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Der Stier mit Sodbrennen

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Ich hatte schon die Autoschlüssel in der Hand, als das Telefon läutete. Natürlich genau zu Mittag.

„Lass nur, ich gehe noch schnell ran!“, rief ich Richtung Küche, wo Karin sich gerade im Schweiße ihres Angesichts abmühte, ein leicht exotisches Gericht nach einem neuen Rezept zuzubereiten, das offenbar ziemlich aus der Pfanne prasselte und spritzte. Sie war ohnehin schon leicht genervt, weil vor fünf Minuten der Hintersteinerbauer angerufen hatte, er hätte einen Notfall, der keinen Aufschub duldete. Dem Stier ginge es gar nicht gut, präzisierte er.

„Keine Ahnung, was aus dem Essen wird, wenn Du wieder zurückkommst“, hatte sie bekrittelt, „weil ich um eins in der Schule sein muss.“

Da ich es war, der ihr dieses neue Rezept vorgeschlagen hatte, empfand ich leichte Gewissensbisse und fühlte mich um des lieben Friedens willen bemüßigt, meine ebenso liebe Frau, die sonst die Telefonate, soferne sie konnte, für mich in Empfang nahm, im Moment zu entlasten.

„Ja?“, fragte ich gedehnt in das Telefon.

Ein Mann, unzweifelhaft bundesdeutscher Herkunft, meldete sich: „Ich hab’ da ’ne Englische Bulldogge, die sich am Stacheldraht einen tollen Riss im Fell geholt hat. Er blutet zwar nicht, aber die Wunde muss genäht werden. Kann ich mal eben mit ihr bei Ihnen vorbeischauen?“

„Leider, ich bin auf dem Weg zu einem Notfall. Bitte fahren Sie zum Nachbarkollegen, der ist Kleintierpraktiker.“

„Ach nee! Der ist aber toll weit weg!“

Toll, offenbar sein Lieblingswort, weit weg bedeuteten nicht ganz vierundzwanzig Kilometer! Solche Tierbesitzer, die es nicht der Mühe wert fanden, im Interesse ihrer Vierbeiner eine kurze Strecke in Kauf zu nehmen, hatte ich schon gefressen. „Also wenn es mein Hund wäre, würde ich noch viel weiter fahren“, schnappte ich, „und wenn Ihnen das zu weit ist, schaffen Sie sich einen Teddybären an. Wenn der ein Loch im Pelz hat, kann man ihn zur Reparatur einschicken!“

Wütend feuerte ich den Hörer auf die Gabel oder wie das Ding auf den modernen Geräten halt heißt. Wahrscheinlich hielt er mich jetzt für einen tollen Flegel, ging mir durch den Kopf.

Karin, die ihren Brandherd offenbar gelöscht hatte, kam kopfschüttelnd aus der Küche: „Also weißt Du, Du warst schon immer sarkastisch. Aber mit dem Alter hat das eindeutig zugenommen.“

„Sarkasmus, meine Liebe“, erklärte ich triumphierend, „ist die Pumpgun des Intellektuellen!“

Um einer weiteren Diskussion vorzubeugen, stürmte ich in die Garage und ließ den Motor an.

Der Hintersteiner erwartete mich vor dem Stall und trat dabei ungeduldig nach Tanzbärenart von einem Bein auf das andere. Nur der Nasenring fehlte.

„Was ist das Problem?“ Ich sprang aus dem Wagen, schnappte mir einen Rektalhandschuh und das Stethoskop, klopfte an meine linke Seitentasche der Hose, um mich zu vergewissern, dass das Fieberthermometer am gewohnten Platz war, und marschierte hinter dem Bauern her in den Stall.

„Da“, sagte der Hintersteiner und zeigte auf einen Jungstier, der in halbrechter Seitenposition auf dem Boden lag, den Kopf komatös zur Schulter hin gebeugt, und leise vor sich hin stöhnte.

Die Hungergrube, das ist jene Stelle, wo sich der Pansen zwischen der letzten Rippe und dem Hüfthöcker befindet, wölbte sich ziemlich hervor. Der Tierkörper fühlte sich relativ kalt an, die Aftertemperatur zeigte siebenunddreißigkommavier Grad, also deutlich unter der Norm, und hinter dem Stier hatte sich eine breite Lache dünnflüssigen Kotes auf der Gummimatte ausgebreitet, die eine gelbgrüne Farbe und einen scharfen säuerlichen Geruch aufwies.

Was mir überhaupt nicht gefiel, waren die bereits tiefliegenden Augäpfel.

„Seit wann hat er denn das?“

„Seit gestern. Der Kerl hat sich vorgestern von der Anbindung losgerissen und über einen Sack Hendlfutter hergemacht.“

„Dann ist alles klar! Es handelt sich um schwere Pansenacidose!“

„Was ist eine Pansendose?“, fragte der Hintersteiner, für den Fremdwörter reine Fremdwörter waren.

„Eine Übersäuerung des Magens! So eine Art Sodbrennen!“

Der Hintersteiner nickte: „Sodbrennen habe ich öfter. Das ist zwar unangenehm, aber doch nicht so schlimm?“

„Bei Wiederkäuern liegt die Sache ein bisschen anders. Die übermäßigen Kohlenhydrate, wie sie im Hühnerfutter mit seinem hohen Mais- und Getreideanteil vorkommen, fangen zu gären an und senken den pH-Wert im Pansen. Dadurch wird auch das Blut sauer und schädigt die Organe. Warum haben Sie nicht schon gestern angerufen? Dann wäre noch genug Zeit gewesen, die Übersäuerung einzudämmen.“

„Weil er zuerst nicht so schlecht beieinander war. Zur Jaus’n (regionale Bezeichnung für alles Mögliche zur späteren Nachmittagszeit, zum Beispiel Besamungen, Heimkehr des Bauern von der Arbeit, Fütterung usw.) hat er nichts mehr gefressen, aber da habe ich mir gedacht, wenn ich drei Mal zu Mittag esse, habe ich am Abend auch keinen rechten Hunger mehr.“

Oh heilige Einfalt! Dass manche Bauern noch immer von sich auf ihre Tiere schließen!

„Wird er sterben?“

„Das kann ich Ihnen noch nicht beantworten. Jedenfalls ist der Zustand ernst. Manchmal löst sich sogar die gesamte Pansenschleimhaut ab und dann ist finito.“

„Der arme Poldi. Mein bester Jungstier! Hätte mein nächster Zuchtstier werden sollen!“

„Na, noch ist Hopfen und Malz nicht gänzlich verloren“, bemühte ich eine alte Bierbrauerweisheit. „Einen Versuch ist es immer noch wert!“

Ich kniete mich neben Poldi auf die Gummimatte und legte ihm die Staukette um die Halsvene. Dazu mussten wir ihn gar nicht groß fixieren, er ließ es einfach apathisch über sich ergehen. Der Hintersteiner hatte am Telefon Recht gehabt. Es ging dem Stier nicht gut. Nach der Traubenzuckerinfusion, die reichlich Bicarbonat enthielt, um den pH-Wert des Körpers wieder zu stabilisieren, drückte ich dem Bauern zwei Päckchen Pulver, die das Gleiche im Pansen bewirken würden, zum Eingeben in die Hand und versorgte ihn noch nebenbei mit einem guten Rat: „Lassen Sie nie offen Futter im selben Raum stehen, wo sich die Tiere befinden. Morgen schaue ich nochmals nach Poldi!“

Als ich heimkam, war die Garage leer, Karin in der Schule und die indische Reispfanne sehr exotisch, weil mittlerweile ziemlich trocken.

Obwohl ich noch andere dringende Visiten hatte, drängte es mich am nächsten Tag zuallererst auf den Hintersteinerhof.

Zu meiner großen Erleichterung empfing mich der Bauer mit einem Gesichtsausdruck, der zur Hoffnung Anlass bot. Und tatsächlich, dem Stier ging es eindeutig besser. Der Kot roch zwar noch immer etwas säuerlich, hatte aber schon eine breiige Konsistenz angenommen, die Körpertemperatur war auch schon gestiegen und, das Beste, Poldis Augen lagen nicht mehr tief und trüb in den Höhlen, sondern besaßen wieder Glanz.

Er zeigte sich gegenüber gestern auch schon wesentlich lebhafter, sprich wehrhafter, als ich die Behandlung vom Vortag wiederholte.

„So, ein paar Tage lang gutes Heu, dann ist er wieder der Alte!“, beschloss ich meine Visite.

Ich sollte Recht behalten. Poldi entwickelte sich in der Folge zum prächtigen Zuchtstier und bescherte dem Hintersteiner eine Menge hübscher Kälber.

Eines Tages musste ich aber doch wegen einer künstlichen Besamung auf den Hof, weil es sich bei der Kuh diesmal um Poldis Mutter handelte – und mit Inzucht machst Du Dir beim Zuchtverband keine Freunde.

Der Hintersteiner hatte mittlerweile den Stall erweitert und einen Laufstall daraus gemacht.

„Ich werde nicht da sein“, hatte er am Telefon gemeint, „weil ich einen Termin auf der Bauernkammer habe. Förderungsansuchen, Sie wissen schon. Aber ich habe Ihnen alles aufgeschrieben, die Kuh ist markiert und im Fressgitter eingesperrt.“

Was er nicht gesagt hatte und ich bei meinem Eintreffen feststellen musste, war, dass das Türchen, durch welches man die Kuhabteilung betrat, dermaßen verbogen war, dass es sich nicht öffnen ließ. Zumindest nicht mit einer Hand, in der anderen hatte ich ja die Besamungspistole samt Samenröhrchen, Plastikhülle und Schere. Also blieb nur der Weg durch die Laufbox von Poldi, was mich jetzt nicht sonderlich störte, denn der Stier steckte offensichtlich ebenfalls mit dem Kopf im Fressgitter. Aber man soll nichts auf den Augenschein geben.

Sobald ich zwei Schritte in sein Arreal getan hatte, grummelte er und zerrte den Schädel heftig aus der Absperrung. Wahrscheinlich war die Arretierung wegen seines dicken Halses nicht vollständig eingerastet gewesen. Er drehte sich in meine Richtung und musterte mich aus nachdenklichen Augen, wobei seine Gedanken, soweit ich sie lesen konnte, nicht unbedingt freundlich waren.

„Hallo Poldi. Du hast Dich ja bestens herausgemausert, alter Bursche“, versuchte ich, ein bisschen Spannung aus der Atmosphäre zu nehmen, aber Poldi hatte offenbar keinen Bock auf Komplimente. Endlich schien er zu einem Entschluss gekommen zu sein, denn er senkte den Kopf und begann, mit dem Vorderfuß zu scharren. Das war kein gutes Zeichen! Was sollte ich tun? Mich an ihm vorbei zu den Kühen hinüberzuretten, ging nicht, weil er mir den Weg versperrte. Also blieb nur die Richtung, aus der ich gekommen war. Der Rückzug erinnerte ein bisschen an den der Napoleonischen Armee aus Russland, nur ging er bei mir wesentlich schneller.

Allerdings nicht schnell genug. Bevor ich die Box wieder schließen konnte, immerhin hatte ich ja noch immer das vermaledeite Besamungszeug in der Hand, war Poldi bereits zur Stelle. Ein wuchtiger Kopfstoß riss mir die Türe aus der Hand und der Stier war bereits halb auf dem Gang, den ich nun nach Leibeskräften entlangrannte.

An sich ist es ja ein Blödsinn, einem Stier durch Laufen entkommen zu wollen, nicht einmal mit den besten Sportschuhen von Olympiasprintern und schon gar nicht in Gummistiefeln. Aber vielleicht, und vor allem hoffentlich, gelang es mir, vor ihm den schmalen Stiegenaufgang zum Heuboden hinauf zu erwischen. Dorthin konnte er mir nicht folgen, dazu war er zu dick.

Aber soweit musste ich gar nicht kommen, weil Poldi plötzlich abbremste. Er hatte den Sack mit Hühnerfutter, der schon wieder an der Stallwand lehnte, erspäht oder gewittert, jedenfalls brach er die Verfolgung ab, weil irgendetwas in seiner Erinnerung ihm sagte, dass das damals ganz prima geschmeckt hatte. Er tauchte seine Nase in die Mais-Getreidemischung und begann genüsslich, sich das unerwartete Angebot einzuverleiben.

Himmelarschundzwirn! Ich stand dieser Völlerei vollkommen hilflos gegenüber und musste zusehen, wie sich das Vieh die nächste Pansenacidose anfraß. Oder hat schon wer einmal versucht, einen ohnehin nicht leutselig aufgelegten Stier von der Futterquelle zu vertreiben? Mundraub gilt auch im Tierreich als Verbrechen und Poldi war ganz und gar in der Stimmung, dafür die Todesstrafe zu verhängen.

Das Einzige, das mir übrigblieb, war, dem Hintersteiner erneut zwei Päckchen mit dem Acidosepulver in einem zusammengebundenen Rektalhandschuh außen an die Stalltüre zu hängen mit dem Vermerk: „Sobald wie möglich eingeben, sonst ist morgen der Stier schwer krank.“

Am nächsten Tag rief der Hintersteiner an, ich möchte doch bitte nach Poldi sehen, er frisst nichts.


Wie ich erwartet hatte, war das Rindvieh, im wahrsten Sinne des Wortes, von einer Pansenacidose verschont geblieben, hatte aber natürlich trotzdem eine veritable Verdauungsstörung. Aber diesmal war die Geschichte nicht dramatisch. Ich gab ihm eine Spritze, verordnete ein Mittel zur Magenstimulanz und eine Drei-Tages-Heudiät.

Aus Ärger, dass der Hintersteiner meine Warnung, Futter im Stall aufzubewahren, in den Wind geschlagen hatte, hielt ich den Mund und verzichtete auf eine Aufklärung. Das sollte sich auszahlen, ganz nach dem Sprichwort: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!

Weil mir der Wagnerbauer in der darauffolgenden Woche breitgrinsend mitteilte: „Na, mit dem Hintersteiner haben Sie sich ja einen Fan aufgerissen!“

„Wieso?“

Der Wagner lachte: „Der Mensch hat am Sonntag im Wirtshaus jedem, den er erwischt hat, vorgeschwärmt: ‚So einen Tierarzt muss man einmal finden! Weiß schon im Voraus, dass der Stier am nächsten Tag was hat!‘“

Schwein gehabt

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