nannte Kuhn die Kopernikanische Wende vom geozentrischen hin zum heliozentrischen Weltbild und den Beginn der Industrialisierung mit der Erfindung der Maschinen, die das gesamte Arbeitsleben revolutioniert hat. Aber nicht nur das: Es begann die Verstädterung; Familienstrukturen veränderten sich, die ganz neue gesellschaftliche Schicht der Arbeiter entstand und eine neue Armut machte sich breit, die im Kontext der Kirche mit dem Aufkommen der „Inneren Mission“, aus der die heutige Diakonie entstand, beantwortet wurde. Die Frage, vor der wir gerade stehen, lautet: Befinden wir uns heute auch in einem Paradigmenwechsel? Ich würde das mit vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bejahen: Die Folgen des „Sturms“ sind zumindest schon teilweise sichtbar und haben unsere Lebenslandschaft verändert.
Der Sturm, der alles verändert
Um diese Kraft des Paradigmenwechsels besser einzuordnen, möchte ich ein Bild gebrauchen: Wir Menschen haben uns Brücken als Antworten über die Flüsse unserer kleinen und großen Lebensfragen gebaut. Stellen Sie sich vor, dass nun dieser große Wirbelsturm über die Erde fegt und die Flüsse mit all den Lebensfragen von uns Menschen maßgeblich und nachhaltig verändert und zwar im Denken, Arbeiten, Glauben und im Verstehen des gesamten Lebens. Die Folgen des Sturms sind gravierend und zeigen sich ganz plastisch: Eine Brücke steht in der Mitte der Landschaft, neben der Brücke fließt ein Fluss. Was ist passiert? Ein Sturm hat den Flusslauf verändert, die Brücke ist aber stehen geblieben und steht nun neben dem Fluss. Die Brücken, die wir uns über manche früheren Lebensfragen mühsam gebaut haben, führen nicht mehr ans Ziel. Dies bedeutet aber auch, dass die Brücken nicht mehr ihr eigentliches Ziel erfüllen, und die Frage ist: Brauchen wir neue Brücken, die über die veränderten Flussläufe führen? Also neue Versuche in Leben, Denken und Glauben, die Lebensfragen der Menschen zu beantworten? Wie können die neuen Brücke aussehen? Und welche Brücke müssen wir neu bauen? Wo sind bewährte Brücken?
Die neuen Brücken der Generation Y
Genau mit solchen neuen Brücken beschäftigt sich das Autorenteam Hannes Leitlein und Stephanie Schwenkenbecher in ihrem Buch „Generation Y. Wie wir glauben, lieben, hoffen“. Dabei wälzen sie keine Theorien oder entwerfen neue Pläne, sondern sie gehen an die Flussläufe und beobachten und fragen die jungen Menschen, die schon lange dabei sind, neue Brücken zu bauen, weil sie die alten gelangweilt verlassen haben. Sie lassen die neue Generation zu Wort kommen, hören zu, stellen Fragen, zeigen mit ihren Fotos und Filmen ihre Weltsichten und drucken mit Songtexten ihr Lebensgefühl aus. Dabei geht es ihnen nicht um eine repräsentative Erhebung oder gar um eine schnelle Pauschalisierung, sondern um eine Begegnung mit ausgesuchten Vertreterinnen und Vertretern dieser neuen Generation. Und so gewähren sie uns einen interessanten Einblick in ihr Leben, ihren Glauben, ihre Hoffnungen und ihre Ängste. Dabei gehen Hannes Leitlein und Stephanie Schwenkenbecher behutsam vor, nehmen uns an die Hand und schärfen durch ihre Fragen unseren Blick für die kleinen und großen Veränderungen dieser jungen Menschen. Der katholische Bischof Klaus Hemmerle hat das einmal wunderbar ausgedrückt: „Lass mich dich lernen, Dein Denken und Sprechen, Dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich Dir zu überliefern habe.“ Und genau das ist möglich, wenn man die Porträts von Jonte, Katharina, Alina, Thomas, Elena, Ralf, Salama, Stefanie oder Simon liest und von ihnen lernt und dadurch ein neues Bild des Glaubens von dieser neuen Generation bekommt. Dies alles geschieht in einer Haltung, die sprichwörtlich entscheidend ist, um diese Generation zu verstehen. Und so entsteht ein Bild vor den Augen der Leserinnen und Leser und wir beginnen zu sehen, wie sie neue Brücken bauen und Kirche und Glauben in frischen Formen leben. Das alleine ist es schon wert, das Buch zu lesen, aber es gibt noch mehr.
Die Reflexion und die Konsequenzen
Angefangen wird der letzte Teil des Buches mit einer Reflexion von Christina Brudereck und Fulbert Steffensky. Sie bringen jetzt wieder etwas Abstand hinein und geben mit ihren Erfahrungen und Wissen eine spannende Reflexionsfläche für das Verstehen der neuen Generation ab. Die wunderbar poetische Christina Brudereck ist noch näher dran und doch eine Generation weiter, bestätigt, ermutigt und hinterfragt die neue Generation und beginnt für sie und mit ihr zu träumen. Fulbert Steffensky, der große alte Mann der Theologie, führt einem vor Augen, wie groß der Paradigmenwechsel wirklich ist und wie wichtig neue Brücken für diese Generation sind, wenn er sagt: „Ihr seid Meister eines neuen Wissens. Wissen aus dem Experiment heißt nun neues, bisher nicht bekanntes Wissen.“ Und so lernen wir aus dem Reichtum von Jung und Alt und staunen, wie Reformation ganz leise aussehen kann.
Resümee: „Die Menschen in diesem Buch sind Kirche“
Am Schluss und noch lange nicht am Ende fassen Hannes Leitlein und Stephanie Schwenkenbecher ihre Eindrücke dieser „Generation Reformation“ zusammen. In fünf Themen beschreiben sie für Kirche und Gemeinde, was sie als wichtig, dringend und herausfordernd wahrnehmen, und kommen zu dem Ergebnis: „Die Menschen in diesem Buch sind Kirche“, machen farbenfrohe Erfahrungen im Glauben, lieben die Beteiligungskultur und geben dem Glauben ein Gesicht. Und diese Gesichter machen Hoffnung und Lust, mit dieser Generation zu glauben und zu arbeiten, ja, Kirche zu sein. Dieses Buch sollte zur Pflichtlektüre für alle Pfarrerinnen und Pfarrer, Pastorinnen und Pastoren gemacht werden, damit sie vor lauter Arbeit und Pflicht diese Generation in ihren Kirchen und Gemeinden nicht übersehen und übergehen.
Und so sehe ich am Ende des Buches keine fertigen Brücken, aber ich verstehe die Flüsse der Generation Y besser, ihre Fragen, Hoffnungen und Ängste und ihren Glauben in all dem und das lässt mich erahnen, wie die Brücken der Zukunft auszusehen haben, und ich lehne mich zurück und sage: „Lass mich dich lernen“.
Dr. Tobias Faix
Professor für Praktische Theologie an der CVJM-Hochschule und Leiter des Forschungsinstituts empirica für Jugendkultur & Religion