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AUFSCHNEIDER & ABSTECHER

UMWEG #17

SAMSTAG, 16. JULI 2016

Es war mein drittes Mal in Triest. 1991 war ich – auch von Meran aus – dort gewesen, in Vor-MeBo-Zeiten, neun Monate nach Rolands Tod. Mit Bill (tot) und mit Giuseppe (lebt noch). Roland hatte Bill kennengelernt, als ich – wie ständig – auf Geschäftsreise gewesen war; er war Roland zugefallen wie mir Giuseppe. Innigere Beziehungen hat es von unseren nächtlichen Ausflügen ohne einander nie gegeben. Damals lebte Bill in Los Angeles, wo Roland und ich ihn mit Silke besuchten, und später in Houston, wo ich ihn traf, einmal sogar mit Irene. Bills Mutter stammte aus dem Tessin, und bevor Bill Roland und mich in Hamburg besuchen kam, machte er jedes Mal einen Abstecher in die Schweiz, wo er mexikanische Drogengelder wusch. Ich fürchtete immer, er würde deshalb irgendwann seinem eigenen Abstecher ins Messer laufen, aber er starb doch 1999 ganz normal an Aids. Er war eher scheu und sagte zu mir: „Da habe ich ein Mal Sex, und dann noch richtig schlechten, und gleich kriege ich Aids.“ Er wusste, dass das komisch klang, aber wir lachten ja dauernd über Dinge, die wir so unendlich traurig fanden.

Bills berufliche Ambitionen wurden nie zwischen uns thematisiert, nur, dass er mit Mexikanern ‚zusammenarbeitete‘ und in Zürich auf die Bank ging. Er hatte Geld und sah hübsch aus. Selbst eine verkümmertere Fantasie als meine würde da ein Drehbuch wittern.

Bill war so wunderbar negativ, wie ich es nie geschafft habe, zu werden. Mit niemand anderem habe ich so über die Aussichtslosigkeit alles Lebenden herziehen können wie mit ihm. Ich füge hier einen gekürzten Tagebuch-Ausschnitt von 1991 ein, der meine damalige Verfassung wiedergibt. Vor nun also fünfundzwanzig Jahren schrieb ich:

Am Dienstag, 22. Oktober, abends gegen halb sieben setzte ich mich in mein repariertes Auto und fuhr nach Bozen, um dort Bill am Bahnhof abzuholen und mit ihm zu Giuseppe zu fahren. Meine Eltern winkten in die abendliche Dunkelheit, und mir war beklommen zumute. Auch Abschiede auf kurze Zeit können bewegend sein, weil es keine Garantie gibt, dass die 73Zeit der Trennung wirklich kurz sein wird. Allein im Auto auf Reisen zu sein, war ein Zustand, auf den ich mich ein paar Minuten lang einstellen musste, das voll aufgedrehte Radio half dabei, und bald war ich selber aufgedreht. Die Landstraße hat ja für viele, auch für mich, etwas Besonderes, nicht ohne Grund zieht sie sich als Thema durch viele Spielfilme. Immer denkt man: Vor dem nächsten Lastwagen beginnt die große Freiheit, man spürt den Gegenverkehr fast schmerzhaft im linken Auge, in der linken Brusthälfte, und man wägt das Risiko ab, den Lastwagen zu überholen, um die Lust der Grenzenlosigkeit einzuatmen – oder doch besser hinter ihm zu bleiben, um nicht den Rest seiner Strecke querschnittgelähmt im Rollstuhl zu fahren.

Eigentlich weiß man, die grenzenlose Freiheit endet hinter dem nächsten Siebentonner, also vierhundert Meter weiter. Aber den kann man ja ebenfalls überholen. Vielleicht überholt man sich sogar irgend-wann selbst und sieht mitleidig-triumphierend im Rückspiegel auf sich zurück: Alle Skrupel, alle Erinnerungen haben wir – endlich! – hinter uns gelassen, und vor uns liegt diese idiotische Weite, deren Unbehaustheit uns das Gefühl gibt, wir könnten etwas errichten auf ihr, was Spätere dann im Vorbeisausen wahrnehmen werden wie das Hinweisschild auf ein Motel, das mangels Kundschaft schon vor Jahren eingegangen ist.

Die beflügelnde Fahrt meiner Gedanken wurde jäh gestoppt durch die aufleuchtenden Bremslichter meines Vordermannes. Rücklicht reihte sich an Rücklicht, endlose Kette roter Punkte, die sich wie ein schlafender Leuchtwurm durch die langgestreckte Kurve zog. Nachdem ich das Lichtspiel zehn Minuten lang genossen hatte, stieg ich aus und traf zwanzig Meter weiter vorne auf einen wunderhübschen, zierlichen Lastwagenfahrer, der freilich meine Neugier mehr anstachelte als befriedigte, obwohl er mir mitteilen konnte, dass weit, weit vorn zwei ineinander verkeilte Autos auseiander-geschweißt werden müssten.

Ende einer großen Freiheit …? Ich redete noch dies und das mit ihm, um eine Ausrede zu haben, meinen entleerten Blick an ihm aufzutanken. Diesen feingliederigen Menschen konnte ich mir überhaupt nicht hinter dem Steuer dieses 74Ungetüms vorstellen, aus dem er gestiegen war, eher schon mich mit ihm in der Koje hinter dem Fahrersitz.

Verträumt begab ich mich zurück in meinen Wagen: Der Situation, eingekeilt in die endlose Autoschlange, in das Dunkel der Landstraße und in meine aus- sichtslosen Zusammenstöße mit dem drahtigen Lastwagenfahrer, konnte ich etwas abgewinnen, was mich über das einstündige (!) Warten hinwegtröstete. Stau drinnen, Stau draußen. Alles, was ich bin und habe, ist mit Roland gestorben, mir bleibt nur noch, was ich kann – und das ist, aus allem etwas Absurdes zu machen, auch aus dem Absurden: Die Perversion ist das Einzige, was mich noch am Leben hält. Besser als gar nichts, und so versuche ich, mich in ein neues Leben oder einen (verdienten) Tod zu hangeln.

Es blieb, zunächst mal, beim Leben. Bill wartete schon unruhig. Immerhin hatte er noch nicht bei meinen Eltern angerufen und dort Alarmstimmung ausgelöst. Wir rasten durch die Finsternis der Autostrada bis Vicenza Ovest, wo uns Giuseppe an der Ausfahrt erwartete. Es hatte gutgetan, ins Gaspedal zu treten und alles das, was ich schon unzählige Male auf Deutsch gesagt hatte, zu jedem, der Roland kannte, auf Englisch zu wiederholen. Giuseppe führte uns in ein nahes Restaurant, es war nach zehn inzwischen, es war Vollmond, und es war Italien. Von nun an wurde nur noch Italienisch gesprochen, Bill beherrscht es fließend. Erstaunlich, bis zu welchem Grade die Notwendigkeit, sich auf eine andere Sprache konzentrieren zu müssen, doch auch den Gemütszustand verändert.

Giuseppe sauste über die nächt-liche Landstraße zu dem winzigen Ort, in dem sein Haus steht, ich mit Bill hinterher. Was für ein Spielverderber war ich gewesen, an Strick und Schlaftabletten zu denken! Man kann seinen Körper doch viel lustiger zerstören: so nämlich, dass er oder es vorher richtig Spaß macht. ‚Gefährlichleben‘ holt ja noch mal viel mehr raus aus dieser Zeitspanne des Menschseins als gefahrlos zu sterben. Giuseppe überholte; ich überholte, der Wein bestimmte meine Fahrweise, und meine Fahrweise berauschte mich mehr als der Wein. Ich will nie wieder etwas Vernünftiges tun, 75nie wieder etwas, das Sinn macht. Ich will nichts als Wahnsinn. Nie mehr normal. Nachdem mir das Schicksal genommen hat, was mich bändigte und in Zaum hielt, will ich nur noch gegen den Strich leben.

Na ja, na ja. Zunächst mal beschränkte sich meine Raserei darauf, auf einem Ausflug nach Triest Miesmuscheln als Vorspeise zu essen, ohne mich vor Hepatitis zu fürchten, und anschließend die beiden anderen dazu zu überreden, einen Abstecher nach Jugoslawien zu machen. Der gefahrlosen Gefahr habe ich noch nie widerstehen können, und so war ein kleiner Ausflug in das behütete Slowenien gerade das Richtige, um sich vorzumachen, an Krisenherden wie Kroatien und Albanien zu naschen.



Bill (beide 1984)

Wir hatten uns Triest angesehen, eher flüchtig, das Schloss am Meer hatten wir kennerisch begutachtet, wir waren weitergefahren nach Florenz, und ich weiß genau, dass ich immer noch todunglücklich war und wir die ganze Zeit über rumgekichert haben wie vierzehnjährige Mädchen, nicht wie vierzigjährige Männer. Auf der Fahrt von Padua nach Bologna hatten wir über Scamorza gesprochen. Diesen geräucherten Käse 76kann ich nicht leiden und behauptete, den Kühen würde auf der Weide das Euter angezündet, um den Rauchgeschmack der Milch von Anfang an zu gewährleisten.

Von Jesolo aus war ich sechs Jahre später nochmal in Triest gewesen, mit meinen Eltern. Kein Mensch, der Geschmack hat, geht nach Jesolo, sagen Menschen, die finden, dass sie Geschmack hätten. Aber das Hotel in Jesolo hatte einen Garten, dessen Rasen direkt in den feinen Sandstrand überging. Wo hat man das schon? Meist liegt eine Autostraße dazwischen, selbst im Grandhotel in Rimini und im ‚Carlton‘ in Cannes ist das so. Wenn man Glück hat, gibt es eine Unterführung zum Strand, damit man sich nicht in Flipflops zwischen den Straßenkreuzern durchzwängen muss, wenn man großes Glück hat, sind einem die Zimmerpreise dort egal, und wenn man ganz großes Glück hat, ist man zufrieden auf dem Campingplatz und beneidet nicht die, die keine Jacht haben und deshalb im Hotel schlafen müssen.

1997 sahen wir uns Triest als Tagesausflug von Jesolo aus auch nicht gründlicher an, aber wir fuhren zum selben Lokal, in dem mir schon vor sechs Jahren die Miesmuscheln keinen Schaden zugefügt hatten. Dafür, dass ich es wiederfand, bewunderte ich mich sehr, denn es lag ziemlich versteckt an einem kleinen Kanal, war ganz schlicht eingerichtet, und die Terrasse grenzte an die Kaimauer.

Wir waren spät, die letzten Mittagsgäste, doch eine träge Gelassenheit in der Luft oder vom Wasser her verhinderte, dass wir uns gedrängt fühlten. Das Essen war wieder so unkompliziert gut, wie ich es in Erinnerung hatte, und der Blick über die Bucht war für die Augen so anregend wie die ‚pappardelle con salsiccia e funghi‘ für den Gaumen.

Aus der Ferne sehen große Häfen oft eindrucksvoller aus als aus der Nähe: die Schiffe, die Kräne, die Bauten am Meer, dahinter die Häuser, die an den Berghängen emporzuklettern scheinen. Von Nahem wirkt das alles eher verrottet. Beim Filmen habe ich immer auf Großaufnahmen geachtet, was damals wegen der schwierigen Bestimmung der Brennweite leicht zu Ausschuss führte. Aber Weitwinkel kann keine Atmo- sphäre einfangen. Nähe ist schwierig. Manchmal bin ich ihr nicht gewachsen.

Wir fuhren damals auch wieder über die Grenze nach Koper, das schon sehr viel rausgeputzter wirkte als sechs Jahre zuvor, und mit etwas langweiligem Schlangestehen am Übergang durchs 77Inland zurück nach Italien, gleich bis ins Veneto.

Den Namen des Lokals von damals und den des Ortes hatte ich jetzt rausbekommen. Mit genügend Gegoogel geht das schon. Ein Mittagessen dort hätte meiner Erinnerungsseligkeit gutgetan. Ursprünglich hatte ich ja für den Vormittag einen Besuch im Schloss ‚Duino‘ geplant. Dann war mir aber eingefallen, dass wir mit Giuseppe und Bill ziemlich weit weg vom Schloss hatten parken müssen, und diese Strecke zu laufen, traute ich mir nicht mehr zu. Noch mehr hatte mich verunsichert, dass mich Giuseppe im Rahmen meiner Geburtstagsfeierlichkeiten darauf aufmerksam gemacht hatte: War ja gar nicht ‚Duino‘! Das war ‚Miramare‘ gewesen. Also hatte ich gleich in der Nacht in Triest den Ausflug gestrichen – im Bett geht sowas ja leicht – und wollte nun lieber zum Mittag wieder nach Muggia in die Trattoria ‚Risorta‘. Das ging nicht. An der Rezeption fand man heraus, dass sie geschlossen ist, nicht wegen des Sonntages, sondern überhaupt. Derar- tige Schicksalsschläge gilt es zu ertragen und wendig zu bleiben. Also los!

Fast am Ziel

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