Читать книгу Warum es so schwierig ist, in die Hölle zu kommen - Hans Conrad Zander - Страница 6

I. Statt eines Vorworts ein Wort vor dem Tor zur Hölle Worin uns Dante die böse Überraschung beschert, dass es unendlich schwierig ist, in die Hölle zu kommen.

Оглавление

Kommt einer heute zu dir und behauptet, er habe Dante gelesen, die „Göttliche Komödie“, Hölle, Fegfeuer, Himmel, alle drei Bände gelesen, dann glaub´s ihm besser nicht. Nicht einmal mir brauchst du das zu glauben. Dabei steht die „Göttliche Komödie“ seit mehr als fünfzig Jahren unmittelbar neben meinem Schreibtisch. Und wie viel habe ich schon geschrieben über dieses größte Meisterwerk der italienischen Literatur. Greife ich aber heute zu allen drei Bänden, so fällt mir etwas Bestürzendes auf. Hier zuerst Band I, das Inferno, der Umschlag längst zerrissen, der Schnitt abgegriffen und grau verschmutzt, auf allen Seiten Fingerspuren, das ganze Buch zerlesen. Jetzt aber Band III, das Paradiso, der Himmel: der Schnitt noch immer blütenweiß, Lesespuren kaum zu finden. Jeder Antiquar würde mein Exemplar von Dantes Himmel anbieten als „wie neu“.

So geht es nicht nur mir, sondern fast allen. Selbst theologische Kommentare besprechen Dantes Himmel nur lustlos kurz. Das Inferno dagegen hat sie alle fasziniert.

„Am Rande erst des schmerzenvollen Tales, das widerhallt von Klagen ohne Ende“, fallen wir schon mit Dante vor Schreck in Ohnmacht, „den Geist von Schweiß gebadet“. Wieder zu Sinnen kommen wir im zweiten Höllenschlund. Mit schrillen Schreien „Gottes Macht verfluchend“ büßt hier in ewiger Qual die ruchloseste aller Frauen: die lüsterne Kleopatra (hundert Männer in einer Nacht). Ein rasender Orkan wirbelt sie herum, uns wirbelt er hinab in den dritten Höllenkreis, wo sich die schlimmen Schlemmer schlammbedeckt in einem ewigen Eisregen stöhnend wälzen.

Unerträgliches Gedränge aber herrscht im vierten Schmerzensschlund, wo jene büßen, die auf Erden dem Prinzip „Geiz ist geil“ gehuldigt haben. Päpste, Kardinäle, Bischöfe, Mönche müssen wir hier in großer Zahl treffen.

Im fünften Höllenkreis büßen die Zornigen, in alle Ewigkeit „sich Stück um Stück zerfleischend mit den Zähnen“.

Alles nur Vorspiel. Über das „Wasser des Grauens“, den Höllenstrom Styx, fahren wir zum Tor der Inneren Hölle. Rot vom ewigen Feuer, das drinnen glüht, leuchten ihre gewaltigen Mauern. Tausend Teufel wachen auf ihren Zinnen. Und wer dort bewacht das Tor zur inneren Hölle? O Gott, es ist die Furie Medusa:

„Den blutgefärbten Leib umgürteten

Grasgrüne Wasserschlangen und ihr Haar

War gift´ge Natternbrut.“

Medusas Blick allein genügt, um einen Mann zu Stein erstarren zu lassen. Ein Engel Gottes muss uns vor ihr schützen. Und weiter geht es abwärts in den finsteren Trichter des sechsten Höllenschlundes, wo in Flammengräbern, lodernd ewiglich, die Ketzer brennen.

Und jetzt, noch schauriger, der siebte Höllenkreis. Da brodelt die „riviera del sangue“:

„Ein Strom von Blut, in dem gesotten werden,

Die mit Gewalt an andern sich vergangen.“

Dann beginnt selbst Dante zu stöhnen:

„Di nuova pena mi convien far versi.

Von neuen Qualen muss ich dichten.“

Von den skandalösen Päpsten muss er dichten, die im achten Höllenkreis tief in Flammenlöchern stecken.

Rasch eilen wir vorbei an all den Betrügern, Schwindlern, Fälschern, die Oberteufel Malatesta, einen nach dem andern, in siedendes Pech taucht, und dann an riesigen Spießen brät.

Ganz anders ergeht es im neunten Höllenkreis jenen italienischen Politikern, die Dante aus Florenz verjagt und zum heimatlos umherirrenden Flüchtling gemacht haben. In einem Eismeer sind sie bis zum Schädel eingefroren.

Und immer kälter wird es, je weiter wir abwärts steigen, bis in den alleruntersten, den zehnten Höllenschlund. Da hockt im ewigen Eis, als tiefgefrorener Moloch, der Satan selbst. Aus dem Eis ragen nur seine drei Mäuler. Mit blutgemischtem Geifer zermalmen sie die drei schlimmsten Verräter der Menschheit: Brutus, Cassius und Judas.

Wie kommen wir hier jemals wieder raus? Raus aus der innersten Hölle? Dante hat die Erde keineswegs für eine Scheibe gehalten, sondern für eine Kugel. Durch einen Spalt, der von der Satanshölle hinaufführt zur südlichen, damals noch unerforschten Hälfte des Globus, steigt Dante, geführt von dem antiken Dichter Vergil, empor.

„Dann traten wir hinaus und sahn die Sterne.

E quindi uscimmo a riveder le stelle.“

Dies ist, ganz leise, sotto voce, gesprochen, der schönste Vers der Göttlichen Komödie. Und es ist ihr wahrer Schluss. Zu Ende ist das höllische Abenteuer. Was kann jetzt noch kommen?

Es kommt Band II, das Purgatorio, der Berg der Läuterung für jene, die noch ein Weilchen büßen müssen, bevor sie aufsteigen dürfen in den Himmel. Kein deutsches „Fegefeuer“ ist das. In sanften Pastellfarben malt Dante das Purgatorio, so langweilig wie die Empfangshalle eines amerikanischen First-Class-Hotels.

Und erst Band III: der Himmel! Da wird nur noch gesungen. Lauter Chöre reiner Jungfrauen singen himmlische Choräle. Singen ist gewiss schön. Aber immerdar nur singen, das ist so tödlich langweilig, dass es selbst Dantes Führerin im Himmel, die edle Beatrice, auf die Dauer nicht aushält. Wenn sie aber mit Singen innehält, dann fängt sie leider an zu predigen. Vor ihrem schmachtenden Bewunderer Dante hält sie unverständliche Predigten, mal über das Wesen des himmlischen Lichts, mal über die Natur der Engel. Welcher Leser sehnt sich da nicht in die Hölle, zu Kleopatra, zurück?

Es gilt jetzt, einen Verdacht auszuräumen. Dante Alighieri ist im Jahr 1265 geboren. Wenn dieser Italiener des 13. Jahrhunderts die Hölle so viel packender inszeniert als den Himmel, tut er dies etwa, um seine Zeitgenossen mit Höllenängsten der katholischen Kirche gefügig zu machen?

Diese Vermutung ist politisch korrekt, aber sachlich falsch. Wie so viele Katholiken damals und heute war Dante zwar katholisch, aber antiklerikal. In seiner Hölle winden sich Päpste, Bischöfe, Mönche ohne Zahl. Im ganzen Paradiso dagegen stoßen wir lediglich auf vier Päpste. Es sind die ersten Päpste nach Petrus, die noch als Märtyrer gestorben sind. Mit schlimmen Vorwürfen überschütten sie ihre späteren Nachfolger auf dem Stuhl Petri. Schlimmer noch wird es, wenn Dante einen Blick hinabwirft in das irdische Rom seiner Tage. Da erscheint ihm die katholische Kirche als nackte babylonische Hure. Poetische Propaganda für den machtlüsternen Klerus ist das nicht.

Drei Jahrhunderte nach Dante hat der größte protestantische Dichter gelebt: John Milton, der blinde englische Homer. „Paradise lost“, „das verlorene Paradies“, heißt sein grandioses Epos, das zumindest an Dramatik Dante übertrifft. Warum? Weil Milton dem Teufel nicht erst am Ende eines langen Abstiegs in die Hölle begegnet. Bei ihm fängt die Handlung zuallerunterst in der Hölle an. Und viel eindrucksvoller, viel achtenswerter als bei Dante ist in Miltons calvinistischem Gesang der Teufel. Ein kosmischer Revolutionär ist das, der furchtlos immer wieder aufsteht gegen „die Tyrannei des Himmels“. Auf seinen schwarzen Schwingen trägt uns Miltons Satan durch ein chaotisch finsteres Universum von Abenteuer zu Abenteuer.

Doch dann kommt der Augenblick, in dem der Teufel die Regie über Miltons Geschichte verliert. Die Menschheit wird erlöst, und sofort sinkt das Epos ab in die Langeweile einer protestantischen Bibelstunde.

Noch mehr klassische Langeweile gefällig? Verglichen mit dem Satan bei Dante und bei Milton ist Goethes Mephisto eine fast harmlose Spielfigur. Und doch können wir es schon im „Prolog im Himmel“ kaum erwarten, dass endlich Mephisto auftritt und in den Tiefsinn teuflische Action bringt. Selbst in der zunehmenden Langeweile von Faust II sorgt er immer noch für Spannung. Etwa wenn er den vertrockneten Gelehrten Faust verkuppelt mit der ruchlos schönen Helena. Bis dann Faust, statt mit Mephisto vertragsgemäß zur Hölle zu fahren, an Gretchens frommen Rockschößen entschwebt in die ewige Langeweile des „Ewig-Weiblichen“.

Keiner hat in unseren Tagen so leidenschaftlich gegen die Hölle gekämpft wie der katholische Theologe Herbert Vorgrimler aus Münster. Um dem gläubigen Volk den Teufelsglauben vollends auszutreiben, hat er ein Buch von fast fünfhundert Seiten geschrieben. Doch der dicke theologische Wälzer ist so spannend zu lesen wie ein Kriminalroman. Dann freilich, wohl aus Gründen der Symmetrie, hat Vorgrimler noch ein ähnlich dickes Buch über den Himmel geschrieben. Es ist ihm arg misslungen. Aus jeder Zeile spricht die Unlust, mit welcher selbst ein Theologe sich beim Gedanken an den Himmel quält. Woran das liegen mag?

Hat vielleicht Immanuel Kant recht mit seiner Vermutung, dass jeder Mensch, auf dem Grund seiner Seele, ein „radical Böses“ in sich trägt? Hat der Apostel Paulus recht, wenn er im 2. Brief an die Thessalonicher die Macht des Bösen in uns beklagt? Eine wirkliche Erklärung findet der Apostel allerdings nicht. Sein verworrener Gedankengang erschöpft sich in der Rede vom „mysterium iniquitatis“, vom „Geheimnis des Bösen“. Gar viele Geheimnisse hat die Religion. Doch keines zieht offenbar so viele so geheimnisvoll an wie das „Geheimnis des Bösen“.

Es ist jetzt Zeit für eine Warnung. So mancher hat ja schon geprahlt, er habe vor der Hölle keine Angst, wenn er denn müsse, wolle er da gern hinein. Da seien schließlich alle interessanten Leute. So ein Aufschneider beweist nur eines: dass er nicht einmal den Anfang von Dantes Inferno gelesen hat. Dort, noch vor dem Abstieg zu den Verdammten, hat Dante etwas erlebt, was an Beklemmung die Hölle übertrifft.

„In sternenloser Finsternis“, unmittelbar vor dem Höllentor, treiben Menschen ohne Zahl jammervoll im Kreise, „wie Sand gejagt in einem Wirbelsturme“. Das sind, schreibt Dante, „die lauen Seelen“. Menschen, die sich im Leben nie für etwas eingesetzt haben, weder für das Gute, noch für das Böse. Immerzu waren sie nur darauf bedacht, sich zum eigenen Vorteil aus allem Streit der Welt schlau herauszuhalten. Jetzt, im Jenseits, irren die „lauen Seelen“ ewig heimatlos herum. „Der Himmel“, sagt Dante wörtlich, „will sich nicht mit ihnen schänden.“ Doch auch den Teufel ekelt´s vor solchen Menschen so, dass er vor ihnen das Höllentor zuschlägt. Mit wilden Schmerzenslauten, bald gellend, bald heiser, betteln sie verzweifelt, vergeblich um Einlass.

Dies ist die Gefahr, die allzu viele Menschen verkennen: nicht, dass sie in die Hölle müssen, sondern, im Gegenteil, dass sie niemals hineindürfen in die Hölle.

Mein Rat an alle, die keine Chance haben, selber in die Hölle zu kommen: Lest Dante. Lest die „Göttliche Komödie“. Aber nur den ersten Band. Nur das Inferno. Dreiunddreißig Gesänge voll höllischer Phantasie, jedoch gefasst in so himmlisch schöne Verse, wie sie kein anderer jemals schrieb:

„Lasciate ogni speranza – Trittst du hier ein, lass alle Hoffnung fahren!“

Warum es so schwierig ist, in die Hölle zu kommen

Подняться наверх