Читать книгу Sekt(e) oder Selters - Hannes Wildecker - Страница 9
4. Kapitel
ОглавлениеMelanie Rosenbauer dreht sich vor dem Spiegel um ihre eigene Achse und betrachtet sich von allen Seiten. Dieser Spiegel ist einer von jenen, die in die Türen ihres Schlafzimmerschrankes eingebaut sind und vom Boden bis zum oberen Ende des Möbelstückes reichen.
Es ist ein veralteter Kleiderschrank, einer aus den achtziger Jahren, doch Melanie kann sich einfach nicht von ihm trennen, ebenso wie sie an dem restlichen Mobiliar des Schlafzimmers, aber auch der restlichen Wohnungseinrichtung hängt.
Sie lebt alleine in dem Haus, das ihre Eltern ihr nach deren Tod vor rund 20 Jahren hinterlassen haben. Ein Verkehrsunfall auf der Bundesstraße zwischen Hermeskeil und Zerf hat Melanie mit einem Schlag zur Waise gemacht, gerade, dass sie volljährig geworden war. Mit ihren 38 Jahren bewohnt sie nun das Haus in Mandern alleine. Ihre Trauer hielt lange an, jahrelang. Sie zog sich zurück und lebt nun ihr eigenes Leben in dem Haus außerhalb der Ortschaft.
Es liegt an einem Hang, dort, wo die Ortsdurchfahrt zur Hunsrückhöhenstraße führt. Damals standen hier erheblich mehr Häuser, doch innerhalb der vergangenen 15 Jahre hatte es die Bewohner dieses Viertels, denen es bei der übrigen Bevölkerung an Akzeptanz gefehlt hatte, aus dem Ort verschlagen. Die meisten waren im angrenzenden Saarland ansässig geworden, einige zog es in die Stadt. Mitverantwortlich für diese Entscheidungen waren auch die teils baufälligen Häuschen, die sie bewohnten.
Anders liegt der Fall bei Melanie Rosenbauer. Ihre Eltern hatten die finanziellen Mittel, ihr Eigenheim so zu gestalten, dass es für ein ganzes Leben in Geborgenheit geeignet ist.
Das ist auch der Grund, warum Melanie hier wohnen bleibt, obwohl das Haus nun, nachdem die anderen abgerissen wurden und das Areal vorerst nicht mehr als Baugebiet ausgewiesen wird, einsam und alleine aus dem Hang ragt.
Doch Melanie fühlt sich wohl hier, aber immer mehr denkt sie darüber nach, nicht mehr länger alleine leben zu wollen. Mit nahezu vierzig ist es nicht einfach, einen Partner zu finden und wenn sie das Haus nicht verlässt, um selbst ihrem Glück etwas nachzuhelfen, wird sie als einsame Frau hier versauern, das weiß sie.
Also fasst sie den Entschluss, dass sich in ihrem Leben etwas ändern muss. Nun, da sie sich vor dem großen Spiegel dreht, gefällt sie sich und ist sich sicher, dass dies bei der Männlichkeit auch nicht anders gesehen wird.
In der Diskothek „Inferno“ in Forstenau hat man am heutigen Abend eine Art „Ball der einsamen Herzen“ geplant, eigentlich nicht der übliche Ort für eine Veranstaltung dieser Art. Dennoch hat man sich dazu entschlossen und anstelle der hämmernden Disko-Musik haben die Betreiber eine mehrköpfige Live-Band angeheuert, die mit einem schmalzig-sehnsüchtigen Repertoire für ein bereitwilliges Annähern der beiden Geschlechter sorgen soll.
Melanie Rosenbauer ist Besitzerin eines kleinen roten Volkswagens, worauf sie sehr stolz ist, denn das Fahrzeug erwarb sie im Rahmen einer Umwelt-Aktion zu einem günstigen Preis. Sie schlug dabei zwei Fliegen mit einer Klappe.
Ihren alten Peugeot, den sie zum Verkauf anpries wie saures Bier, wollte einfach niemand kaufen und da kam ihr diese Möglichkeit wie gerufen. Für das alte Fahrzeug bekam sie so viel, wie ihr kein Käufer gezahlt hätte, das Dreifache vom tatsächlichen Wert und nach längeren Verhandlungen mit dem Chef der Autohandlung wurde ihr noch einmal ein Betrag von der Verkaufssumme abgezogen, der sie praktisch dazu zwang, das neue Auto zu erwerben.
Sie entschied sich für ein deutsches Fahrzeug, denn der patriotische Gedanke in ihrem Inneren hatte Vorrang. Wenn man ihr in der Heimat schon die Gelegenheit gab, finanziell einen Reibach zu machen, dann wollte sie den ohnehin schon bedrohten Firmen in Deutschland den Profit zukommen lassen.
Melanie dreht sich ein weiteres Mal vor der riesigen Spiegelwand. Die enge blaue Jeans sitzt wie angegossen, die etwas dunklere blaue Bluse fällt locker darüber und ihre leichte Jacke aus weißem Leinenstoff wirft sie sich über den Arm für den Fall, dass es am Abend doch etwas kühler werden sollte.
Melanie schaut auf die Uhr: 19.30 Uhr. Eigentlich schade, dass Gaby Wilmes aus Mandern sie heute nicht zur Disko begleiten kann. Ihre Freundin ist auf einer beruflichen Schulung und wird erst am späten Abend nach Hause kommen. Aber ihr macht es nichts aus, alleine in die Disko zu fahren. Aufdringliche Männer wird sie sich vom Leib zu halten wissen. Ihr Pfefferspray hat sie in ihrer kleinen Handtasche deponiert. Für alle Fälle.
Melanie seufzt und tastet ein letztes Mal über ihr brünettes Haar, das ihr in leichten Wellen bis auf die Schulter fällt und schaut schnell noch einmal in den Spiegel. Wie hätte sie an einem solch schönen Tag, an dem alles positiv für sie gelaufen war und der vielleicht ein Neuanfang in ihrem Leben werden sollte damit rechnen können, dass dies in ihrem Leben der letzte Blick in einen Spiegel sein würde.
Plötzlich hält sie in ihrer Bewegung inne. War da nicht ein Geräusch? Melanie lauscht in die Stille hinein und schüttelt anschließend den Kopf. Vermutlich eine streunende Katze, wie sie jeden Tag vor ihrer Haustür sitzen und die sie dann aus Mitleid ab und an füttert.
Da ist es wieder. Ein leises Knarren. Melanie hält erneut in ihrer Bewegung inne und tastet nach ihrer Handtasche, in der sich das Pfefferspray befindet.
Regungslos verharrt sie nahezu eine halbe Minute. Doch nichts regt sich. Schließlich schüttelt sie erneut den Kopf und tastet noch einmal ihre Frisur ab.
Als sie sich zum Gehen anschickt, bemerkt sie aus den Augenwinkeln plötzlich einen Schatten, der aus Richtung der Schlafzimmertür auf sie zu hechtet und ehe sie auch nur an eine Abwehrreaktion denken kann, legt sich eine kräftige Hand auf ihren Mund und der beißende Geruch von Äther füllt ihre Atemwege.
Im Spiegel sieht sie sich umklammert von einem in schwarz eingehüllten Arm, sieht eine dunkel behandschuhte Hand auf ihrem Gesicht und neben ihrem Kopf zwei aufgerissene Augen unter einer schwarzen Wollmaske. Sie versucht während ihrer Abwehrbewegungen ein Atmen zu vermeiden, will das betäubende Elixier nicht in ihre Lunge lassen. Doch es ist ein Kampf gegen Windmühlen.
Als ihr in Anbetracht des Luftmangels die
Sinne zu schwinden beginnen, ist es der vom Reflex gesteuerte schnelle Atemzug, der sie der Gegenwart entschwinden lässt.
Der in Schwarz gekleidete und bis auf die Augenpartie maskierte Angreifer lässt Melanie auf den Boden gleiten, dreht sie in die Bauchlage und kramt aus der Tasche seines weiten, dunklen Pullovers eine Rolle mit Klebeband hervor und bindet ihr die Hände und die Füße an den Gelenken zusammen. Während er ihr ein weiteres Stück über den Mund klebt und es mit der flachen Hand fest andrückt schaut er sich im Schlafzimmer um.
Sein Blick bleibt auf einer dunklen Wolldecke, die Melanie achtlos über einen Stuhl geworfen hatte, haften. Er nimmt die Decke, breitet sie auf dem Fußboden neben der Reglosen aus, rollt diese auf den Anfang der Decke, um sie dann mit weiterem Rollen ihres Körpers vollends in das wollene Tuch einzuwickeln.
Mit einem kraftvollen Heber wirft er sich die in der Wolldecke immer noch zierlich aussehende Frau auf die Schultern, rückt das Gewicht mit mehreren Aufwärtsbewegungen des rechten Schultergelenks in eine stabile Lage und verlässt mit seiner Last schweren Schrittes das Schlafzimmer, begibt sich die Treppe hinunter ins Erdgeschoss und verlässt das Haus durch die Hintertür, wo ein dunkler Kastenwagen bereitsteht.
Niemand beobachtet die maskierte Person dabei, als sie die Heckklappe des Gefährts öffnet und die Einheit aus Wolle und leblosem Menschen auf der Ladefläche ablegt.
Als sei es das Natürlichste auf der Welt, startet sie ihren Wagen und fährt in Richtung der Hunsrückhöhenstraße und dem sich anschließenden Meer der Bäume des Hunsrücker Hochwalds davon.
Die Lichter im Haus von Melanie Rosenbauer hat die maskierte Person ausgeschaltet und die Haustür ins Schloss gezogen. Spuren eines gewaltsamen Eindringens bleiben nicht zurück, denn für die vermummte Person war es ein Leichtes, die Hintertür des Anwesens mit einigen kleinen Tricks zu öffnen, ohne sie dabei zu beschädigen.