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Erblickte Versöhnung

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Adornos dialektischer Naturbegriff im Hinblick auf Simmel und Lukács

»Denn gerade solches: das Meer und die Blumen, die Alpen und der Sternenhimmel – gerade dieses hat, was man seinen Wert nennen kann, nur an seinen Reflexionen in subjektiven Seelen.«

Georg Simmel

Um den Naturbegriff kreist Adornos Denken von Anfang an. »Das Erlebnis der Natur in eine begriffliche Form zu fassen«1, wird bereits im ersten Abschnitt des Abituriums-Aufsatzes von 1921 als Ziel einer intellektuellen Anstrengung betrachtet, die, über die unmittelbar sinnliche Wahrnehmung hinaus, eine mit dem Erlebnischarakter verbundene, transzendente Dimension von Natur erschließen bzw. ›sichtbar‹ machen soll. Der Schüler Adorno interpretiert Natur emphatisch als den Geschichtsprozess übergreifende Größe, als »Gesamtheit des unbewußten Daseins schlechthin«2. Der Zugang zu dieser der sichtbaren Natur gleichsam unsichtbar eingeschriebenen Dimension eröffnet sich dem betrachtenden Subjekt im Erlebnis der Landschaft, ein Vorgang, der »auf das Ich beschränkt«3 bleibt und die Form einer »reinen Erkenntnis«4 annimmt, die sich in letzter Konsequenz jedoch begrifflicher Erfassung entzieht. Natur tritt hier an die Stelle des Göttlichen, wird zur säkularisierten Kategorie; sie setzt das Ich in Beziehung zu einer »Ganzheit«5, die von der Last, gesellschaftlich bestimmtes Subjekt sein zu müssen, befreit und damit, zumindest für einen zeitlich befristeten Moment, erlöst. Das Erlebnis der Natur, verstanden als betrachtendes Wahrnehmen von Landschaft, ermöglicht es dem Subjekt, so Adornos früheste These, die Welt »im Ich«6 zu gestalten, um auf diesem Weg einen in der Natur als ganzer, in ihrer sichtbaren wie auch unsichtbar-transzendenten Dimension enthaltenen »Sinn des Lebens«7 zu entdecken.

Ein Jahrzehnt zuvor schon hatte Georg Simmel in seinem Essay Zur Ästhetik der Alpen8 das Landschaftserlebnis einer säkularisierten Vorstellung von Erlösung zugeordnet. Simmel deutet die Firnregion des Hochgebirges als Erlösungssymbol, dessen Wahrnehmung dem Betrachter den ›Blick‹ in die transzendente Dimension von Natur als Garant einer letzten, aller Rückbezüglichkeit auf Gesellschaftliches enthobenen Sinnperspektive eröffnet. In der Ästhetischen Theorie schließlich gelangt Adorno – auf der Folie von Lukács’ Theorem von erster und zweiter Natur – zu einem Naturbegriff, der das säkularisierte Erlösungsparadigma Simmels (und das des eigenen frühen Aufsatzes) gewissermaßen absorbiert und über die Kategorie des Scheins zur Konzeption eines im Vorbegrifflichen und Vorästhetischen verankerten, »weder theistisch noch reduktionistisch«9 begründeten Naturalismus führt, der das Subjekt zur letzten Instanz einer alle gesellschaftlichen Antagonismen übergreifenden, Erlösung einschließenden Form von Versöhnung macht.

Simmel: Natur und Erlösung

In seinem Essay Philosophie der Landschaft definiert Georg Simmel Natur als »flutende Einheit des Geschehens«, deren unsichtbar-transzendente Dimension sich dem Subjekt beim Betrachten einer Landschaft als immer von neuem sich herausbildendes »Ganzes«10 erschließt. Dieses spontane, wesentlich von »Stimmung«11 getragene Ganzheitserlebnis deutet Simmel als »Kunstwerk in statu nascendi«12; einer quasi natürlichen, im Subjekt diesem unbewusst verankerten Dynamik folgend, antizipiert es die säkularisierte Vorstellung von Erlösung als Möglichkeit der Befreiung des Ichs von den Antagonismen gesellschaftlich bestimmter Realität in einer anderen, jenseits der sichtbaren gelegenen Welt.

Bereits zwei Jahre vorher hatte Simmel jenen Text vorgelegt, in dem die säkularisierte Erlösungsperspektive auf eine konkrete Landschaft projiziert wird.13 Im Blick auf das firnbedeckte Hochgebirge (der Alpen) erzeugt das Subjekt jenes ›Ganze‹ im Rahmen ästhetischer Wirklichkeitskonstitution und überschreitet es gleichzeitig in einen offenen Horizont hinein. Es ist dabei das »Zeitlose, dem Fluß der Dinge Entrückte«14, das beim Betrachter ein über das Stimmungselement hinausweisendes »Gefühl des Erlöstseins« in einer anderen, künstlerischer Erfassung nicht zugänglichen, »Gegenüber-vom-Leben«15 befindlichen Welt evoziert. Indem das Ich im Blick auf das Hochgebirge ein natürliches Symbol dieser transzendenten Welt erkennt, bildet sich in ihm die Vorstellung (bzw. die »Ahnung«) einer imaginären Grenze, jenseits derer das individuelle, in die Formzwänge der Gesellschaft eingebundene Leben sich »an dem erlöst, was in seine Form nicht mehr eingeht, sondern über ihm und ihm gegenüber ist.«16

Diese Erlösungskonzeption beruht auf einem romantischen, auch von Adorno im Abituriums-Aufsatz adaptierten, zweipolig konstruierten Naturbegriff. Einem materiellen, Natur als sichtbares Phänomen kennzeichnenden Pol steht dabei ein von Simmel im Begriff ›Seele‹ erfasster, transzendenter Pol gegenüber, der für jene verborgene Dimension von Natur steht, innerhalb derer Erlösung, verstanden als das Ich-Bewusstsein übersteigende, nicht näher klassifizierbare Form von ›Ganzheit‹, sich ereignet. Die Einheit beider Pole vermittelt sich dem Subjekt in einem vorästhetisch konstituierten, jenes ›Gegenüber-vom-Leben‹ symbolisch repräsentierenden Landschaftsbild, dessen Wahrnehmung die dem gesellschaftlich bestimmten Lebensprozess inhärente Dynamik für einen Moment zum Stillstand bringt und damit jene ›Ganzheit‹ als in einer anderen Welt zu verwirklichende Utopie in Aussicht stellt. Vor dem Hintergrund der epochalen, durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Sinnkrise hat Simmels Schüler Georg Lukács diese idealistisch konzipierte Vorstellung von Natur kritisiert und in ein für Adornos weiteres Denken wegweisendes Theorem umgedeutet.

Lukács: Natur und Sinnverlust

In der Theorie des Romans (1920) bringt Lukács die Sinnkrise seiner Zeit in einen direkten Zusammenhang mit Simmels romantischem Naturbegriff und bestreitet dabei dessen zentrale These einer im landschaftlichen Erscheinungsbild von Natur sich gleichsam offenbarenden, säkularisierten Erlösungsperspektive. Das »moderne sentimentalische Naturgefühl«, zeitgemäßer Ausdruck eines in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem vom Bildungsbürgertum kultivierten Romantizismus, erscheint Lukács nurmehr als idealistisch verbrämte »Projektion des Erlebnisses, daß die selbstgeschaffene Umwelt für den Menschen kein Vaterhaus mehr ist, sondern ein Kerker«17. Die für Simmel zentrale Bedeutung der transzendenten Dimension im subjektiven Natur- bzw. Landschaftserlebnis kann nach der fundamentalen Erschütterung der bürgerlichen Welt durch den Ersten Weltkrieg keinen unmittelbar wirksamen, »das Trostbringende für das reine Gefühl«18 mehr gewährleistenden Sinnzusammenhang hervorbringen. Auch die Kunst, der Simmel immerhin noch eine begrenzt sinnstiftende »Beziehung zwischen Seele und Natur«19 herzustellen zutraute, entbehrt nun, nach Lukács, jeder »sinnerfüllten Symbolik« (und dementsprechend auch jeder Erlösungsqualität), da sie die »Urschrift« einer ersten Natur, die »stumm, sinnfällig und sinnesfremd«20 der gesellschaftlichen Realität gegenübersteht, nicht mehr zu entziffern vermag. Was sich demgegenüber in Simmels Wahrnehmungsperspektive zeigt, ist durchgängig zweite Natur: durch ästhetische Wirklichkeitskonstitution in Schein verwandelter Ausdruck »vermoderter Innerlichkeiten«21. Die im historischen Prozess unkenntlich gewordene Spur einer ersten Natur löst sich demnach im Landschaftserlebnis unmittelbar »in Stimmung auf« – für Lukács Symptom der »Unmöglichkeit, für das konstitutive Subjekt ein angemessenes konstitutives Objekt«22 finden zu können.

Erlösung, verstanden als im Innenraum des Subjekts sich ereignender, Seele (Simmel) und Natur in ganzheitlichen Einklang bringender Vorgang, ist für Lukács somit undenkbar geworden. Die (bürgerliche) Kunst ist nicht mehr in der Lage, dem Subjekt einen sinnhaften Bezug zu dem vermitteln zu können, was im Sinne Simmels als Natur noch zu bezeichnen wäre.23 Angesichts dieses Befundes bleibt nicht einmal die Hoffnung, dass ein transzendenter Restbestand an erster Natur sich denjenigen offenbaren könnte, die es auf sich nehmen, die schwache Spur jener ›Urschrift‹ noch verfolgen zu wollen.24

Adorno I: Naturgeschichte und Schein

In seinem Essay Die Idee der Naturgeschichte nimmt Adorno 1932 diese Spur auf und greift dabei auf Lukács’ Kritik am Naturbegriff Simmels zurück in der Absicht, die von Lukács geforderte Aufrechterhaltung einer für den gesellschaftskritischen Diskurs elementaren »Antithesis von Natur und Geschichte«25 in Frage zu stellen und damit dessen Versuch der Etablierung eines auch für die Kunst zukünftig maßgeblichen, einpolig materialistisch definierten Naturbegriffs entgegenzuwirken. Um sein Konzept der Naturgeschichte im Sinne einer »Rückverwandlung der konkreten Geschichte in dialektische Natur«26 begründen zu können, übernimmt Adorno Lukács’ Theorem von erster und zweiter Natur, um es soweit zu modifizieren, dass die Spur der von Lukács neutralisierten transzendenten Dimension des Simmel’schen Naturbegriffs fast unmerklich wieder erkennbar wird. Alles im Prozess der Geschichte Erzeugte und Entstandene ist demnach zweite Natur, deren Eigenart darin besteht, real und scheinhaft zugleich zu sein. Im Schein verortet Adorno jetzt auch jene von Lukács als verschollen vermutete ›Urschrift‹, deren Lesbarkeit nun wieder in Aussicht gestellt wird, verbunden mit der Hoffnung auf Versöhnung als vom Geschichtsprozess einzulösendes, metaphysisches »Versprechen«27. »Es ist in Wahrheit die zweite Natur die erste«28, diese zentrale Aussage des Essays erfasst ein dialektisch sich entwickelndes, dem Geschichtsprozess inhärentes Spannungsverhältnis zwischen erster und zweiter Natur, das im Kontext soziohistorischer Realität die Einlösung jenes Versprechens, die Zielvorstellung einer Aufhebung aller gesellschaftlich erzeugten Antagonismen im Begriff der Versöhnung, bezeichnet. Die geschichtserzeugende Dynamik dialektischer Natur entfaltet ihre Wirksamkeit demnach im Innenraum des Subjekts, wo sich der Versöhnungsanspruch vor- bzw. unbewusst in der Wahrnehmung ästhetischen Scheins als jenem Phänomen äußert, das dem Subjekt die Ahnung der in zweiter Natur verhüllten ›Wahrheit‹ einer ersten vermittelt.29 Das später in der Dialektik der Aufklärung geforderte »Eingedenken der Natur im Subjekt«30 wird hier schon benannt als von jener Ahnung quasi geleitete, subjektive Entfaltung dialektischer Natur in der Arbeit am Schein. Kontraproduktiv ist diese dort, wo Schein durch instrumentelle Vernunft in eine technisch verfestigte Form der Objektivierung von (zweiter) Natur gezwungen wird und auf gesellschaftlicher Ebene jene »absolute Einsamkeit« der Subjekte zur Folge hat, die auf ein sich abzeichnendes »Ende der bürgerlichen Ära«31 hindeutet; konstruktiv dagegen ereignet sie sich zunächst dort, wo (Gesellschafts-)Kritik als theoretische Arbeit am Schein »die noch nicht vernünftige Vernunft […] zu sich selbst bringen soll«32, vor allem aber dort, wo Kunst (respektive Musik) als authentische, in ihrem Bestreben, den Schein transparent und die ›Urschrift‹ lesbar machen zu wollen, die Grenze des Form- und Sagbaren erreicht und als nunmehr »entmachtete Schönheit«33 den in dialektischer Natur bewahrten Versöhnungsanspruch an das Subjekt zurückgibt, in dessen Innenraum er auf vorästhetischer, vorbegrifflicher und vorsprachlich-vorkommunikativer Ebene gleichsam verharrt. Unmittelbar äußern aber kann er sich – so die unausgesprochene Konsequenz aus der Naturgeschichtskonzeption und ihrer Weiterführung in der Dialektik der Aufklärung – unter den Bedingungen der »verfestigten Herrschaft von Privilegierten«34 und einer in deren Weltbild festgeschriebenen Einheit von Bild und Begriff letztlich nur dort noch, wo im subjektiven Blick auf Landschaft Natur für einen Moment sich scheinlos, als ›Kunstwerk in statu nascendi‹, zeigt.

Adorno II: Natur und Versöhnung

Um der Kunst, dem zwischen subjektivem Bewusstsein und dialektischer Natur sinnvermittelnden Medium, die transzendente Dimension wieder zurückzugewinnen (und sie gleichzeitig vor kulturindustrieller Vereinnahmung zu schützen), trifft Adorno in der Philosophie der neuen Musik von 1949 die Unterscheidung zwischen geschlossenem und offenem bzw. »zerrüttetem«35 (oder auch »fragmentarischem«) Kunstwerk. Während das der klassischen Tradition verpflichtete geschlossene Kunstwerk, wie schon von Lukács beschrieben, auf Bilder und Inhalte der vom Schein geprägten zweiten Natur fixiert ist, gibt demgegenüber das offene »mit seiner Geschlossenheit die Anschaulichkeit preis und den Schein mit dieser.«36 Indem das offene Kunstwerk so das »Nichtabsolute am Widerspruch«37 zwischen im Subjekt verankerter und gleichzeitig im historischen Prozess sich artikulierender dialektischer Natur – die Aufhebung der Antithesis von Natur und Geschichte (Lukács) – auszudrücken versucht, eröffnet es dem Subjekt eine mögliche Perspektive zur Dechiffrierung jener in erster Natur verborgenen ›Urschrift‹, in der sich mehr zeigt als die bildgebundene, vom Schein durchdrungene »zweite, blinde Natur«38 zu zeigen vermag.

In der Ästhetischen Theorie erkennt Adorno die Problematik dieser Perspektive in der unaufhebbaren Trennung der die dialektische Bewegung blockierenden Bezugsebenen von erster und zweiter Natur. Die bilderlose Welt des in der neuen Musik sich manifestierenden offenen Kunstwerks ist scheinlose, jenen in dialektischer Natur verankerten Versöhnungsanspruch nicht mehr mit gesellschaftlicher Realität vermittelnde, hörbar gemachte und gleichzeitig verstummte Utopie; indem die im historischen Prozess sich fortentwickelnde Dynamik von erster und zweiter Natur hier zum Stillstand kommt, regrediert Kunst auf »absolute Negativität«39. Um ihre sinnvermittelnde Funktion aufrecht erhalten zu können, öffnet Adorno sie wieder einem Bereich des Bildlichen, dem jetzt jedoch die in der Negativen Dialektik entwickelte Kategorie des Negativen als quasi unhintergehbares Wesensmerkmal zugeordnet wird. Die »Ahnung« (Simmel) eines in (erster) Natur bewahrten »Ansichseins, das noch gar nicht ist, eines Unbekannten und durchs Subjekt hindurch sich Bestimmenden«40, findet so ihren innersten, subjektbezogenen Ort in einem als negativ ausgewiesenen Bildlichen, dem Kunst dort noch am nächsten kommt, »wo sie Landschaft vergegenwärtigt im Ausdruck ihrer eigenen Negativität«41. Dieses Negative, das für die »ästhetische« Seite des Bilderverbots42 steht, aber zeigt (bzw. offenbart) sich unverstellt und unvermittelt nur noch im subjektiven Blick auf Landschaft, einem Moment erlebter »Ganzheit«, der die begrifflich nicht erfassbare Einheit von erster und zweiter Natur, jenseits des Scheins, als bereits vorästhetisch konstituierte erfasst und in den Horizont einer Zukunft hinein offenhält, in der »subjektiv befreite und metaphysische Erfahrung konvergieren.«43 Adornos dialektisch konzipierter Naturbegriff verweist so in letzter Konsequenz auf einen im Subjekt selbst beheimateten, transzendenten Bezugspunkt, der jenen Ort bezeichnet, an dem subjektive Erfahrung (als radikale Vereinzelung) absolut wird in der Wahrnehmung eines vom Schein zweiter Natur nicht mehr erreichten und deshalb auch künstlerischer Formung letztlich nicht zugänglichen Bildes von Natur.44 Diese Erfahrung aber, die sich auf ein weder spekulativ noch analytisch einzuholendes, »transzendentes Selbstverständnis«45 subjektiven Bewusstseins gründet, schließt die Hoffnung auf Erlösung mit ein; nicht (im Sinne Simmels) als säkularisierte, von der Landschaft symbolisierte, jenseitige; vielmehr in einem ursprünglicheren religiösen Sinn als »ganz ins Auge« gefasste »vollendete Negativität«, aus der heraus die »Risse und Schründe« der Welt, für einen Augenblick erhellt vom »Messianischen Lichte«46, im Subjekt die Vorstellung von der Verwirklichung der »Idee eines Zustandes, der der Dialektik nicht mehr bedarf«47, zur Gewissheit werden lassen.

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