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RÜCKBLENDEN UND LACHNUMMERN
UMWEG #20
Zwischen 1975 und 1990 habe ich meine Jahresfilme gedreht. Ich habe gelebt, um zu filmen und gefilmt, um zu leben. Jetzt, 2016, hält man einfach sein Handy in die Luft. Damals musste man sich jede Einstellung genau überlegen. Filmen war teuer, und die traurige Kapitalisten-Erkenntnis ist: Was nichts kostet, ist nichts wert. Dafür war dann der fertig geschnittene Film eine Kostbarkeit, für mich jedenfalls. Der Film ist besser geeignet, eine Reise zu beschreiben, als ein Text es ist; man kann ihm zusätzlich die passenden Geräusche und die passende Musik unterlegen.
Als ich noch in der Grundschule war, hatte ich den Ruf, lustige Geschichten zu erzählen, und bevor ich vor der Klasse ein Ferienerlebnis zum Besten gab, bekam ich wohltuenden Applaus als Vorschusslorbeeren. Meine Eltern waren gerade aus Meran zurückgekommen und erinnerten sich, wie sich während eines Mittagessens der Himmel verfinsterte und es zu krachen und zu blitzen begann. Mein Vater sprach den Hoteldirektor an, der gemächlich die Reihen der Speisenden durchschritt: „Geht jetzt die Welt unter?“, fragte Guntram fröhlich-ängstlich. Ich verkündete die Antwort vor der Klasse: „Ach, das ist nur ein kleines Gewitterle.“ Keiner lachte. Keiner fand es komisch. Dass ich mich an diese unerhebliche Episode bis heute erinnere, hat etwas damit zu tun, dass ich mir damals vornahm, nie mehr eine Geschichte ohne ‚Pointe‘ zu erzählen, obwohl ich dieses Wort wahrscheinlich noch gar nicht kannte. Ich hasse Geschichten, die in kein schlüssiges Ergebnis münden. Gemeinerweise trifft das auf das meiste zu, was Menschen so von sich geben: Sätze wie Kotze. Wenn man fremden Unterhaltungen zuhört, ist es ganz leicht, an der Menschheit zu verzweifeln. Nichts als akustischer Sperrmüll. Aber bornierte Belehrungen sind auch nicht besser. Lieber will ich kunstreich belogen werden, als mich von Wahrheiten langweilen zu lassen, an denen ich nichts ändern kann.
Als ich noch jung war, Anfang zwanzig, eine Zeit also, in der man die Möglichkeiten der eigenen Einflussnahme zu überschätzen pflegt, hatte ich mich, wie mein Vater ja bereits dreißig 86Jahre vor mir, mehr um mein eigenes Vorwärtskommen geschert als um das der Menschheit, die mir inzwischen weitgehend recht gibt und sich über die sturen Eiferer von damals lustig macht. Ja, immer war ich lieber lustig als eifrig; darin habe ich meinen Vater übertroffen, der viel Sinn für Komik hatte, aber großen Eifer brauchte, um aus dem altmodischen Offiziershaushalt seiner Eltern in seine eigene Familie hineinzuwachsen, mit einer anpassungswilligen Frau und einem schwierigen Sohn. Meinen Mangel an politischem Engagement kann ich also sowohl genetisch wie mit Milieuschädigung begründen. Mehr können Historiker nicht verlangen. Weltverbesserer eigentlich auch nicht. Und um wie die Dubarry unter die Guillotine zu geraten, bin ich mit 70 eigentlich zu alt (sie war 50). Aber wenn doch, dann will ich nicht geköpft werden, sondern allenfalls enthauptet. Etikette sind mehr noch als Geld der Kitt im Mauerwerk der Gebildeten. Man schweigt, man spricht.
Seit ich denken kann, liebe ich Witze. Irene verabscheute Witze, noch mehr Witze-Erzähler. Das verstehe ich: Meistens sind sie humorlos und haben kein bisschen Sinn für Situationskomik. Wenn man sich nicht über ihren Witz, dessen Pointe schon nach dem zweiten Satz klar ist, das Zäpfchen aus dem Gesicht lacht, fragen sie womöglich noch: „Ach, Sie haben wohl keinen Humor?“
Lieber lese ich deshalb Witze und habe ‚Witze‘ sogar als Lesezeichen gespeichert. Da gefallen mir dann die unsympathischsten Sachen, die ich ungern erzählt bekäme wie: „Ich weiß gar nicht, welches Kind meine Frau meint, das ich angeblich unfair behandle? Thomas, Anton oder das fette hässliche?“
Ich war Einzelkind, darum finde ich das vielleicht lustig. Es ist boshaft und betrifft mich nicht. Das meiste, was Menschen so daherreden, kann man als Palaver bezeichnen. Ich will meinen Frieden damit machen und die Gesamtheit all meiner Texte über das Unterwegssein von Mai bis Oktober 2016 einsichtig als ‚Palaver‘ bezeichnen, ein etwas netteres Wort für ‚Geschwätz‘. Das ist nicht kokett gemeint, sondern demütig, und das nicht ironisch, sondern aufrichtig.
Ein Palaver dient dazu, einander kennenzulernen und abzuschätzen, bevor man zur Sache kommt. In einigen Kulturen ist das Palaver als überflüssig verpönt, in anderen unerlässlich, was mir viel mehr einleuchtet. Wie jemand auf die Mitteilung „Gestern Mittag hat es aber ziemlich geregnet“ reagiert, 87ist doch hochinteressant und gibt viel Aufschluss über die Persönlichkeit des Gesprächspartners, also darüber, wie er zu behandeln ist. Sagt er: „Ja, ziemlich“ oder „Ach, das hab ich gar nicht bemerkt, ich hatte blöderweise meine Munition schon verschossen und war so damit beschäftigt, den Kassierer am Bankschalter irgendwie mit den Fäusten totzukriegen, damit er mich später bei einer Gegenüberstellung nicht verpfeifen würde, weil er nun mal mein Gesicht gesehen hatte, nachdem mir die Strumpfhose vom Kopf gerutscht war, dass ich gar nicht auf die Bewölkung geachtet habe.“? Vielleicht sagt er auch: „Solch oberflächlicher Quatsch wie Wetter interessiert mich überhaupt nicht. Gehen wir ficken?“
Man kann das Palaver auch mit sich selbst machen, das führt natürlich zu den allerbesten Bonmots im Dialog, so wie auch Schachspielen gegen sich selbst im Film gern als Stilmittel genutzt wird, um darzustellen, wie gewitzt der Mörder ist, ohne ihm für Zuschauer unverständliche Texte in den Mund legen zu müssen. Im Allgemeinen kommt es ja nicht darauf an, was man erzählt, sondern wie man es erzählt, denn wer wirklich etwas zu sagen hat, wählt ein anderes Medium und ein anderes Forum, das noch weniger unterhaltsam ist.
Hanno (1952)
Hanno (1972)
88Günter Neumann war in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ein bekannter Kabarettist. Er schrieb irrsinnig witzige Texte. Mit meinen Eltern hockte ich vor dem Radio und lernte, wie Komik erzeugt wird. Mein Vater konnte das auch sehr gut, und Pali war ein Meister darin. Aber was ist von all dem übrig? Wir haben gelacht. Bis ans Ende meines Lebens werde ich mich an unser Lachen erinnern; die Anlässe habe ich vergessen. Das muss reichen, reicht aber nicht allen. Der unerschütterliche Glaube an posthumen Jubel hilft manchem Kultur-Erzeuger dabei, weiterzumachen. Von Tag zu Tag wird dieser Glaube allerdings unrealistischer, wenn man seine Augen auf die Wirklichkeit, also das Display, richtet: Wer mir heute nicht applaudiert, ist morgen tot. Und wenn nicht, zieht er sich morgen etwas Neues rein. Trotzdem ist immer wieder jeder Film schön, in dem Nachkommen in den Nebenrollen in der letzten Kammer in einer morschen Kiste irgendwas entdecken, und dann tritt als Rückblende erstmals der Hauptdarsteller auf, falls es sich dabei – wie meistens – um Meryl Streep handelt, ist er eine Frau. Nun wird die Vergangenheit aufgerollt und rührt zu Tränen. Vergangenheit ist eben erst zu Ende, wenn niemand mehr von ihr weiß.