Читать книгу Bea, beate und Be - Hans-Caspar von Zobeltitz - Страница 5

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Die Feigheit, die verruchte Feigheit. Beate schalt sich in schlaflosen Nächten, dass sie diese Feigheit nicht überwinden konnte, um endlich, endlich Bea ehrlich zu beichten, wie es um die Trümmer ihrer Vermögen bestellt war. In den Nächten, wenn die Angst sie stark und stärker überfiel, wenn das Zukunftsbild im Halbwachsein trüb und trüber wurde, fasste sie die stärksten Entschlüsse: das Personal entlassen, das Haus verkaufen, in eine Drei- oder Bierzimmerwohnung ziehen, am besten von Berlin fort in eine Kleinstadt. Es musste etwas geschehen, denn die Schulden wuchsen. Sie hatte schon gelernt, das Finanzamt um Stundung zu bitten, die Lieferanten zu vertrösten; aber sie hatte auch erkannt, dass das nur ein Hinausschieben bedeutete; zuletzt musste sie doch auf die Bank gehen und Papiere verkaufen. Und zwar immer für Dinge, von denen letzten Endes niemand etwas hatte: Steuern für das Haus, Gebühren für den Speicher in Kassel, auf dem eigentlich nur unnötiges Gerümpel stand, an das höchstens einmal Bea dachte. „Weisst du, Beate, die schöne Base, die uns der General von Rechberg zur Hochzeit schenkte — dein Vater hatte sie so gern“ — oder: „der grosse Bücherschrank, der auf der Diele stand — entsinnst du dich noch, Beate?“ Aber dass Bea eben immer wieder von diesen Stücken sprach, das war der Stachel. Durfte Beate sie fortgeben, durfte sie die Mutter um diesen Erinnerungsbesitz berauben?

In einer Nacht kam ihr der Gedanke, eine Hypothek auf das Grundstück aufzunehmen. Dann würde plötzlich bares Geld da sein. Sie lief zu einem Anwalt, nicht zu ihrem Anwalt, der sie kannte, der alle Verhandlungen um Be mit Schellberg geführt hatte, sondern zu einem beliebigen, dessen Schild sie neben einem Hauseingang sah. Der Mann war höflich, gewandt, zuvorkommend. Er bat um die notwendigen Unterlagen, um Vollmachten. Er sah auch keine Schwierigkeiten, da eine Belastung bisher nicht vorlag; es floss ja immer noch ausländisches Kapital nach Deutschland hinein. Beate atmete auf, sie sah wieder Land vor sich; vier Wochen später unterschrieb sie mehrere Urkunden, ohne darüber nachzudenken, dass sie sich mit einer jährlichen Zinszahlung beschwerte, die untragbar war. Als die fünfundvierzigtausend Mark auf der Bank einliefen, schwanden ihre Unruhe, ihre Schlaflosigkeit. Sie schrieb Schecks aus für die Steuerbehörden, für Kassel, für allerlei Lieferanten, sie fühlte sich schuldenfrei.

Das war kurz vor Bes Abitur. Und als Bea ihr sagte: „Wir müssen doch jetzt dem Kinde nach all der Schererei eine Freude machen, wie wäre es, wenn du mit ihr verreistest?“ hatte sie keine Einwände, ja sie freute sich auf die Ausspannung. Ich habe sie wirklich nötig nach all den pekuniären Erregungen der letzten Zeit. Wenn sich im tiefsten Innersten doch Bedenken meldeten, legte sie sich selbst Fragen vor, um die warnende Stimme abzutöten: was habe ich denn in all den letzten Jahren von meinem Leben gehabt? Mühe und Arbeit, nichts weiter, Sorgen um Bea und Be. Warum soll ich nicht endlich einmal etwas für mich tun.

In dieser Zeit kam Be einigemale zu ihr. „Ich möchte gern über meine Zukunft mit dir sprechen, Beate.“ Aber Beate hatte dann Sorge, dass ihr die gerade wiedergewonnene Ruhe gestört wurde, dass Be wirtschaftliche Dinge berühren könnte, die sie nicht berührt wissen wollte. So machte sie Ausflüchte: „Was willst du dich jetzt mit Plänen quälen, Be, mache erst dein Examen, dann können wir ja über die Universität sprechen.“ Be brach dann auch stets schnell ab; wenn Beate aufmerksam gewesen wäre, hätte ihr das auffallen müssen, aber sie war zu sehr in ihrer eigenen Gedankenwelt befangen.

Die ersten Tage nach dem Abitur waren für Be voller Unruhe. Beate und Bea bereiteten ihr ein kleines Fest in der Königsmarckstrasse und kündeten ihr die Reise an, deren Ziel nun auch feststand: Lugano. Detta trommelte den lauten Freundeskreis zusammen, es wurde ein lustiger Abend mit Tanz und Sekt. Die Oberprima fand sich zu einer gemeinsamen Abschiedsfeier zusammen, auf der starktönende Reden gehalten wurden.

Dann aber war plötzlich eine Leere vor Be. Jeder Tag stand ohne Aufgabe vor ihr, ganz anders als sonst in Ferienzeiten, die doch immer eine fassbare Grenze gehabt hatten. Die Reise war erst auf Ende Mai festgesetzt, früher im Jahr war es für Lugano noch zu kühl. „Ruh dich bis dahin aus, dann wirst du es doppelt geniessen“, hatte Beate gesagt, „wenn du im Herbst mit der Universität beginnst, ist es Zeit genug.“

Be hatte ein schlechtes Gewissen. Ich muss jetzt endlich Klarheit schaffen, predigte sie sich, aber zu einem wirklichen Entschluss konnte sie sich nicht durchringen. Sie lief zu Sophus. Sie kannte seine Studentenbude schon, in der Grolmanstrasse, dicht bei der Hochschule, vier Treppen hoch im Hinterhaus, ein armseliges Loch.

Sophus redete auf sie ein. „Du wirst doch nicht deine Zeit vertrödeln, Mädel, fange an, sofort, hin zur Modeschule. Je eher wir unseren Laden aufmachen, desto besser.“

In ihr war ein Schwanken. Jetzt, da die Entscheidung vor ihr stand, wusste sie weniger als je, wohin sie ihren Weg führen sollte. „Mode, Sophus, ist Mode wirklich das Richtige? Gewiss, ich hätte meinen Spass daran, würde das Drum und Dran sicher schnell lernen. Es würde wohl auch gehen, denn Ich habe Vertrauen zu unserem Geschmack, zu meinem und zu deinem. Aber Mode? Es ist so etwas Äusserliches, eigentlich Unnötiges. Und darauf soll ich mein Leben stellen?“

Er lächelte. „Du triefst ja plötzlich von moralischen Bedenken, Be. Das war sonst nicht deine Art. Worum handelt es sich denn bei uns? Boden unter die Füsse zu bekommen, Geld zu verdienen, Arbeit zu haben. Und zwar eine Arbeit, die unseren Anlagen entspricht. Bei mir ist das vielleicht noch wichtiger als bei dir, denn ich bin auf Verdienst angewiesen. Du noch nicht. Ich betone das ‚noch‘, denn wie lange es noch Zinsen von Wertpapieren gibt und Pensionen, das kann heute kein Mensch mit Sicherheit sagen. Und selbst wenn deine Mutter in der Lage bleibt, dich durchzufuttern, würde dir das genügen? Die Zeit ist doch vorbei, wo ihr jungen Mädel zu Hause Staub wischtet und auf den Mann wartetet. Davon habt ihr euch doch frei gemacht.“

„Ich könnte ja studieren, Sophus. Du weisst doch, Beate will es. Ich bin darauf angesetzt.“

„Jawohl, studieren! Wie ich Porträts malen könnte. Und was ist das Ende: du sitzt mit deinen medizinischen Examen da, zu denen du dich ohne wirkliche Berufsbegeisterung durchgequält hättest ...“

Sie unterbrach ihn. „Nicht so hopp-hopp, Sophus. Die Freude am Studium könnte kommen. Ich habe in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht. Ist es nicht schöner, Kranke zu heilen, als Damen hübsch anzuziehen? Wird mir eine Tätigkeit, sagen wir als Kinderärztin zum Beispiel, nicht mehr Befriedigung geben als deine Modepläne?“

„Theorie, Be, reine Theorie. Es wäre auch — sagen wir: edler, wenn ich ernsthafte Kunst triebe. Es würde mich, weiss der Himmel, auch mehr befriedigen. Ich habe Weihnachten eine diebische Freude gehabt, als ich die alte Gräfin Keulass malte, es war herrlich, dieses liebe Gesicht, dies weiche weisse Haar zu fassen und die Halbtöne auf dem Brokat, den du schicktest. Herrlich, sage ich dir. Aber kann ich von zwei oder drei Porträtaufträgen im Jahre leben? Und kannst du leben, wenn du zwar deine Examen hast, aber keine Praxis? Wer zahlt mir die Kosten für ein Atelier, wer dir die Kosten für Wohnung mit Wartezimmer, Geräten, Apparaten und all dem Kram, den du brauchtest? Sogenannte freie Berufe! Einen Dreck sind die jetzt wert. Ins Praktische müssen wir hinein. Ware liefern, die jeden Tag gebraucht wird. Mode, das ist das Richtige. Und wenn die Mark wieder nur einen Pfennig wert wird, und wenn die Wirtschaft noch mehr pleite ist als jetzt, ihr Frauen werdet euch weiter Kleider kaufen und Bändchen umbinden.“

„Du bist nicht sehr liebenswürdig gegen mein Geschlecht.“

„Aber hab’ ich nicht recht? Mädel, Mädel, ich seh’ ihn doch schon vor mir, unseren Laden. Kleider in Seide, Samt und Wolle! Farben! Stoffe! Und ein Schaufenster, ein Schaufenster! Das bau’ ich auf, dass keine Frau daran vorbeigehen kann. Und wir beide dann zusammen, Be, wir beide. Ich mit ’nem Schwung und du mit deinen geschickten Fingern. Hinten haben wir eine Werkstatt, da sitzt erst ein Mädel, aber bald werden’s zwei, drei, vier. Die Arbeit hört da überhaupt nicht auf. Überstunden müssen wir machen.“ Er war aufgesprungen, lief in dem winzigen Raum hin und her, war ganz voller Begeisterung. Jetzt blieb er vor Be stehen, streckte ihr die Hände entgegen. „Also schlag ein, mach mit. Ab Montag gehst du auf die Modeschule. Ich komme auch hin, sowie unsere Ferien auf der Hochschule anfangen; das Schuldgeld zeichne ich mir schon zusammen. Ich hab’ mir den Betrieb bereits angesehen. Wir lernen dort alles: neben dem Handwerklichen auch Einkauf, Verkauf, Kundendienst, Buchführung. Was du willst, was du brauchst. In einem Jahr sind wir ausgebildet, fix und fertig.“

Er hatte Tempo in seinen Worten, er riss Be mit. Ihr Widerstand war ja nicht sehr stark, denn im Innersten war sie schon halb entschlossen gewesen, mitzutun. Nur zum äusseren Entschluss hatte ihr die Kraft gefehlt, und da rannte er jetzt ihre letzten Bedenken über den Haufen.

„Und Beate?“ sagte sie noch, „wie sag’ lch’s ihr? Sie sieht mich doch als Studentin.“

„Nichts sagst du ihr. Hängst du immer noch am Schürzenzipfel? Lässt du dich immer noch bevormunden? Selbst müssen wir unser Leben bauen. Lass sie im Glauben, du gingst auf die Universität. Stell sie eines Tages vor die vollendete Tatsache. Ins Unabänderliche fügen sich Eltern immer am ehesten. Mit ihren Bedenken halten sie uns doch nur auf, denn zum Schluss müssen wir ja doch unseren Weg gehen und nicht ihren. Und viele sind erst auf ihren eigenen Weg gekommen, nachdem sie Jahre durch Bedenken anderer verloren hatten.“

Noch einen Einwand fand sie. „Und das Geld, Sophus? Wir brauchen doch Kapital, wenn wir anfangen wollen.“

„Geld kommt schon. Wo ein guter Gedanke ist und ein fester Wille, kommt auch Geld hin. Ausserdem ist das eine spätere Sorge. Das hat ja noch ein Jahr Zeit.“ Noch immer hielt er ihr seine Hände entgegen. „Also: schlag ein.“

Sie schlug ein, und er hielt ihre Hände fest, zog sie aus dem kleinen Sessel hoch, zog sie an sich. „Be, Mädel.“ Er küsste sie, und sie liess es sich gefallen. Es war wie im Sommer am Seeufer: sie zitterten beide, sie sehnten sich und fürchteten sich vor ihrer Sehnsucht.

Plötzlich wurde in Be ein Gedanke wach: Schellberg. Die Erinnerung an ihn fiel sie an. Sie bog ihren Kopf zurück, wich dem drängenden Sophus aus, machte sich frei. „Lass die Dummheiten“, sagte sie wieder. Wie schon damals im Sommer.

Er gehorchte, aber er widersprach: „Dummheiten nennst du das, Be, Dummheiten? Mir ist’s ernst. Wir heiraten, Be. Sobald wir den Laden haben, heiraten wir. Warum sollen wir warten? Warum und worauf?“

Nun musste sie lachen. „Du bist und bleibst ein Phantast, Sophus.“ —

Aber dann fügte sie sich doch seinen Arbeitsplänen. Zu Hause machte sie einen Umweg über Bea. „Ich will die Zeit nützen“, sagte sie zu ihr, „was soll ich hier Tag für Tag herumtrödeln? Ich gehe auf eine Schneiderschule.“

Beate erfuhr von dieser Tätigkeit erst, als Be fast schon vierzehn Tage die Brühlsche Modeakademie in der Prager Strasse besuchte. „Merkwürdige Passion“, meinte sie, als Bea es ihr erzählte. Doch die Grossmutter war anderer Ansicht. „Ich finde es sehr vernünftig von dem Mädel. Das Praktische kann eine Frau immer gebrauchen.“

Im Mai waren Beate und Be in Lugano.

Be genoss die Tage in voller Ferienlosgelöstheit. Sie wurde sich erst hier der Befreiung vom Schulzwang bewusst; in Berlin hatte sie die gewohnte Umgebung der Königsmarckstrasse noch nicht zur rechten Erkenntnis kommen lassen, dass nun ein ganz neuer Lebensabschnitt eingesetzt hatte; Sophus hatte sie in Atem gehalten, und die Modeakademie mit ihrem regelmässigen Stundenplan war auch nur eine Fortsetzung der Prima gewesen.

Hier stellte plötzlich niemand Ansprüche an sie. Auch Beate nicht.

Die ersten Tage waren sie noch gemeinsam gewandert und mit den Dampferchen und Motorbooten über den blauen See gefahren. Beate kannte Lugano: sie hatte die ersten Wochen ihrer Hochzeitsreise mit Karl Bürgler hier verbracht, bevor es weiterging nach Italien hinein. Und sie, die bisher nie mit Be über den Vater gesprochen hatte, erzählte von dieser Zeit, anfangs allerdings meist in dem weichlichen Klageton, den sie gern anschlug: „Ja damals — das waren Zeiten, da wohnten wir im Palasthotel drüben im eigentlichen Lugano und nicht in diesem Casserate, diesem Vorort, nicht in diesem billigen Hotel; damals konnten wir uns ja alles leisten ...“ Aber dann kam ein anderer Klang in ihr Erzählen hinein: ein liebevolles Erinnern an Spaziergänge, an Bootsfahrten, ja an den Vater selbst. So herzlich konnten die Worte sein, dass es Be schien, Beate habe Lugano gar nicht ihretwegen, sondern um dieser Erinnerungen willen gewählt.

Als die Zahl der üblichen Ausflüge dann abgemacht war, als das Planen um neue Wege und Fahrten schwieriger wurde, liess Beates Wanderehrgeiz nach. Sie griff zu, als sich im Hotel Seegarten eine Bridgepartie zusammenfand, und sass nun die Vor- und Nachmittage unter sonnenschützenden Schirmen auf der Terrasse des Hotels mit Mrs. Holver, Frau Türken und Herrn von Nägelein, um nur aufzustehen, wenn nach beendetem Rubber die Karten neu ausgezogen und die Plätze gewechselt werden mussten.

So hatte Be viel Zeit für sich. Sie nutzte sie, um über sich nachzudenken. Erst über das, was nun kommen sollte: die Modeschule, der Laden, das schien ihr jetzt richtig und gut, aber man durfte es nicht so überstürzen, wie Sophus es wollte; die Grundlagen mussten besser gefügt werden, auch bei ihr selbst: erst muss ich praktisch in einem Geschäft arbeiten — ein Jahr oder anderthalb; Sophus wird sich gedulden müssen. Ja — Sophus. Über den gab es auch allerlei nachzudenken. Er war ein Dickkopf, es würde nicht immer leicht mit ihm sein und seinen Gedanken von Liebe und Ehe. Die erschwerten alles. Eben weil er es so verdammt ehrlich meinte. Aber ihr Herz schlug doch nie einen Takt schneller, wenn er kam, wenn er da war. Gut Freund — gewiss, aber mehr — nein. Schneller hatte das Herz geschlagen, als sie damals vor Schellbergs Haus gestanden hatte; aber das war nun schon lange her — fast zwei Jahre. Wie die Zeit davonlief. Schellberg und Sophus — so grundverschieden waren sie: der eine eben ein Mann, der andere ein guter Kamerad. Ein Kuss von Sophus war fast wie ein Kuss von Detta, nur dass er ein bisschen mehr schmeichelte, mehr streichelte, weil die Bewunderung, die Verehrung gut tat, die in ihm lag — die Liebe. Vielleicht muss ich dem Sophus noch einmal sehr weh tun, dachte sie.

In diesen Tagen trat ein dritter Mann in Bes Leben.

Sie sass eines Nachmittags rittlings auf dem Sprungbrett vor dem Hotel Seegarten. Die Frühlingssonne schien sommerlich warm, und die Wasserfläche lag einsam da. Die Gäste hielten Mittagsruhe, ihnen war es schon wieder zu heiss, sie mussten sich von den Anstrengungen des morgendlichen Spazierganges und des Essens erholen. Auch Beate.

Be war in dieser ersten Woche viel geschwommen, sie war — sehr zum Ärger Beates, die so etwas unweiblich fand — schon indianerbraun gebrannt, selbst an Stellen, die jetzt das knappe Badetrikot bedeckte, denn sie hatte Tag für Tag früh, ehe die anderen Hotelgäste erwachten, auf dem Trockenbalkon des Hauses oben auf dem Dach unbeobachtete Sonnenbäder genommen und ihre Turnübungen gemacht.

An einen Brief von Sophus, der heute auf ihrem Frühstückstisch gelegen, dachte sie jetzt. Sophus schrieb: er habe wichtige Neuigkeiten, die er unbedingt mit ihr besprechen müsse; es böte sich Gelegenheit, vorteilhaft einen Laden in bester Gegend zu übernehmen, er wolle nach Lugano kommen, wenn sie ihren Aufenthalt nicht abbrechen könne oder wolle. Eine recht sophussche Dummheit: nach hierher reisen, wo er nie wusste, wie er mit dem Gelde auskommen sollte, einen Laden mieten, ehe sie beide ausgelernt hatten. Sie würde ihm abdrahten, er sollte zu Hause bleiben. Sophus! — er sollte sie jetzt in ihrer Ruhe nicht stören.

Sie fühlte sich auf ihrem Brett nicht mehr wohl. Die Gedanken waren nicht angenehm. Die schlanken Beine zog sie an und richtete sich schnell auf. Die Arme hob sie über den Kopf und federte in den Knien. Mit einem Kopfsprung schnellte sie sich ins Wasser. Als sie auftauchte, hörte sie eine Stimme vom Ufer her „Bravo“ rufen, sie drehte sich auf den Rücken und erkannte: es ist Herr Garlier aus Luzern, der auch im Hotel wohnt. Sie lachte und winkte ihm harmlos zu, obgleich er sich Beate und ihr noch nicht vorgestellt hatte; sie freute sich der Anerkennung, denn sie wusste, der Kopfsprung war ihr tadellos gelungen: Arme und Beine gestreckt und das Kreuz leicht durchgebogen — ganz flach war sie ins Wasser gekommen. — Sie wendete und schwamm mit ruhigen Stössen in den See hinaus. Als sie das kleine Floss, das etwa fünfzig Meter vom Ufer verankert war, erreicht hatte, stemmte sie sich auf die Balken. Es ging leicht, das Wasser hob sie, mit einem Ruck war sie oben, stand steil da und freute sich wieder der heissen Sonne, die sofort begann, ihre Haut zu trocknen. Sie blickte über die silbrigglänzende Seefläche nach dem jenseitigen Ufer, wo die bewaldeten Hänge des Monte Caprino aufstiegen, blickte südwärts nach Paradiso, dessen Häuserkette weiss leuchtete. Sie überlegte: heute nachmittag würde sie mit einem Motorboot oder Dampfer zu irgendeiner der vielen kleinen Uferwirtschaften fahren und dort Kaffee trinken. Allein. Das würde schön werden.

Als sie sich umwandte, sah sie, dass dieser Herr Garlier noch immer auf der Terrasse stand; sie fühlte, er hatte sie beobachtet. Und plötzlich schämte sie sich ihres knappen Badetrikots. Sie sprang ins Wasser zurück: sie wollte zum Ufer und sich in ihren Bademantel hüllen, der am Ende des Sprungbrettes lag. Aber dieser Mann wich nicht vom Fleck. Ein paarmal umkreiste sie das Floss, schwamm ein Stück dem Strande zu, dann wieder zurück; sie wurde müde, ihr wurde kalt. Sie begann, sich zu ärgern. Sie rief: „So gehen Sie doch bitte endlich weg!“ Da verbeugte er sich verbindlich und wandte sich ab. Schon war auch sie an Land, hastete über den schmalen Strand, raffte ihren Bademantel auf, warf ihn um die Schultern und eilte auf ihr Zimmer. —

Als sie zwei Stunden später zur Schiffsanlegestelle ging, hatte sie den Zwischenfall fast vergessen. Sie hatte sich wütend aufs Bett geworfen — was fiel diesem unverschämten Herrn Garlier ein? — hatte sich dann, weil sie fröstelte, die Decke über den Körper gezogen und war eingeschlafen. Im Schlaf verraucht aller Zorn schnell.

Ihr Weg führte sie an der Post vorbei, das Telegramm an Sophus fiel ihr ein. Sie trat in den Schalterraum, liess sich ein Formular geben und schrieb: „Dein Kommen zur Zeit zwecklos. Brief folgt. Herzlichst Be.“

Der Dampfer nach Campione, den sie eigentlich erreichen wollte, fuhr ihr vor der Nase weg. So wartete sie auf dem Steg das nächste Boot ab und fuhr nach Gandria, es war ja gleichgültig, wo sie ihren Kaffee trank; schön war es überall.

Das Gasthaus in Gandria ist an den Uferfels geklebt, seine Terrasse ist in den See hineingebaut. Man sitzt auf Holzbrettern und hört das Wasser unter sich glucksen. Be fand einen Platz unmittelbar am Geländer. Sie bestellte sich Getränk und Gebäck und döste über die glitzernde Fläche. Sophus kam ihr wieder in den Sinn; das Telegramm würde ihn enttäuschen, sie musste ihm wirklich nett schreiben, ganz einfach würde der Brief nicht werden.

Plötzlich hörte sie eine Stimme neben sich: „Sind Sie mir noch böse?“

Sie wandte sich um; es war dieser Herr Garlier. „Natürlich bin ich Ihnen noch böse.“

Er verbeugte sich leicht. „Oh, das tut mir leid.“ Dann rückte er einen Stuhl beiseite, schob sich am Tisch entlang und nahm ihr gegenüber Platz. „Sie gestatten doch“, fragte er, als er schon sass.

„Eigentlich wollte ich allein bleiben.“

Er schien die Worte zu überhören. „Sie dürfen den Vorfall heute nach Tisch nicht ernst nehmen“, sagte er. „Ich hatte wirklich nur rein technisches Interesse. Der Kopfsprung war tadellos.“

„Sind Sie Sportsmann?“

„Das nicht. Es war auch eigentlich nicht der Kopfsprung, der mich fesselte. Es war Ihre Figur ...“

Sie fuhr auf: „Erlauben Sie ...“

Ein Lächeln trat auf sein Gesicht. „Sie müssen mich verstehen: ich bin Schneider — Damenschneider.“ Und ehe Be etwas entgegnen konnte, fuhr er fort: „Sehen Sie, deshalb muss ich mich berufsmässig mit Frauen beschäftigen. Das heisst mit der Kleidung der Frauen und ihrem Sitz. Also mit ihren Figuren. Ich kann Ihnen zum Beispiel sofort sagen, dass das Seidenjäckchen, das Sie da neben sich liegen haben, nicht aus Paris stammt, wie Ihnen der Verkäufer wahrscheinlich gesagt hat, sondern rein deutsche Ware ist, ebenso wie die kleine Kette, die Sie um den Hals tragen und von der ich annehme, dass Sie sie erst hier in Lugano erstanden haben.“

„Richtig!“ sagte Be. Sie war plötzlich sehr aufmerksam. Genauer sah sie sich nun diesen Herrn Garlier an und stellte fest, dass er sehr gut angezogen war: weiches Seidenhemd, leicht blau getönt, hellblauer, vorsichtig rotgetupfter Flatterschlips, von einer gut auf das lichtgraue Jackett abgestimmten Farbe. Farben sah Be immer zuerst. Das Gesicht: ohne besondere Merkmale, auf der Oberlippe ein Bürstenbärtchen. Das mochte Be eigentlich nicht, Männer mussten glattrasiert sein. Alter: mindestens Dreissig, also jenseits ihrer Kameradschaftsgrenzen, fast schon in Onkelgebieten.

Die Kellnerin war an den Tisch getreten. Er bestellte Kaffee und Kuchen.

Dann wandte er sich wieder Be zu. „Also wir haben ein Modegeschäft.“

„Wir?“

„Ja — wir. Mein Vater und ich. Sie kennen Luzern? Sie kennen die grosse Hotelstrasse am See? Dort liegt es. Garlier & Fils. Wenn Sie auf Ihrer Rückreise in Luzern Station machen — ich würde mich sehr freuen.“

Be musste an sich halten, um nicht herauszuschreien: Da sind wir ja Kollegen. Etwas in ihr warnte sie vor diesem Ausbruch. Sie dachte plötzlich ganz berechnend: wie günstig, hier einen Fachmann unverbindlich ausfragen zu können. Sie wurde plötzlich sehr liebenswürdig. „Sie sind Franzose, Herr Garlier?“

„O nein. Nicht einmal Schweizer. Reichsdeutscher wie Sie. Und, Sie werden lachen, ich heisse eigentlich auch gar nicht Garlier. Mein Vater erwarb vor mehr als dreissig Jahren die Firma Garlier und da blieb der Name auch an uns hängen. Es war praktischer. Das Maison Garlier kannte in der Schweiz jeder Mensch.“

„Und Ihr wirklicher Name?“

Eine kleine Pause machte er, ehe er abwehrend antwortete: „Tut ja nichts zur Sache. Bleiben wir bei Garlier.“

Be hielt die Unterhaltung in Fluss, es war nicht schwer, denn Garlier fachsimpelte, wie alle Männer, gern. Er merkte gar nicht, dass Be ihn eifrig ausfragte. Und nicht nur nach modischen Dingen. Sie wusste bald, dass er Paul mit Vornamen hiess, seinen Kraftwagen von Luzern mitgebracht hatte, oft in Deutschland, England, Frankreich und Italien gewesen war. Beim Aufbruch erzählte er ihr, dass er unverheiratet und sein Vater Witwer sei. Sie musste lächeln: so schnell war sie noch nie über fremde Familienverhältnisse unterrichtet worden.

Bea, beate und Be

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