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SCHACHFIGUR
UMWEG #14
FREITAG, 15. JULI 2016
Dass wir am Freitag, dem 15. Juli, gerade in der Mitte des Monats, aufbrachen, war genauso zufällig, wie dass wir auf den Tag genau vier Wochen später zurück sein würden: nämlich kein bisschen.
62Die Ästhetik der Zahlen ist im Alter einer Fahrt ins Blaue vorzuziehen, auch wenn unrealistische Filme und Bücher von ziemlich besten Freunden und mobilen Hundertjährigen mit Honig im Kopf schwärmen, weil diese Figuren den Nerv der Zeit treffen: Alt sitzt man heute nicht mehr hinterm Ofen, sondern auf dem Rücksitz einer Harley Davidson. Im Kino. Ich saß vorn. Privileg meines Schlaganfalls. Schönes Wetter ist immer verdächtig: Es könnte ja schlecht werden. Bei Regen gibt es diese Sorge nicht.
So wie ich jeden Abend beim Lichtausknipsen darüber nachdenke, ob ich mir eher auf der rechten oder auf der linken Seite ein rasches Einschlafen erliegen kann, so wichtig sind die Gedanken darüber, wie man am schnellsten auf die MeBo kommt. Seit ich denken kann, war die unberechenbarste Größe in meinem Kosmos die Zeit, die es dauern würde, durch die beschaulichen Weindörfer von Meran nach Bozen zu gelangen. Da waltete nicht Einstein, sondern das Schicksal. Brach man frühzeitig auf, um jemanden abzuholen, dann stand man eine halbe Stunde lang missmutig am Bahnhof im Halteverbot; fuhr man dagegen etwas später los, zuckelte man bei undurchdringlichem Gegenverkehr vierzig Minuten hinter drei Traktoren her, und die Abholperson saß tränenblind auf ihren Koffern. Aber dann plötzlich, 1999, war die Me(ran)Bo(zen) fertig, ohne dass ich je mitbekommen hätte, dass an ihr gebaut wurde. Seither ist das Leben um eine halbe Stunde reicher, und die will man nicht vergeuden. Zuerst sind wir einfach immer in Merano Sud auf die MeBo gefahren: Wir wussten es nicht besser. Dann entdeckte jemand aus meinem Umfeld den Anschluss ‚Marling‘: An den Außenfassaden der Rennbahn vorbei; und dann fiel mir die Strecke die Passer entlang nach Marling auf. Ich halte sie für die kürzeste Strecke, obwohl Silke sie nicht mag. Sie führt über die Bahngleise, und wenn die Schranke geschlossen ist, triumphiert Silke hinten lautlos. Als Pferdenärrin bevorzugt sie den Weg an der Rennbahn vorbei, obwohl eine ziemlich runtergekommene Anlage, in der niemand reitet, nicht viel anregender ist als ein nuttenloser Puff am Vormittag. Für Rafał ist die Auffahrt Merano Sud am praktischsten, denn da lenkt er nach einem etwas ärgerlichen Dreh um die einbahn- straßige ‚Via-Roma-Straße‘ herum das Steuerrad bloß noch geradeaus.
Wir fuhren meine Lieblingsstrecke, die Schranke war offen, und so konnte ich Giuseppe schon kurz nach elf aus dem Valsugana anrufen und ihm eröffnen, dass wir gegen zwölf in Marostica eintreffen würden. Marostica hat 13989 Einwohner, falls der fleißigen Wikipedia 63nicht inzwischen jemand weggestorben oder zugeboren wurde. Giuseppes Gemeinde Mason Vicentino hat 3503 Einwohner. Einer von dreitausendfünfhundertunddreien zu sein, darauf kann man doch stolzer sein, als sein Dasein in Tokio mit 37,37 Millionen Japanern abzuleben.
Marostica ist für Giuseppe der nächste kleinere Ort, Bassano der nächste größere und Venedig der nächste, von dem auch Menschen in Tokio schon mal gehört haben. Deshalb übernachten in Venedig 10 Millionen Besucher pro Jahr, 14 Millionen ‚Tagesgäste‘, wie die Heerscharen heißen, kommen hinzu, aber wir sind in diesem Jahr nicht dabei, obwohl wir weder bei ‚Cipriani‘ noch bei ‚Quadri‘ unangenehm aufgefallen wären.
An der Piazza von Marostica, die ein großes marmornes Schachbrett darstellt, das alle zwei Jahre mit verkleideten Menschen bespielt wird, habe ich zum ersten Mal 1983 mit Giuseppe gesessen und danach so oft mit so vielen meiner Lieben so viele Negroni getrunken wie andere in ihrer ganzen Erdenzeit nicht. Es wurde so ‚nah wie möglich‘ geparkt, und das blieb die ganze Reise über das, was ich neben der Aufgabe, doch noch ein guter Mensch zu werden, als das Problem meines Lebensrestes durchschaut habe: Aus dem Auto steigen und zu Fuß dort ankommen, wo ich hin will. Wenn man mit zwanzig überhaupt an später denkt, dann behauptet die Vernunft, dass man wohl Abstriche wird machen müssen, nicht nur an den Schleimhäuten, sondern auch an der Lebensführung. Aber wer rechnet damit, dass er nach zehn Schritten nicht mehr gehen möchte, dass er sich fast nicht mehr vorstellen kann, wie leichtfüßig er stunden-, ja, tagelang durch Städte und Wälder gelaufen ist? Früher.
Und dann war es die Piazza nicht mal wert, an ihr anzukommen. Falls sie es überhaupt war. Man sah nur Bretter. Innerhalb der Bretterwand fanden wir eine Lücke; da konnte man hindurchschlüpfen; dann sah man Tribünen und eine Bühne. Es war heiß und grell und grässlich, bis man auf der anderen Seite wieder ins Dämmerlicht trat. Dort konnten wir uns vor unser Stammlokal setzen und statt in Renaissance in Bretter gucken. Der Negroni schmeckte wie immer, Silke schickte Giuseppe eine SMS, und kurz darauf stieß er zu uns. Er hatte etwas schlauer geparkt als wir, aber noch besser hätte ich es gefunden, wenn er mir schon am Telefon gesagt hätte, dass Marostica dieses Mal keine so gute Idee sei, weil sich der Platz nicht nur zum Schachspielen eignet, sondern auch zum Lärmbeschallen, 64wenn Radau-Liebhaber dafür zahlen. „Cosa vuoi?“, fragte Giuseppe im Sinne von ‚Was soll man machen?‘, und die Antwort war, nachdem die Flüssigkeit von den Eisbrocken abgetrunken war, klar: weg hier!
Für das Mittagessen hatten wir im ‚Ca’Sette‘ außerhalb von Bassano gebucht. Als wir auf der Terrasse der Villa aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert saßen und in den symmetrisch gestalteten Garten sahen, in der Ferne einen Olivenhain, fühlten wir uns in Italien angekommen; als wir die Speisekarte in Englisch bekamen, erst recht. Wäre in Südtirol nicht passiert. Der Ober war noch reservierter als unser Tisch, und ich fand, an den anderen Tischen wurden die Einheimischen freundlicher bedient, obwohl man ja nicht viel dichter zu diesem Beköstigungstraum als der Venetoese Giuseppe wohnen konnte, aber das wusste der Kellner nicht. Als Gast bin ich sehr empfindlich, lieber esse ich schlecht als schlecht behandelt zu werden. Ich bin nicht in Afrika und flehe um Hirse; ich will den Schweiß des Kochs und die Zugewandtheit des Tellerträgers schmecken. Sonst eben nicht. Ich komme tagelang ohne Nahrung aus, und wenn ich Gutes tun will, spende ich direkt und nicht an ein versnobtes Unternehmen.
Rafał als Fahrer trank kaum Wein, Silke gar keinen, und so hatten Giuseppe und ich die Flasche für uns. Eigentlich habe ich Karaffen lieber, und schlichte Nahrung liegt mir auch mehr als der aufgebrezelte Augenschmaus, den sich ambitionierte Köche ausdenken; bloß, dass in einfachen Lokalen die Teller immer so voll sind – das zwingt mich dann in diese Restaurants, in denen man viel Geld für fast nichts auf den Designer-Platten ausgibt. Ich bin eben von klein auf zur Sparsamkeit erzogen worden: Lasse ich die Hälfte zurückgehen, habe ich ein schlechtes Gewissen. Zahle ich viel dafür, dass ich nichts zu essen brauche, komme ich mir nobel vor.