Читать книгу Bea, beate und Be - Hans-Caspar von Zobeltitz - Страница 4

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Im Oktober dieses Jahres wurde Detta Redderten aus der Oberprima in Bes Unterprima zurückversetzt, sie war fast zwanzig, erfüllt von Sportleidenschaft, ein völlig erwachsener Mensch, nicht dumm, aber schulfaul. „Ein Blödsinn, dass ich das Abitur noch machen soll, aber Vater will es nun einmal“, erklärte sie. Ihr Vater hatte eine grosse Stellung in der Akkumulatoren-Industrie, das Haus ihrer Eltern lag unweit von dem Bürglerschen. Flüchtig kannten sich Detta und Be schon, nun schlossen sie sich, beide aus ihrem Klassenkreis herausgerissen, zusammen. Detta, die einen eigenen kleinen Wagen steuerte, ihre erste Fliegerprüfung bereits bestanden hatte und als einzige Schwester in einer Reihe älterer, jetzt schon berufstätiger Brüder gewohnt war, dass ihr jeder Wunsch erfüllt wurde, gewann starken Einfluss auf Be. Als sie das erste Mal im Bürglerschen Hause war, sagte sie: „Bei euch möchte man alle Fenster aufreissen, um den Altweibermuff herauszupusten.“ Sie nahm Be mit in ihren Gymnastikunterricht, baute sich ihr gegenüber auf, schmetterte ihr den schweren Medizinball zu, dass Be beim Fangen fast umfiel. Sie kommandierte: „Mehr Kraft beim Zurückwerfen, gestreckt die Arme beim Schleudern“, und Be gehorchte. Sie nahm auch, wie Detta anordnete, Hanteln und Springseil, hetzte Freiübungen und Sprünge nach dem schnellen Jazztempo einer Grammophonplatte ab, vom Ehrgeiz gepackt, den anderen Mädeln nicht nachzustehen. Aber ehe das Turnpensum der Stunde erledigt war, sank sie doch erschöpft auf eine Matte, ihr Atem keuchte, die Muskeln zitterten und schlugen. Detta hob sie auf, schleppte sie in den Duschraum, drehte die Brausen auf. „Da siehst du, was du für ein Waschlappen bist; das dritte oder vierte Mal wird es schon besser gehen.“ Schon am gleichen Abend fühlte Be schmerzhaft alle Glieder, trotzdem sie als Tennisspielerin und Schwimmerin nicht untrainiert war, am nächsten Morgen konnte sie kaum aus dem Bett. Sie schlich zur Schule. Detta lachte: „Ein bisschen Muskelkater. Das schadet nichts. Freitag wird weitergeübt.“ In Be stieg Trotz auf, aber nicht gegen Detta, sondern gegen sich selbst, gegen ihren Körper. Sie hielt den Unterricht durch, obgleich es sie Überwindung kostete. Die Schmerzen schwanden. Sie streckte sich, verlor die jungmädchenhafte Fülle. „Das Kükenfett muss runter“, sagte Detta. — Sofort war Beate besorgt. „Du überanstrengst dich. Diese Detta ist überhaupt nicht der richtige Umgang.“ Auch Bea klagte: „Du kommst jetzt so wenig zu mir.“ Aber Detta war auf dem Plan. „Immer an Mutters Schürzenzipfel hängen, damit kämen wir vorwärts! Es ist höchste Zeit, dass ich dich ’rausreisse.“

Durch Detta lernte Be auch Sophus Seeberg kennen. Die beiden kamen sich näher, weil sie in einem lauten Kreise, den Detta allwöchentlich einmal im Reddertenschen Hause abends zum Tanz um sich sammelte, die Leisesten waren, wenn auch nie Spielverderber. Sie tollten und sangen mit, aber sie hatten doch dann und wann den Wunsch, in einer Ecke zu sitzen und auszuruhen. Es war eine bunte Gesellschaft, die da zusammenkam: Studenten und Studentinnen, Freunde Dettas vom Flugplatz und aus ihren Sportklubs, meist Jungen und Mädel, die sich elend durchschlagen mussten und diese Freitagabende mit Bowle, Bier, Tee und reichen kalten Schüsseln als seltene und sattmachende Abwechslung genossen. Einer brachte den anderen mit, man nannte sich sofort beim Vornamen, war auf du und du. Viel nach dem Woher fragte Detta ihre Gäste nicht.

Sophus war Schüler in der Porträtklasse der Akademie der Künste. Zweiundzwanzigjährig, ein Dickkopf und ein Kerl voll Energie. Fast um Haupteslänge grösser als Be, im schmalen Rassegesicht eine Hakennase, blauäugig, auf dem Schädel eine lichtblonde Mähne, die er eigenwillig aus der Stirn zum Genick zurückskrich. Seine Eltern hatten ein Gut in Sachsen, aber die Landwirtschaft warf nichts mehr ab, und, da er der dritte Sohn, war sein Monatswechsel klein und liess oft bis zum zehnten oder gar fünfzehnten auf sich warten. Begabt war dieser Sophus. Im väterlichen Schloss — wirklich ein Schloss mit breiter Barockfront und mächtigen Räumen — hingen im Speisesaal ein paar wundervolle Ahnenbilder, die Raisky gemalt hatte. Mit den Raiskys hatten sich die Seebergs damals gekreuzt, und so war ein Schuss Künstlerblut in die Junker hineingeraten.

Wie die andern hungerte und plagte er sich durch seine Studienzeit. Wenn das Geld zu Ende war oder ausblieb, lief er nachts in Tanzlokale des Berliner Westens und zeichnete Männer und Frauen — für eine Mark die Skizze, die er mit ein paar Strichen schmissig auf ein Kartonblatt seines Blocks warf; einen Teil seines Verdienstes musste er noch dem Wirt abgeben. Ihn ekelte oft vor dieser Arbeit, denn es waren nicht immer feine Gesichter, die er festhalten musste, und er fühlte, dass er sein Können und seine Kunst so vertat. Er fluchte: „Wenn ich praktische Arbeit fände, ich hinge die Malerei an den Nagel.“ Sein Professor lobte ihn, doch das nützte ihm einen Dreck, wie er sagte. „Von Anerkennung ist noch kein Mensch satt geworden.“

„Dich malen, Be“, — sie hockten an einem solchen Tanzabend bei Detta in einem Nebenzimmer beisammen, während die andern in der grossen Halle den Lautsprecher einen Slowfox brüllen liessen — „dich malen, das könnte mich reizen. Dein verrücktes Gesicht mit dem nordischen schmalen Oval und der ostisch stupsigen Nase, mit den hellen Augen und dem dunklen Haar — das wäre eine Aufgabe.“

„Na, dann mal’ mich doch. Ich hab’ nichts dagegen.“

So kam er ein paar Tage später mit der aufgespannten Leinwand und einer geborgten Staffelei, mit Farbtuben und Palette in die Königsmarckstrasse. Er hatte sich das Geld für das Material in ein paar Nächten zusammengeschuftet. Be lachte: „Du hast es aber eilig.“ — „Man soll eine gute Idee nie vertrödeln.“ Be dachte erst einmal weiblich: „Was soll ich anziehen?“ Er stellte sie ins Licht, betrachtete sie aufmerksam und bestimmte: „Dunkelblau, aber kein stumpfes Dunkelblau, es muss leuchten.“ — „So was hab’ ich nicht.“ — „Irgendein Fetzen, den du dir um die Schultern legen kannst, wird doch hier im Haus sein.“ Da lief Be an Beas Kasten und fand, was er wollte. „Den Malerjüngling werde ich mir nachher ansehen“, sagte Bea, der sie von Sophus berichtete, während sie sich den Schal um die Schultern ordnete.

Oben in ihrem Zimmer hielt Sophus, als sie eintrat, eine ihrer Modepuppen, die sie immer noch mit Flicken benähte und besteckte, in der Hand. „Hast du das gemacht?“ fragte er. Sie nickte. „Ich habe noch mehr von dem Zeug. Es ist so eine Kinderei von mir.“ — „Zeig’ doch mal her.“ — Rot wurde sie, denn sie schämte sich ihrer Puppenwirtschaft, aber er nahm die Sache ernst. „Machst du dir deine Kleider auch selber?“ — „Natürlich, die Schneiderinnen können doch alle nichts.“ — „Zeichnest du dir vorher Entwürfe?“ — „Nein, zeichnen kann ich nicht. Ich muss Stoff in der Hand haben, weisst du. Ich sehe die Kleider gleich plastisch. Farben ausdenken fällt mir schwer, aber wenn ich sie nebeneinander vor mir habe, dann kann ich sie abstimmen.“ Er hatte die Staffelei zurechtgestellt, die Kohle in die Hand genommen und setzte die ersten Striche auf die Leinwand. Sie sass im vollen Licht am Fenster. „Gut hast du das Tuch umgelegt“, sagte er noch, dann wurde er still.

Er sah sie an und sie ihn. Ihr Ausdruck wurde immer ernster, denn sie fühlte, dass er nicht einfach leicht etwas hinschluderte, sondern arbeitete. Das übertrug sich auf sie. Auf seiner Stirn erschien eine senkrechte, steile Falte, und da krauste sie auch die Stirn. Er trat zur Seite. „So geht es nicht. Du wirst mir müde. Dein Gesicht wird leer und langweilig. Aber ich kann nicht reden beim Malen, kann dich nicht unterhalten. Du müsstest etwas tun, was dich ablenkt. Zieh eine von deinen Puppen an, das wäre das beste.“ Sie hatte einen Vorrat von Stoffresten da, holte sich Nadeln und Schere, stellte einen Tisch neben sich. So fasste er sie neu, halb im Profil mit gesenktem Kopf.

Als es zu dunkeln begann und er aufhören wollte, kam Bea. Er, von Hause sehr wohlerzogen, sehr gewandt, küsste ihr die Hand. Sie sah ihn prüfend an, warf auch einen Blick auf die Leinwand, nickte, ohne zu urteilen, fragte ihn dann nach seiner Familie. Sie wusste unter den Seebergs Bescheid. Hier war er ablehnend. „Was soll ich mit dem Adel?“ sagte er, „als Sophus von Seeberg hungert’s sich nur schwerer.“ — „Immer langsam“, erwiderte sie sehr ruhig, „ihr Jungen sollt so etwas nicht einfach über Bord werfen, sollt lieber daran denken, dass Überlieferung verpflichtet.“ Später, als Sophus gegangen war, meinte sie zu Be: „Dein Freund gefällt mir. Aber sieh dich vor, er ist ein verdammt hübscher Bengel. Du bist mit deinen siebzehn gerade in dem Alter, dich schnell und heftig zu verlieben. Und so was kann eklig wehtun.“

An Schellberg dachte Be und lächelte schmerzlich. Was wusste Bea von ihr?

Beate erklärte die Malerei für Unsinn. „Sie hält dich nur von deinen Arbeiten ab. In anderthalb Jahren willst du ins Abitur steigen, da hast du meines Erachtens jede Stunde nötig.“ Be trotzte auf. „Ich glaube, du konntest bisher mit meinen Zeugnissen zufrieden sein.“ — „Du bist gross genug, um zu wissen, was du tust. Und da Bea es für richtig hält ...“ Das war ja stets ihr ausschlaggebender Satz.

So kam Sophus fast täglich ins Haus. Er zögerte die Arbeit hin, stand oft hinter der Staffelei und blickte, ohne zu malen, auf Be, die ihre Stoffe faltete und steckte. Bis sie seine Augen fühlte und rief: „Du sollst nicht so hersehen, Sophus.“ Er log: „Ich seh gar nicht dich an, sondern auf das, was du tust. Du hast Talent, Mädel.“

Zu Weihnachten war das Bild fertig. Er hatte nicht erlaubt, dass sie es während der Arbeit betrachtete. Nun stand sie davor. „Fein, Sophus. Aber du hast geschmeichelt. So hübsch bin ich nicht.“ — „Du bist hübscher, Be.“ — „Du sollst keinen Unsinn reden, verstehst du, sonst ist es aus mit unserer Freundschaft.“ Er schenkte ihr das Bild. Sie freute sich, obgleich sie nie daran gezweifelt hatte, dass er es ihr schenken würde. Einen Kuss gab sie ihm. Er zog sie an sich. Gleich machte sie sich los. „Brav sein, Sophus.“

Über das Fest fuhr er zu seinen Eltern und blieb fast den ganzen Januar fort. Briefe kamen von ihm, er hatte einen Porträtauftrag in der Nachbarschaft von Grölichberg erhalten, eine alte Dame malte er und bat nun: „Besorge mir einen Brokatstoff. Goldgrund mit Farbflecken drin. Er muss zu silbergrauem Haar und sehr frischem Teint passen und zu noch vollen Schultern. Du wirst schon das Richtige finden.“ Sie fuhr sofort in die Stadt, durchsuchte die Läden, wählte lange und war stolz, als er schrieb: „Genau das, was ich wollte. Ausgezeichnet. Ich wusste ja, dass man sich auf dich verlassen kann. Wir sollten zusammen arbeiten, dann könnte etwas aus uns werden.“ Und im nächsten Brief stand: „Ich habe Pläne, Be, grossartige Pläne. Und Sehnsucht nach dir.“

Als er zurückkam, war er erregt, besessen von seinen neuen Gedanken. „Wir machen zusammen einen Laden auf, einen Modeladen. Nicht gleich, später. Nach deinem Abitur, denn vorher lassen sie dich ja doch nicht los. Du entwirfst die Kleider. Ich zeichne die Frauen, wie sie in ihnen aussehen werden. Das wird ziehen. Wir werfen unseren Geschmack zusammen. Du musst natürlich erst auf eine Modeschule, den technischen Kram lernen. Aber da wird ein halbes Jahr genügen.“ Sie liess ihn ausreden, denn es gefiel ihr, was er sagte. Aber dann winkte sie doch ab. „Ist ja Unsinn, Sophus. So was kostet Betriebskapital. Woher sollen wir das nehmen? Bei uns ist es schon lange knapp, Beate spart, wo sie kann, das merke ich längst. Und dann: ich soll doch Medizin studieren.“ — „Hast du Neigung dazu, wirkliche Neigung?“ — „Darauf kommt es doch nicht an. Vater ist Arzt, ich werde Ärztin. So steht es fest.“ Es klang nicht sehr überzeugend, wie sie es sagte. Sie musste wieder an Schellberg denken und an das ‚So‘, an dies langgezogene, ablehnende ‚So‘, das seine Antwort gewesen, als sie ihm von ihrer Arztzukunft sprach.

Sophus war ein Starrkopf. Er liess nicht locker, nicht im Frühling, nicht im Sommer; immer wieder brachte er seinen Plan vor. Er holte sich Detta zu Hilfe, und sie war sofort auf seiner Seite. Gemeinsam fiel es ihnen nicht schwer, Be zu überzeugen, wenn sie sich auch noch nicht ganz ergab; die Scheu vor dem Willen der Mutter hielt sie von der letzten Entscheidung zurück.

Detta hing sich jetzt eng an Be. Sie nutzte ihr Wissen aus. „Diesmal muss ich das verfluchte Examen schaffen.“ Be paukte mit ihr, sah ihre Arbeiten durch. Dafür lud Detta sie auf Wochenend in ihren Wagen und oft Sophus dazu. Sie lagen am Wasser, sie schwammen. Detta und Be hatten ihr Zelt und Sophus baute sich eine Hütte aus Schilf daneben, in die er seinen Schlafsack schob. Aber bevor sie zur Ruhe gingen, lagen sie nebeneinander, sahen in den Mond oder in das Kochfeuer, das sie angezündet hatten und redeten. Sie philosophierten ins Halbdunkel hinein, wie nur Jugend philosophieren kann, die Liebe, Unendlichkeit, Gott, Welt, Vaterland, Freiheit, Macht, Willen, Treue, Hass in grossen Worten ineinandermischt, sich begeistert, sich aufwühlt, sich streitet und wieder verträgt und dabei echt und leidenschaftlich empfindet. Sie sprachen, sie glaubten an sich und ihre Worte. Oft schob sich Sophus dann dicht an Be heran, griff nach ihrer Hand, küsste ihre Fingerspitzen. Oder er bettete seinen Kopf dicht neben den ihren, dass sein blondes Haar ihr braunes berührte. Dann kam es vor, dass sie die Gesichter zueinander wandten und sich in dem unsicheren Lichte lange ansahen. In ihren Augen wurde ein Leuchten wach, sie spürten den Atem des anderen, der wärmer war als die warme Sommernacht. Sie zitterten beide. Sie liessen Detta sprechen, bemühten sich, ihr zuzuhören, aber dachten nur an sich. Leise flüsterte Sophus dann wohl: „Kleine Be“ oder „Ich hab’ dich lieb, Be.“ Be hörte es und schloss die Augen. Einmal stand Detta auf und ging bis ans Seeufer; ein Geräusch war auf dem Wasser gewesen, Fische waren gesprungen oder eine Ente war eingefallen. Sie lauschten, wie die morschen Zweige unter ihren Schuhen knackten, sie verfolgten ihre Schritte, die sich mehr und mehr entfernten. Sophus richtete sich ein wenig auf und beugte sich über Be, er senkte langsam seinen Mund zu ihren Lippen. Sie schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn zu sich. Sie küssten sich. Aber schon machte sich Be wieder frei. „Wo bist du denn, Detta?“ rief sie laut. — Als sie am nächsten Morgen in den See hinausschwammen, sagte sie: „Das darfst du nicht wieder tun, Sophus.“ Und als er etwas erwidern wollte, schnitt sie sein erstes Wort ab: „Nein — nein. Es ist nicht gut. Nicht für mich. Nicht für dich.“

In diesem Sommer war sie nur wenige Tage beim Vater; Detta sollte mit ihrem Wagen kommen und sie abholen. Sie wollten gemeinsam durchs Frankenland fahren. Be hatte sich das gewünscht: Rothenburg und Amorbach, Bamberg, Nürnberg, Bayreuth, Städte und Flecken, das Maintal und die Berge, Schlösser und Kirchen, Burgen und Museen. Und Detta wollte zum Schluss auf die Wasserkuppe, wenn die Flugtage in der Rhön begannen. Schellberg war nicht auf Hochfried. „Er hat sich erst zum Herbst angesagt“, berichtete Doktor Bürgler, als Be fragte. Sie lief nicht durch den Wald, sie blieb im Haus, war ruhiger als früher. Der Vater merkte es. „Drückt dich was, Mädel?“ — „Ja, Vater, die Zukunft. Ostern mache ich mein Abitur.“ Er nahm ihren Arm, führte sie in sein Arbeitszimmer, setzte sich ihr gegenüber. „Hast du Angst vorm Examen?“ Sie lächelte. „Das nicht.“ Gleich wurde ihr Ausdruck wieder ernst. „Aber hinterher — ich möchte nicht Medizin studieren.“ — „Was dann?“ — „Überhaupt nicht studieren. Ich will was Praktisches anfangen. Arzt — Ärztin: das ist mir im Grunde fremd. Wenn ich irgend etwas dafür in mir spürte, würde ich doch hier schon ins Labor laufen, würde dich ausgepresst haben mit Fragen. Nichts fühl’ ich, nichts. Ich könnte mich dazu zwingen. Aber das hat doch keinen Sinn.“ Er unterbrach sie nicht. Sie wird mir schon sagen, was sie will, dachte er. Da fuhr sie auch schon fort: „Lernen, was zum Studium erforderlich — das könnte ich natürlich. Das macht mir keine Sorge. Ich kenne meinen Kopf. Aber ein Arzt ohne das Gefühl innerer Berufung, das wird doch nichts Ordentliches. Und nun gar eine Ärztin. Es sitzen genug Ärzte ohne Brot da, ohne Praxis, aber mit Schulden für ihre Instrumente, für ihre Einrichtung. Soll ich ihre Zahl vermehren? Soll ich ihnen als Frau Konkurrenz machen?“ Und nun entwickelte sie ihm Sophus’ Plan, ohne dessen Namen zu nennen: Modeschule, ein halbes Jahr Arbeit in einem Geschäft und dann versuchen, sich selbständig zu machen. Sie sprach sich in Eifer. Er sah sie an: wie sie Beate gleichen kann. — Beate, als sie noch jung war — damals, als sie verlobt waren, als sie heirateten, vorm Kriege. Es war ihm wie etwas Entschwundenes, Verlorenes. „Hast du schon mit deiner Mutter darüber gesprochen?“ — „Das ist es ja, Vater, davor hab’ ich Angst.“ Nun sah sie ihn an, hoffte, dass er ihr eine Brücke bauen würde; aber es erfolgte nichts. So raffte sie sich noch einmal auf: „Könntest du nicht an Beate schreiben?“ — „Ich an deine Mutter? — Nein, Kind, das geht nicht.“ — Heftig wehrte er sich. „Nein — nein; wir verkehren seit Jahren doch nur durch unsere Anwälte.“ — „Auch, wenn es sich um mich handelt?“ — „Auch dann.“ Er sagte die zwei Worte stockend, er fühlte wohl, dass ein Vorwurf, ein berechtigter Vorwurf in ihrer Frage lag.

Sie wagte nicht, gleich weiter zu reden, zu bohren. Zum erstenmal empfand sie die tiefe Kluft zwischen den Eltern und war beschämt, dass sie noch nie vorher über diese zerschlagene Ehe nachgedacht hatte. Eben hatte sie vom Vater gefordert, dass er ihr den Weg zur Mutter erleichtern sollte, und nun musste sie sich fragen: hätte ich nicht längst versuchen sollen, Bindeglied zwischen diesen beiden Menschen zu werden? ich, ihr Kind? „Warum bist du damals von Mutter fortgegangen?“ Ganz langsam, ganz leise sprach sie den Satz.

Er stand auf, jäh; mit schnellen Schritten ging er zum Fenster, wandte ihr den Rücken zu, sah hinein in das Dunkel der Schwarzwaldtannen.

Da war sie auch schon neben ihm, legte ihren Arm um seine Schulter, lehnte sich an ihn. „Ich habe dir weh getan eben, Vater, verzeih. Aber musste diese Frage nicht einmal kommen? Was weiss ich denn von euch beiden?“

„Ich bin nicht von deiner Mutter fortgegangen, Be. Sie hat mich fortgetrieben.“

Noch näher trat sie an ihn heran, er sollte doch fühlen, rein körperlich fühlen, dass sie zu ihm gehörte. „Ihr liebtet euch doch?“

Er schob sie von sich, sanft, aber doch so willensstark, dass sie dem Druck nachgab. Müde glitt ihr Arm herab.

„Lass mich allein, Be, bitte. Es hat keinen Sinn, über diese Dinge zu sprechen. Später vielleicht einmal ... wenn du grösser bist, älter ... dann wirst du mich wohl verstehen ... uns beide.“

„Liebst du denn eine andere Frau?“

Er sah: sie erschrak über ihre eigene Frage, sie wurde rot.

„Nein, kleine Be.“

Nun hatte er sogar ein Lächeln, ein fernes, müdes Lächeln.

Zur Tür brachte er sie. „Zerbrich dir nicht den Kopf. Mache dir keine unnötigen Gedanken. Deine Mutter hat dich lieb, und Ich habe dich lieb. Lass es dir genug sein.“ — — —

Am nächsten Tag war Detta da mit ihrem Wagen.

„Nanu, Be, wie siehst du denn aus? Als ob du die ganze Nacht geheult hättest.“

Be nickte trübe. „Hab’ ich auch, Detta.“

Und dann kam die Abfahrt von Hochfried. Personal stand am Auto, Schwestern, Kurgäste. Be fühlte, dass dem Vater der Abschied schwer wurde. „Wenn du Fragen hast wegen deiner Zukunft, wende dich an Schellberg“, sagte er. Und Be dachte: Schellberg ... ist da in mir nicht auch etwas verschüttet wie zwischen Beate und Vater?

Der Wagen rollte davon.

Sie sah sich um. Vater winkte. Sie musste sich zusammennehmen, um nicht wieder aufzuweinen. Detta hätte sie nicht verstanden, hätte gescholten mit ihren lauten Worten: Schlappstiefel — Heulliese.

Und dann war Rothenburg da und Nürnberg und dann die bewaldeten Täler der fränkischen Schweiz mit ihren Burgen und begrünten Felsecken. Und Bayreuth mit den Wagner-Erinnerungen und Bamberg mit dem Reiter im Dom. Die Sommersonne schien, und das Bügeleisen des Lebens glättete die Falten und löschte das Erinnern an die wehen Minuten. Auf der Wasserkuppe setzte sich Detta in ein Segelflugzeug, und Be zitterte um die Freundin, als eine Bö unter die Tragflächen griff und der kleine Apparat abzugleiten drohte.

Die Gegenwart war stärker.

Und sie blieb es in Berlin.

Das letzte halbe Jahr vor dem Abitur forderte wirkliche Arbeit von Be, doppelte Arbeit, weil sie sich für Detta mitverantwortlich fühlte, die immer ausbrechen wollte: zum Sport, ins Wochenende, zu den Freunden. Be hielt sie an der Stange, sie schob auch Sophus zur Seite. „Störe uns jetzt nicht.“

Die Zeit verging wie im Fluge. Im März bestanden Be und Detta die Reifeprüfung.

Bea, beate und Be

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