Читать книгу Sekt(e) oder Selters - Hannes Wildecker - Страница 8
3. Kapitel
ОглавлениеEs war Samstag, kurz vor 9 Uhr. Lisa und ich hatten endlich mal wieder so richtig ausschlafen können, was an den Wochenenden schon lange nicht mehr der Fall gewesen war. Ich hatte mich an diesem Morgen sogar aufgerappelt, war in die Küche geschlichen, während Lisa noch schlief und hatte Frühstück gemacht.
Während der Kaffee in der Maschine vor sich hin brabbelte suchte ich Brot, Butter und die üblichen Dinge zusammen, die ein Frühstück ausmachten und stellte zwei Frühstücks-Eier zum Kochen auf den Herd auf.
Ein paar Minuten später erfüllte Kaffeeduft die gesamte Wohnung. Ein herrlicher Geruch, den ich allzu selten in meinen eigenen vier Wänden wahrnehmen konnte. Immer wieder kam irgendetwas dazwischen, so dass ich meist, mit der Tasse in der linken, einer Scheibe Brot in der rechten Hand und auf dem Sprung, an irgendeinem Tatort erwartet wurde.
Heute fühlte ich mich wie ein König. Bei Lisa konnte ich Punkte sammeln. Ein Frühstück im Bett, dafür würde sie eines ihrer schönsten Paar Schuhe hergeben. Heute schien es zu funktionieren. Auch ich war erleichtert. Endlich mal wieder ein Wochenende, an dem ich mit Lisa etwas unternehmen konnte.
Ich schnappte mir das Tablett mit dem Frühstück für zwei und wollte gerade mit vor Stolz gewölbter Brust Lisa im Schlafzimmer als treusorgender Fast-Ehemann meine Aufwartung machen, da läutete die Türklingel.
Erstaunt sah ich erst auf Lisa, dann auf meine Uhr und mit einem Schulterzucken warf ich mir den Morgenmantel um und öffnete die Haustür. Ich zwinkerte mit den Augen, denn die Junisonne schlug mir voll auf die Pupillen. Warum das so war, stellte ich fest, nachdem sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten.
Vor mir standen zwei Gestalten männlichen Geschlechts, beide in schneeweiße Anzüge gehüllt. Anzüge war eigentlich nicht der richtige Ausdruck für die Kleidungsstücke. Ich schaute mir die beiden Gestalten näher an, musste dabei die Augen immer noch zur Hälfte geschlossen halten. Da standen zwei Figuren vor mir, von denen ich annahm, dass es sich um Männer handelte. Beide waren um die fünfzig, schätzte ich jedenfalls, beide waren glattrasiert, beide waren braun gebrannt.
Urlauber! Ja, Urlauber, die ihre Zeit hier im Hunsrück verbringen wollten, Ausländer offenbar. Vielleicht Inder oder so. Dafür würden auch die Kleidungsstücke sprechen. Weiß, alles weiß. Schneeweiß. Weiß die Hose, weiß die Schuhe, weiß das, was sie darüber trugen. Es waren keine Jacketts, es waren Umhänge oder Pelerinen, ohne Knöpfe, ohne Reißverschlüsse, einfach Umhänge mit einem Loch, durch das man den Kopf steckte, ärmellos. Darunter trugen sie Hemden mit langen Ärmeln, die Kragen hatten beide über die Öffnung am Hals gelegt. Auf ihren Köpfen trugen sie kleine Kappen, ähnlich wie Matrosen sie trugen, jedoch ohne die beiden Bändchen an der Nackenseite und … wie konnte es anders sein … natürlich in Weiß.
Was nicht zu ihnen passte, waren die beiden Plastiktüten, die sie, jeder eine, in ihren Händen hielten.
Sie wollten mich sicher nach dem Weg fragen, nach irgendeinem Hotel hier in Forstenau, die beiden Urlauber. Ob ich sie in Englisch anreden sollte, überlegte ich, doch der eine von ihnen, ich glaube er war etwas älter als der andere, zumindest waren die Falten seiner durch die Sonne gegerbten Haut einen Deut tiefer, kam mir zuvor.
„Auf geradem Weg zu Gott!“
„Wie bitte?“
„Auf geradem Weg zu Gott! So nennen wir uns“, wiederholte der Mann, der von großer Statur war. Er trug einen Zopf, in den seine schwarzen langen Haare gefasst waren.
„Wie ich sehe, haben Sie noch nichts von unserer Existenz mitbekommen. Aber genau das ist ja auch der Grund, warum wir uns den Menschen hier in diesem schönen … äh Ort vorstellen. Wir sind eine Glaubensgemeinschaft. Auf geradem Weg zu Gott lautet unsere Devise und das ist auch gleichzeitig der Name unserer Kirche.“
„Dann gehören Sie also der Sekte an, über die …?“
Nun schaltete sich auch der zweite Mann in das Gespräch ein. Er war ein gutes Stück kleiner als sein Kollege und der Kopf mit seiner Hakennase nickte auf- und abwärts, als wolle er mich damit gleich einem Schnabel anhacken, als er sagte: „Sekte? Wer sagt denn sowas? Nein, wir sind eine, mein Bruder sagte es bereits, Glaubensgemeinschaft. Dürfen wir uns mit Ihnen unterhalten? Wenn sie ein paar Minuten Zeit für uns hätten.“
Nun war es an der Zeit, mich gegen eine ungewollte Missionierung zur Wehr zu setzen. Und auch dagegen, dass mir die beiden irgendwelchen Schriftkram in die Hand drückten, denn der Lange mit dem Zopf griff in seine Plastiktüte und förderte eine Lage Zeitschriften zutage.
„Es tut mir furchtbar leid, aber wir müssen das Gespräch leider beenden“, sagte ich schnell, bewusst Hektik verbreitend. „Religion an der Haustür, das liegt mir nicht …“
„Dürfen wir denn hereinkommen …?“
„… und außerdem ist das ein äußerst ungelegener Moment. Sie entschuldigen mich.“
Ich schloss langsam die Tür, den Blick auf den Fuß des Hakennasigen gerichtet, der sich langsam in Richtung des Türspalts geschoben hatte. Doch mein Gegenüber hatte meinen Blick richtig gedeutet und sein Bein wieder entspannt, was ihm einige Schmerzen in der Kniegegend ersparte.
Ich atmete durch, als ich die Tür ins Schloss fallen hörte und war gerade im Begriff die Treppe zur Diele hochzugehen, als ich ein sattes Platschen hinter mir vernahm.
Ich wusste was es war, noch ehe ich mich umgedreht hatte. Mein Verdacht fand sich bestätigt. Unter dem Briefkastenschlitz lag eine Zeitschrift, die Vorderseite in einem satten Himmelblau, auf dem sich ein Arm diagonal nach oben richtete und mit dem Finger – Gott sei Dank nicht mit der flachen Hand - gen Himmel zeigte und mir fett in einem tiefen Blau Auf geradem Weg zu Gott zuschrie.
Ich nahm die Zeitschrift vom Boden auf und als ich die Küche betrat, war Lisa bereits dabei, den Kaffeetisch zu decken. Das Frühstück im Bett hatte also ein jähes Ende gefunden, noch ehe es begonnen hatte. Sie trug ihre Haare, die sie für gewöhnlich zu einem Knoten zusammenband, noch offen. Ich liebte es, wenn ihr die Haare ins Gesicht fielen und sie eine Strähne mit einem kräftigen Luftstrom ihrer zusammengepressten Lippen nach hinten blies.
„Wer war das?“, fragte Lisa und arbeitete weiter und ich wusste nicht, ob es sie tatsächlich interessierte. Erst als sie mich fragend ansah erklärte ich ihr den morgendlichen Besuch an der Haustür.
„Ist aber ein komischer Name, Auf geradem Weg zu Gott. Aber Phantasie haben sie ja, diese Leute.“
Lisa zeigte auf das Titelblatt der Zeitschrift.
„Der Arm dort soll sicher diesen ‚Weg‘ zeigen.“
Dann wechselte sie plötzlich das Thema und ab diesem Moment war der Tag für uns beide stimmungsmäßig gelaufen.
„Was findest du besser, soll ich meine Haare zu einem Knoten binden oder soll ich sie offen tragen, oder vielleicht zu einem Pferdeschwanz fassen? Was meinst du?“, fragte Lisa und tat weiterhin beschäftigt.
Wer die Frauen kennt, der weiß, dass sie in einer solchen Situation nur auf eine Antwort lauern und zwar auf eine baldige. Mit dem Hinauszögern dieser Antwort kann man sich nur in Schwierigkeiten bringen. „Jetzt nur nichts Falsches sagen“, kam es mir in den Sinn.
Ich überlegte fieberhaft in den Bruchteilen von Sekunden, die mir zur Verfügung standen. Was sollte ich antworten auf die eigentlich doch so leichte Frage? Würde ein Mann eine solche Frage stellen, ich würde antworten „Mach, was du willst“ und der Käse wäre gegessen. Aber bei einer Frau ist eine solche Antwort der sichere Scheidungsgrund. Was also sollte ich sagen? Ich kannte Lisa. Was ich ihr auch vorschlagen würde, ich würde den Kürzeren ziehen in dem sich anschließend ergebenden verbalen Gefecht.
„Es steht dir alles gut“, versuchte ich mich an einer Entscheidung vorbeizuschlängeln. „Du wirst es schon richtig machen.“
Meine Antwort war ebenso gut oder so schlecht, als hätte ich geschwiegen, was ich auch besser getan hätte, denn nun begann eine Diskussion, die ich mir eigentlich hatte ersparen wollen.
„Es interessiert dich also nicht, wie ich aussehe? Oder wie soll ich deine Antwort verstehen?“
„Natürlich interessiert es mich, wie du aussiehst. Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, dass dir einfach alle Frisuren stehen.“
Es klang etwas ruhiger, als Lisa weitersprach.
„Aber es gibt doch Unterschiede. Wenn ich einen Knoten oder einen Pferdeschwanz trage, wirkt mein Gesicht doch bestimmt breiter.“
„Dann trage dein Haar doch einfach offen.“
Kaum hatte ich diesen Satz ausgesprochen, hätte ich mir auf die Lippen beißen können.
„Du blöder Hund“, dachte ich bei mir. „Es hätte so ein schöner Morgen werden können.“
„So ist das also. Mein Gesicht ist zu breit. Du möchtest, dass ich es mit dem offenen Haar verdecke?“
Lisa hörte auf, den Tisch weiter zu decken und sah mich geradeheraus an.
„Nein, Lisa, du gefällst mir so, wie du bist. Du verstehst mich falsch. Mir gefällt einfach alles an dir.“
„Und das soll ich dir glauben?“
Lisa begann zu schmollen, was eigentlich ein sehr schlechtes Zeichen war. Schmollen bedeutete, dass sie sich einen Moment selbst bedauerte. Normalerweise wechselte dieses Schmollen in Vorwürfe an mich, verbunden mit einigen Krokodils-Tränen.
„Ich werde mein Haar offen tragen, dann sieht man nicht, dass mein Gesicht zu breit ist.“
„Aber Lisa, jetzt dramatisiert du aber meine Worte. Ich wollte doch nur …“
Mitten in meinen verzweifelten Satz läutete das Telefon.
Es klang wie eine Erlösung und selten, das muss ich an dieser Stelle gestehen, habe ich so sehnlich auf einen Anruf gewartet, Samstag hin oder her. Mit einem erleichterten Blick aus den Augenwinkeln auf Lisa hob ich den Hörer ab.
„Ich komme!“, sagte ich, nachdem ich meinem Gegenüber eine Zeitlang zugehört hatte und legte auf.
„Lisa, ich muss weg, der Dienst ruft“, sagte ich betont ruhig. „Es hat einen Toten gegeben.“
„Dass man damit immer wartet, bis es Wochenende ist …“
„… an dem ich Bereitschaft schiebe, ich weiß. Aber stell dir vor, der Tote liegt nicht weit von hier. Der Tatort ist hier in Forstenau …“
„Du meinst den Fundort. Mir hast du einmal erklärt, dass der Tote ja nicht unbedingt am Fundort ermordet worden sein muss.“
Hörte ich da eine Spur an Aggressivität in der Bemerkung Lisas? Eine Retourkutsche. Ich sollte bei diesem Thema bleiben!
„Du hast Recht. Der Fundort muss nicht gleich Tatort sein. Du willst nicht wissen, was passiert ist?“
Lisa fuhr sich durch ihre Haare und tat, als sei ich nicht anwesend. Sie fasste die Haare mit beiden Händen und schob sie nach hinten zu einer Art Pferdeschwanz, ohne sie jedoch mit einer Klammer oder einem Band zu fixieren, dann ließ sie sie wieder ins Gesicht fallen und wiederholte den Vorgang. Wortlos!
„Was ist passiert?“, fragte sie dann beiläufig und ich kam mir vor wie ein kleiner dummer Junge. Wenn ich ihr jetzt alles erzählte, konnte es sein, dass sie kaum hinhörte und dann würde sie erneut fragen: Was hast du gesagt? Nein, darauf wollte ich mich nicht einlassen. Nicht heute, nicht jetzt.
„Lisa, ich muss los. In der Nähe der Diskothek liegt ein Toter. Ich bin also in deiner Nähe.“
Im Hinausgehen hörte ich noch ein schwaches „Pah“, dann fiel die Tür hinter mir zu.
Ich war erleichtert. Bis heute Abend würde Lisa den Vorfall vergessen haben. „Welchen Vorfall?“, fragte ich mich. Das war doch kein Vorfall, das war eine Falle, in die sie mich gelockt hatte. Eine verbale Falle, gestellt mit den Motiven weiblicher Eitelkeit. Verstehe einer die Frauen.
Es war mir noch nie passiert, dass ich vergaß, Terry, unseren Hund, am Morgen zu begrüßen. Heute war eben alles anders gelaufen. Terry fristete sein Dasein in der ehemaligen Waschküche, einige Stufen unterhalb der Küche und verlieh anlässlich unserer Stimmen seiner Verwunderung Ausdruck darüber, dass man ihn nicht zu dieser Diskussion hinzugezogen hatte.
***
Der Anruf kam vom Kriminal-Dauerdienst beim Polizeipräsidium in Trier. Ein Kollege, ich muss gestehen, seinen Namen hatte ich nicht verstanden, einer von diesen Jungspunden war in der Leitung, einer von denen, die frisch von der Polizeischule kamen und sich die ersten Sporen verdienen mussten. Wie jeder Neuling beim Kriminal-Dauerdienst.
„Hallo, Herr Spürmann, hier hat soeben ein Herr Marx aus Forstenau - ihrem Heimatort, wie man mir sagte - angerufen. In der Nähe der Diskothek – ich gehe davon aus, Sie werden die Örtlichkeit kennen - wurde eine Leiche gefunden. Die Kollegen der Schutzpolizei Hermeskeil sind schon dort und sichern den Tatort. Hauptkommissar Peters von der Spurensicherung ist mit seinen Leuten ebenfalls bereits unterwegs.“
Eine umfassende Information des jungen Kollegen, das musste ich zugeben. So bedankte ich mich artig und machte mich auf zum Tatort, oder wie Lisa mich selbst zitierte, zum Fundort der Leiche.
Dass Heinz Peters die Spurensicherung übernahm beruhigte mich ungemein. Auf ihn war Verlass, in jeder Hinsicht, nicht nur in dienstlicher. Er war mir mit den Jahren, in denen wir zusammenarbeiteten, zum Freund geworden.
Es waren nur wenige Hundert Meter zur Diskothek „Inferno“ und ich fragte mich zum wiederholten Male, wie man einer solchen Einrichtung einen solchen Namen geben konnte. Wahrscheinlich ging es heiß her in ihrem Inneren oder viele Teufelchen brachten die Junggesellen oder die, die es gerne wieder gewesen wären, auf höllische Temperaturen. Vielleicht hatte ja einer der Gäste diese Temperaturen nicht verkraftet und sein Herz war dahingeschmolzen, sozusagen. Na ja, ich würde es gleich erfahren.
Von weitem sah ich schon die rotierenden Blaulichter der Fahrzeuge der Hermeskeiler Kollegen und fast zeitgleich mit mir traf ein Krankenwagen des DRK Zerf ein, auch mit Blaulicht und ich war erleichtert, dass man wenigstens das Martinshorn ausgeschaltet ließ.
Ich steuerte mein treues Gefährt - ich fuhr immer noch meinen alten Opel Astra Kombi, Baujahr 1991, der mir irgendwie ans Herz gewachsen war - auf den Parkplatz der Disko und marschierte, den Notizblock in der Hand, zu der Gruppe Menschen auf einer frisch gemähten Wiese, etwas abseits der Diskothek.
Die Kollegen vom Erkennungsdienst hatten bereits ganze Arbeit geleistet und den Tatort großräumig mit Flatterband abgesperrt. Ich sah mich um. Noch waren kaum neugierige Gaffer in der Nähe, doch das würde sich in den nächsten Minuten schlagartig ändern, dessen war ich mir ganz sicher.
Ich ging vorbei an Kollegen der Schutzpolizei Hermeskeil und nickte ihnen zu. Die meisten von ihnen kannte ich, hatte oft Kontakt zu ihnen und was mir sehr wichtig war, sie unterstützten mich bei jedem Einsatz und ließen sich mit Begeisterung in die Ermittlungen einbinden und konnten dabei auch oftmals eigene Erfolgserlebnisse verzeichnen.
Ein Kollege in Zivil hob das Absperrband hoch, bückte sich darunter durch und trat auf mich zu. Es war Frank Petry, der Chef der Kriminaldienststelle in Hermeskeil und dennoch nicht zuständig in diesem Fall. Oder vielleicht doch? Es würde sich sicher gleich herausstellen. Wenn es sich um einen Suizid, also einen Selbstmord handelte, dann war Petry schon zuständig und ich könnte wieder abrücken.
Lag allerdings ein Kapitalverbrechen, ein Mord oder, sagen wir ein Todesfall mit den Merkmalen eines Fremdverschuldens vor, dann war die Mordkommission zuständig und deren Vertreter war an diesem Morgen nun einmal ich. In diesem Fall aber würde ich die Unterstützung von Petry bekommen, die ich gerne in Anspruch nehmen würde, denn die würde ich dann auch bitter nötig haben.
Als Ermittler war ich momentan allein auf weiter Flur. Leni, meine Kollegin, hatte man offensichtlich nicht informiert, noch nicht. Die Kollegen von der KTU, der Kriminaltechnischen Untersuchung oder der SpuSi, was so viel bedeutet wie Spurensicherung, waren bereits vor Ort. Doch sie würden wieder abziehen, wenn ihre Arbeit getan war. Dann war ich auf mich selbst gestellt und für jede Hilfe dankbar.
Noch war ich ahnungslos und wusste absolut nicht, was mich erwartete. Man hatte mir nur von einer Leiche berichtet, die man hier gefunden hatte, nicht mehr und nicht weniger.
„Da bist du ja, Heiner!“, begrüßte mich Petry. „Ich hoffe, du machst dich gut im Deuten von Symbolen?“
„Von welchen Symbolen? Was meinst du?“
„Die Tote hat ein Brandmal auf der Stirn. Hat man auch nicht alle Tage, so einen Fall.“
„Was für ein Fall? Ich glaube, du solltest mir erst einmal alles erzählen, was du weißt. Was ist hier passiert. Und bitte eines nach dem anderen. Wer hat die Leiche gefunden?“, fragte ich Petry.
„Einer der Inhaber der Disko. Miguel Marx heißt er. War total übernächtigt. Wenn du ihn brauchst, hier ist seine Anschrift. Wie er mir sagte, ist er heute Morgen gegen acht Uhr hierher gefahren. Weil er nicht schlafen konnte, wollte er in der Diskothek noch etwas aufräumen. Er hat die verpackte Leiche gefunden und sofort den Notruf gewählt. Aber was hier passiert ist, kann ich dir nicht sagen. Da musst du die Spurensicherung fragen“, antwortete Petry und fuhr sich durch das lichte Haar, das über der Stirn fast völlig fehlte und an den Seiten von seiner ursprünglichen braunen Farbe bereits ins Graue wechselte.
Petry war wie ich kurz vor fünfzig und in einem Jahr würden sich die restlichen Haare wohl alle verabschiedet haben.
„Was ich dir sagen kann ist, dass es sich um eine Frau handelt, die man in einer Decke eingewickelt hier abgelegt hat.“
„Todesursache?“
Petry zuckte die Achseln.
„Auch das musst du die Kollegen von der SpuSi fragen, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig sind. Dauert sicher noch etwas.“
Ich hob das Flatterband mit der Aufschrift „Kriminalpolizei“ an und kletterte darunter durch. Petry folgte mir wortlos. Dann erkannte ich auch schon die beiden Kollegen der Kriminaltechnik, die sich in gebeugter Haltung vor der Leiche befanden und über etwas zu diskutieren schienen.
Der ältere von ihnen war Heinz Peters. Als er auf uns aufmerksam wurde, drehte er sich in meine Richtung. Auch der junge Kollege neben ihm drehte sich kurz um, nickte mir mit einem freundlichen „Hallo“ zu und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Hallo. Das ist heute der Gruß der jungen Leute. Oder hey, aber Sprüche wie Guten Tag, den haben sie kaum noch drauf.
„Wieso bin ich eigentlich der Erste, der hier am Tatort auftaucht, obwohl du gerade mal einen Steinwurf weit entfernt deine Wohnung hast?“, begann Peters zu spötteln, wurde aber sogleich wieder ernst und stand auf, wobei er sich mit der linken Hand den Rücken hielt.
„Es wird immer schlimmer mit dem Kreuz. Ischias. Ein eingeklemmter Nerv“, stöhnte er. „Kommt neuerdings immer häufiger vor.“
„Ja, das Alter.“ Ich nickte und lachte kurz auf. „Vorzeitige Rente, die einzige wahre Lösung für das Übel.“
„Die einzige Lösung? Heiner, du weißt, wie alt ich bin, wie alt wir beide sind. Wenn wir heute Feierabend machen, mit dem Segen aller Doktoren, wird uns das ganz schön auf den Geldbeutel schlagen. Die Zeiten, wo du an eine vorzeitige Pensionierung aus Krankheitsgründen ohne Abzüge denken konntest sind vorbei. Also: Durchhalten heißt die Parole.“
Wo er Recht hatte, hatte er Recht. In diesem Jahr noch würden wir beide die Schallgrenze der Fünfziger-Mauer durchbrechen. Fünfzig Jahre, die Zeit verging wie im Flug. Ich überlegte, ob ich jünger sein wollte, wenn sich die Möglichkeit dazu böte. Eine Frage, die ich mir schon des Öfteren gestellt hatte. Und immer wieder kam ich zu demselben Ergebnis. Nein! So wie es ist, so ist es richtig. Und außerdem: Warum sollte man die Vergangenheit mit ihren Höhen und Tiefen noch einmal durchleben wollen? Nein, musste nicht sein.
„Was gibt`s?“, wechselte ich das Thema. „Wer ist die Leiche? Was ist passiert. Mord?“
„Viele Fragen auf einmal. Identität negativ. Hat keine Papiere bei sich, nicht einmal einen Geldbeutel. Komm her, sieh dir das an!“
Peters trat zur Seite und ich sah vor uns auf der Erde einen leblosen weiblichen Körper in Rückenlage, gebettet auf einer grauen Wolldecke. Sie war noch sehr jung, diese Frau, vermutlich noch nicht einmal dreißig Jahre alt. Ihre Gesichtszüge waren im Tod noch sehr ansehnlich, sie musste einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein. Das lange dunkelblonde Haar hatte sich neben ihrem Kopf ausgebreitet, so als hätte man die Tote bewusst so gebettet.
Peters schien meine Gedanken erraten zu haben. „Die Frau war in die Decke eingewickelt, eingerollt sozusagen. Wir beide“, er sah zu seinem Kollegen hinüber, „Kollege Franzen und ich, haben sie daraus befreit.“
„Befreit? Naja, wie man`s nimmt.“
Peters überhörte meine Bemerkung.
„Dieser Ort hier ist nicht der Tatort. Die Leiche wurde hierher gebracht, vermutlich mit einem Fahrzeug, und dann hier abgelegt. Verletzungen konnte ich keine feststellen. Aber ich habe da einen grauenvollen Verdacht. Wir sollten warten, bis der Arzt die Tote genauer untersucht hat.“
„Wurde sie … vergewaltigt?“
„Sieht nicht danach aus.“
Peters drehte den Kopf der Frau mit dem Gesicht in meine Richtung und ich erschrak.
„Was ist das?“
„Es sieht aus wie ein Brandmal. Es ist ein Brandmal“, erwiderte Peters. Ein Kreuz, eingebrannt auf der Stirn der Toten. Ist doch pervers sowas, oder?“
„Was will der Täter damit ausdrücken. Er muss sich doch etwas dabei gedacht haben.“
„Vermutlich ist er nur krank im Kopf.“
„Oder er will uns damit etwas mitteilen.“
Peters nickte nachdenklich. „Möglich ist auch ein religiöser Wahn oder so etwas. Hat es doch schon oft gegeben. Vielleicht hat er was gegen Frauen.“
„Oder gegen eine bestimmte Art von Frauen.“
„Du meinst, das Brandzeichen soll eine Art Bestrafung sein?“
„Nicht nur das Brandzeichen. Die gesamte Tat, vielleicht.“
Ich ging erneut in die Hocke und sah mir das Zeichen genau an. Es handelte sich um die Kontur eines Kreuzes, etwa vier Zentimeter hoch und zwei Zentimeter breit. Was anders war, als die Kreuze, die ich kannte, waren die waagerechten und senkrechten Abdeckungen auf den jeweiligen Enden der Balken.
Der Umriss des Kreuzes war nicht akkurat gearbeitet. Es hatte den Anschein, als habe man das Teil auf die Schnelle zusammengelötet. Ich würde mir den Abdruck in der Leichenhalle näher ansehen.
Ich sah mich um. „Ist ein Arzt verständigt?“
„Ist alles erledigt. Auch der Bestatter ist informiert.“
„Was ist mit der Decke? Irgendwelche Spuren?“
„Ja, die Decke. Auf sie wird sich unsere ganze Hoffnung stützen. Auf ihr wird es vor DNA-Spuren wimmeln. Wir brauchen dann nur noch die entsprechende Gegenprobe. Ist doch eigentlich ganz einfach, nicht wahr?“
Ich stand langsam aus meiner gebeugten Haltung auf und als Peters mir dabei zusah, musste er leise lachen. „Willkommen im Klub! Darf ich dir hochhelfen?“
Ich wehrte seine Hand ab und betrachtete die Tote, die eine auffallende Blässe überzog. Natürlich sind alle Toten blass, auch das eingefallene Gesicht, die tiefliegenden Augen, die spitze Nase sind Merkmale, die alle Leichen vorweisen, aber ein Hauch von Farbe ist immer noch zu erkennen.
Ich sah Peters an. „Du sagtest, du hast einen Verdacht? Was für einen Verdacht?“
„Fällt dir nichts auf?
Ich sah mir die Leiche noch einmal genauer an.
Die Leichenflecke! Ich sah keine Leichenflecke! Die Frau lag zwar auf dem Rücken, doch Peters hatte die Oberbekleidung bei seiner polizeilichen Untersuchung bis zu den Brustwirbeln hochgezogen und wären da Leichenflecke gewesen, ich hätte zumindest die Ansätze sehen müssen.
„Habt Ihr die Leiche in Rückenlage vorgefunden?“, frage ich den Kollegen, der mich nachdenklich ansah und nickte.
„Es ist dir also auch aufgefallen.“
„Die Totenflecke auf Rücken oder Bauch fehlen. Das ist doch nicht normal. Entweder die Leiche lag nach der Tat auf dem Boden, dann befinden sich Leichenflecke im Rücken- oder Bauchbereich. Oder die Frau wurde umgebracht, während sie saß. Dann aber müssten an ihrem Gesäß diese Flecken sichtbar sein. Drehen wir die Leiche doch noch einmal zur Seite!“
„Lass mal!“ Peters winkte seinen jungen Kollegen heran und gemeinsam mit ihm drehte er die tote Frau in eine Seitenlage, ihren Rücken zu mir gewandt, und sah zu mir hinauf.
„Nichts, absolut nichts, bis auf die leichte Rötung auf dem Gesäß und den Bereich der Füße. Dort sind Blutabsetzungen zu erkennen.“
Die beiden legte die Frau wieder in Rückenlage ab und Peters stand auf.
„Das Blut senkt sich in einem Toten immer nach unten ab. Das Gesetz der Schwerkraft, gegen das keine Pumpe mehr angeht. Aber wo ist hier das Blut?“
„Es wird eine Erklärung dafür geben. Der Doc wird sie eingehend untersuchen müssen. Wir bleiben dabei, bis er fertig ist“, sagte Peters.
„Hast du wirklich keine Verletzungen feststellen können? Messerstiche oder ähnliches? Die Frau scheint doch verblutet zu sein.“
„Nein, es gibt keine Anzeichen von Gewalt, außer …“
„Außer was?“
„Sie hat leichte Rötungen an den Handgelenken, wahrscheinlich Fesselungsmerkmale. Wenn sie tatsächlich verblutet ist, hat durch die Fesselung vor ihrem Tod das Blut an diesen Stellen eine Stockung erfahren und ist deshalb noch als Farbfleck erkennbar.“
„Guten Morgen, die Herren. Sie entschuldigen die Verspätung, aber ein dringender Patientenbesuch … Sie verstehen.“
Wir drehten uns fast gleichzeitig um und um ein Haar hätte ich den Mann mit meiner Drehung umgefegt, so dicht stand er vor mir.
„Ich glaube, wir kennen uns noch. Dr. Kämmerlein. Julius Kämmerlein aus Hermeskeil. Wir hatten das seltsame Vergnügen vor einiger Zeit im Waldgebiet von Waldhausen. Der Mann, den man mit einem Schwert übel zugerichtet hatte. Ihr Name war … warten Sie … Spürmann, genau. Ihr Name ist … Spürmann. Ja, Spürmann. Habe ich Recht?“
„Sie haben Recht, Doktor Kämmerlein. Heiner Spürmann, das sind die Kollegen Peters und Franzen.“
Kämmerlein nickte ihnen zu, stellte seine Arzttasche auf dem Erdboden ab und beugte sich zu der Leiche hinab.
„Schlimme Sache, damals“, sprach er wie zu sich selbst, als er seine Tasche öffnete und ein Paar Latex-Handschuhe über seine schmalen Hände streifte. „Mal sehen, was wir heute feststellen werden.“
Ich sah mir Kämmerlein, der in gebeugter Haltung vor der Leiche kauerte, etwas genauer an und stellte fest, dass er sich, seit ich ihn das letzte Mal sah, kaum verändert hatte. Er war nach wie vor hager, doch seinen Haarkranz, der seinen Kopf von einem Ohr zum anderen säumte, hatte er gänzlich wegrasiert.
Die Sonne hatte seinen Kahlkopf inzwischen gebräunt und es sah nicht einmal schlecht aus. Besser jedenfalls, als dieser biedermännisch wirkende Haarkranz, der seinen Kopf präsentierte wie ein Osterei in seinem Nest.
Sein beiges Hemd und seine braune Hose schienen eine Nummer zu groß zu sein und so konnte man eigentlich nur ahnen, wie es darunter aussah. Alleine seine Unterarme, die wegen des kurzärmeligen Hemdes nicht verdeckt waren, gaben Aufschluss darüber.
Wie gesagt, er war hager, doch seine Arme waren sehnig und ich erinnerte mich an seinen Händedruck, als wir uns das letzte Mal begegnet waren. Er war kräftig und angenehm gewesen. Auf eine solche Art der Begrüßung hatten wir heute verzichtet, denn Kämmerlein hatte sich sofort seiner Arbeit zugewandt.
Peters, Franzen und ich sahen dem Arzt bei seiner Arbeit zu. Mehr konnten wir im Moment nicht tun. Kämmerlein drehte die Leiche nach allen Seiten und als er die Rückenpartie der Frau sah, stutze er.
„Ungewöhnlich“, hörte ich ihn vor sich hin sagen. „Äußerst ungewöhnlich.“
Es hatte den Anschein, als dachte er einen Moment nach, doch dann fuhr er mit der Untersuchung fort. Er betrachtete die Halsgegend und drückte an verschiedenen Stellen, dann packte er die Unterarme der Frau, einen nach dem anderen, hielt ihn hoch, drehte die Innenseiten zu sich und schüttelte schließlich den Kopf.
Dann wandte er sich den Beinen der Toten zu, die unter dem knielangen, dunkelblauen Rock weder in Strümpfe noch in eine Strumpfhose gekleidet waren. Auch hier vollführte er die gleiche Prozedur, nahm erst das eine Bein, hob es an, schaute es sich von allen Seiten an, um sich anschließend mit dem anderen Bein zu befassen. Dann nickte er lautlos vor sich hin und erhob sich aus seiner unbequemen Haltung.
Peters, dessen junger Kollege und ich sahen Kämmerlein erwartungsvoll an, während er sich langsam die Latex-Handschuhe abstreifte, sie in eine leere Plastiktüte stopfte und dann in seiner Arzttasche verstaute.
„Was is`, Doc?“ Während ich noch die kurze Frage stellte, kam mir der Filmtitel der Komödie mit Barbra Streisand in den Sinn und am liebsten hätte ich die wenigen Worte wieder rückgängig gemacht. Kämmerlein kniff die Augen leicht zusammen und sah mich geradeheraus an.
„Also: Ein Sexualdelikt kann ich nicht erkennen. Aber eines steht mit Sicherheit fest: Die Frau ist verblutet.“
„Wie ich schon sagte“, meldete sich Peters.
„Aber nicht so, wie Sie denken.“
Kämmerlein machte eine Pause, um das auszukosten, was Peters bei seiner polizeilichen Leichenschau offensichtlich übersehen hatte.
„Sondern?“
„Es hat den Anschein, dass man der Frau das Blut abgezapft hat.“
Peters lächelte und ich sah ihn erstaunt an. Endlich fuhr Kämmerlein fort.
„Da ist ein Einstich in ihrem Bein. Man hat der Frau eine Kanüle an der Vene des rechten Unterschenkels angesetzt, mehr oder weniger fachgerecht – was im Endeffekt auch keine Relevanz hat - und hat einfach abgewartet, bis die unfreiwillige Spende von selbst zum Stillstand kam. Vermutlich hat sie gesessen.“
„Gesessen? Wie meinen Sie das?“
„Na ja, ich vermute, sie hat auf einem Stuhl oder etwas Ähnlichem gesessen, als man ihr das Blut abzapfte. Sehen Sie dort an den Beinen. Im Bereich der Knöchel. Blutstauungen. Die Unterschenkel müssen also während der Tat senkrecht gestanden haben. Und die Verletzungen an den Händen. Fesselungsmerkmale. Eindeutig. Ja. So wird es gewesen sein. Auf die Obduktion bin ich gespannt.“
„Einem Menschen das Blut abzapfen. Wer macht denn so was und vor allem: Warum?“
Ich sah zu der Toten hinunter und auf einmal kam sie mir noch blasser und weißer vor, als ich es vom letzten Hinschauen in Erinnerung hatte.
„Es gibt da zahlreiche Möglichkeiten, die Sie sicherlich auch irgendwelchen Kriminalakten entnehmen können. Ich jedenfalls werde in diese Richtung keinen Tipp abgeben. Das ist Ihre Aufgabe. Reden Sie mit dem Obduzenten. Ich wette, dann sind Sie ein gutes Stück weiter. Meine Arbeit ist getan.“
Kämmerlein entnahm seiner Tasche eine Mappe mit Papieren und begann zu schreiben.
„Ist die Person identifiziert?“
„Nein, bisher noch nicht. Ich hoffe, dass wir in ein paar Stunden mehr wissen. Was glauben Sie, wann ist der Tod der Frau eingetreten?“
„Aufgrund des Blutverlustes kann ich mich nicht an den Leichenflecken orientieren. Dem optischen Eindruck nach zu urteilen würde ich sagen – ohne mich festlegen zu wollen, das ist, wie gesagt, Aufgabe des Obduzenten -, dass die Tat im Laufe der vergangenen Nacht oder dem gestrigen Tag verübt worden sein kann. Aber wie gesagt: Legen Sie mich bitte nicht fest.“
„Körpertemperatur?“ Ich sagte nur dieses eine Wort.
Kämmerlein sah mich leicht erschrocken an. „Tut mir leid, ein Thermometer habe ich nicht dabei.“
Ehe ich einen Vorwurf loslassen konnte kramte Peters in seinem Koffer und brachte ein Fieberthermometer zum Vorschein. Er hielt es dem Doktor mit einem freundlichen Lächeln entgegen und Kämmerlein blieb nichts Anderes übrig, als es entgegenzunehmen.
Es vergingen etwa zwei Minuten, als er sich erhob und auf die Skala des Thermometers sah.
„27,3 Grad“, las er ab. Wenn Sie von der menschlichen Körpertemperatur pro Stunde ein Grad abziehen, was wir bei dieser Außentemperatur durchaus tun können, ist der Tod vor etwa neun Stunden eingetreten. Mit kleinen möglichen Abweichungen.“
„Die Leiche wurde heute Morgen gegen acht Uhr gefunden. Also wurde die Tat gegen 23 Uhr am gestrigen Abend verübt“, überlegte ich. Ja, so musste es gewesen sein.
Kämmerlein reichte mir mit einem Seitenblick ein Formular, dem mehrere Durchschläge anhingen.
„Die Todesbescheinigung. Person derzeit unbekannt. Ich habe das Kreuz bei ‚Nicht aufgeklärte Todesursache‘ gemacht. Bei Fragen stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Also dann! Viel Glück bei Ihren Ermittlungen.“
Kämmerlein schnappte sich seine Arzttasche, klemmte sie unter seinen dünnen rechten Arm und verließ den Ermittlungsort gebückt unter dem roten Flatterband hindurch, das zwei Kollegen der Hermeskeiler Schutzpolizei für ihn in die Höhe hielten.
„Wir sollten uns tatsächlich schnellstens an die Ermittlung der Angehörigen machen. Kennt jemand diese Frau?“, wandte ich mich an die Kollegen, die inzwischen damit beschäftigt waren, die Neugierigen, von denen es nun immer mehr gab, auf Distanz zu halten. Ich erntete Kopfschütteln und sah Peters noch kurze Zeit zu, wie er die Leiche von allen Seiten fotografierte.
„Ich maile dir die Fotos sofort auf deinen PC“, rief er mir zu, denn ich hatte mich bereits zum Gehen gewandt. „Wir werden uns hier noch nach Reifenspuren umsehen. Ich melde mich bei dir.“
Ich musste Leni anfordern, ich brauchte jetzt ihre Unterstützung. Beim Präsidium meldete sich ein Kollege des Kriminal-Dauerdienstes, den ich bat, Leni zu Hause anzurufen. Ich hätte es auch selbst per Handy tun können, aber in diesem Fall wollte ich doch den Dienstweg einhalten.
„Einen Moment“, sagte der Kollege und dann war es kurz still in der Leitung.
„Kommt der Herr Hauptkommissar wieder einmal nicht ohne mich aus, stimmts, Heiner?“
Es war Leni. Sie war in Trier. Im Präsidium. Man hatte sie also doch verständigt. Gut so.
„Hast du irgendwelche Ermittlungen, die ich von hier aus tätigen kann?“, fragte Leni. „Dann brauchst du nicht zur Dienststelle zu kommen.“
„Ja, du kannst nachsehen, ob es irgendwelche Vermissten-Fälle in den vergangenen Tagen oder auch Wochen gab. Eine junge Frau, um die Dreißig, schlank, dunkelblond, bekleidet mit einer hellen Bluse und einem dunkelblauen Rock. Wenn Peters auftaucht, soll er dir ein Foto von der Frau geben. Gib das Foto auch mit einem kleinen Text an die Presse, nach dem Motto: Wer kennt diese Frau? Oder warte! Bereite die Pressenachricht vor, lass sie aber vorläufig noch auf deinem Schreibtisch liegen. Vielleicht meldet sich ja doch noch jemand. Und dann komm nach Forstenau. Es gibt einiges zu tun in diesem Ort, der seit einiger Zeit in seinen Grundfesten erschüttert wird.“
„Ist da noch etwas, das ich wissen sollte?“, fragte Leni gedehnt in den Hörer.
„Erkläre ich dir alles, wenn du hier bist.“
Ich wollte gerade auflegen, als Leni mir noch etwas nachrief.
„Heiner, hörst du? Ich habe gerade im Computer geblättert. Es liegt eine akute Vermissten-Meldung vor: Katharina Zenger aus Waldweiler, 32 Jahre alt, ledig. Wohnt in einem Ortsteil zwischen Waldweiler und Kell. Lebt alleine. Die Vermissten-Anzeige hat ihr Bruder Leo Zenger aufgegeben. Hier steht, er habe zwei Tage lang versucht, seine Schwester telefonisch zu erreichen. Als sie sich nicht meldete, sei er in ihre Wohnung gefahren, habe sie aber nicht angetroffen. Da es nicht ihre Art sei, die Wohnung für längere Zeit zu verlassen, ohne ihm eine Nachricht zu hinterlassen, habe er die Anzeige aufgegeben.“
„Und die Anzeige hat man aufgenommen? Lagen denn zu diesem Zeitpunkt Gründe für einen Suizid oder ein Verbrechen vor?“
„Keine Ahnung. Ist doch jetzt wohl auch egal, Heiner. Das mit dem Verbrechen ist ja jetzt wohl eingetreten. Da hatte der Kollege, der die Meldung entgegengenommen hatte, wohl einen guten Riecher.
„Eine Frage noch, Leni: Existieren noch weitere Verwandte der Toten, was ist mit den Eltern der beiden?“
„Die Eltern der beiden sind schon lange verstorben. Leo, der Bruder der Vermissten, scheint sich für seine Schwester verantwortlich zu fühlen.“
„Also gut, wie dem auch sei. Dann schnapp dir die Unterlagen und ich mache mich auf, den Bruder in Waldweiler zu erreichen, um mit ihm eine Identifizierung im Brüderkrankenhaus in Trier zu veranlassen. Wir treffen uns – sagen wir in zwei Stunden - vor der Leichenhalle. Falls ich nicht pünktlich sein sollte, warte auf jeden Fall dort auf mich.“