Читать книгу Kleiner Mann, was nun? - Ханс Фаллада - Страница 5
Pinneberg erfährt etwas Neues über Lämmchen und faßt einen großen Entschluß
ОглавлениеEs ist fünf Minuten nach vier. Pinneberg hat das eben festgestellt. Er steht, ein nett aussehender, blonder junger Mann, vor dem Hause Rothenbaumstraße 24 und wartet.
Es ist also fünf Minuten nach vier und auf dreiviertel vier ist Pinneberg mit Lämmchen verabredet. Pinneberg hat die Uhr wieder eingesteckt und sieht ernst auf ein Schild, das am Eingang des Hauses Rothenbaumstraße 24 angemacht ist. Er liest:
Dr. Sesam
Frauenarzt
Sprechstunden 9–12 und 4–6
«Ebend! Und nun ist es doch wieder fünf Minuten nach vier. Wenn ich mir noch eine Zigarette anbrenne, kommt Lämmchen natürlich sofort um die Ecke. Laß ich es also. Heute wird es schon wieder teuer genug.»
Er sieht von dem Schild fort. Die Rothenbaumstraße hat nur eine Häuserreihe, jenseits des Fahrdamms, jenseits eines Grünstreifens, jenseits des Kais fließt die Strela, hier schon hübsch breit, kurz vor ihrer Einmündung in die Ostsee. Ein frischer Wind weht herüber, die Büsche nicken mit ihren Zweigen, die Bäume rauschen ein wenig.
«So müßte man wohnen können», denkt Pinneberg. «Sicher hat dieser Sesam sieben Zimmer. Muß ein klotziges Geld verdienen. Er wird Miete zahlen … zweihundert Mark? Dreihundert Mark? Ach was, ich habe keine Ahnung. – Zehn Minuten nach vier!»
Pinneberg greift in die Tasche, holt aus dem Etui eine Zigarette und brennt sie an.
Um die Ecke weht Lämmchen, im plissierten weißen Rock, der Rohseidenbluse, ohne Hut, die blonden Haare verweht. «Tag, Junge. Es ging wirklich nicht eher. Böse?»
«Keine Spur. Nur, wir werden endlos sitzen müssen. Es sind mindestens dreißig Leute reingegangen, seit ich warte.»
«Sie werden ja nicht alle zum Doktor gegangen sein. Und dann sind wir ja angemeldet.»
«Siehst du, daß es richtig war, daß wir uns angemeldet haben!»
«Natürlich war es richtig. Du hast ja immer recht, Junge!» Und auf der Treppe nimmt sie seinen Kopf zwischen die Hände und küßt ihn stürmisch. «O Gott, bin ich glücklich, daß ich dich mal wieder habe, Junge. Denke doch, beinahe vierzehn Tage!»
«Ja, Lämmchen», antwortet er. «Ich bin auch nicht mehr brummig.»
Die Tür geht auf, und im halbdunklen Flur steht ein weißer Schemen vor ihnen, bellt: «Die Krankenscheine!»
«Lassen Sie einen doch erst mal rein», sagt Pinneberg und schiebt Lämmchen vor sich her. «Übrigens sind wir privat. Ich bin angemeldet. Pinneberg ist mein Name.»
Auf das Wort «Privat» hin hebt der Schemen die Hand und schaltet das Licht auf dem Flur ein. «Herr Doktor kommt sofort. Einen Augenblick, bitte. Bitte, dort hinein.»
Sie gehen auf die Tür zu und kommen an einer andern, halb offen stehenden vorbei. Das ist wohl das gewöhnliche Wartezimmer, und in ihm scheinen die dreißig zu sitzen, die Pinneberg an sich vorbeikommen sah. Alles schaut auf die beiden, und ein Stimmengewirr erhebt sich:
«So was gibt’s nicht!»
«Wir warten schon länger!»
«Wozu zahlen wir unsere Kassenbeiträge?!»
«Die feinen Pinkels sind auch nicht mehr wie wir.»
Die Schwester tritt in die Tür: «Seien Sie man bloß ruhig! Herr Doktor wird ja gestört! Was Sie denken, ist nicht. Das ist der Schwiegersohn von Herrn Doktor mit seiner Frau. Nicht wahr?»
Pinneberg lächelt geschmeichelt, Lämmchen strebt der andern Tür zu. Einen Augenblick ist Stille.
«Nu bloß schnell!» flüstert die Schwester und schiebt Pinneberg vor sich her. «Diese Kassenpatienten sind zu gewöhnlich. Was die Leute sich einbilden für das bißchen Geld, das die Kasse zahlt . . .»
Die Tür fällt zu, der Junge und Lämmchen sind im roten Plüsch.
«Das ist sicher sein Privatsalon», sagt Pinneberg. «Wie gefällt dir das? Schrecklich altmodisch finde ich.»
«Mir war es gräßlich», sagt Lämmchen. «Wir sind doch sonst auch Kassenpatienten. Da hört man mal, wie die beim Arzt über uns reden.»
«Warum regst du dich auf?» fragt er. «Das ist doch so. Mit uns kleinen Leuten machen sie, was sie wollen . . .»
«Es regt mich aber auf . . .»
Die Tür öffnet sich, eine andere Schwester kommt: «Herr und Frau Pinneberg bitte? Herr Doktor läßt um einen Augenblick Geduld bitten. Wenn ich unterdes die Personalien aufnehmen dürfte?»
«Bitte», sagt Pinneberg und wird gleich gefragt: «Wie alt?»
«Dreiundzwanzig.»
«Vorname: Johannes.»
Nach einem Stocken: «Buchhalter.»
Und glatter: «Immer gesund gewesen. Die üblichen Kinderkrankheiten, sonst nichts. – Soviel ich weiß, beide gesund.»
Wieder stockend: «Ja, die Mutter lebt noch. Der Vater nicht mehr, nein. Kann ich nicht sagen, woran er gestorben ist.» Und Lämmchen . . . «Zweiundzwanzig. – Emma.»
Jetzt zögert sie: «Geborene Mörschel. – Stets gesund. Beide Eltern am Leben. Beide gesund.»
«Also einen Augenblick noch. Herr Doktor ist sofort frei.»
«Wozu das alles nötig ist», brummt er, nachdem die Tür wieder zufiel. «Wo wir doch nur . . .»
«Gerne hast du es nicht gesagt: Buchhalter.»
«Und du nicht das mit der geborenen Mörschel!» Er lacht. «Emma Pinneberg, genannt Lämmchen, geborene Mörschel. Emma Pinne . . .»
«Bist du stille! O Gott, Junge, ich müßte noch einmal ganz unbedingt. Hast du eine Ahnung, wo das hier ist?»
«Also das ist doch immer dieselbe Geschichte mit dir . . .! Statt daß du vorher . . .»
«Aber ich bin, Junge. Ich bin wirklich. Noch auf dem Rathausmarkt. Für einen ganzen Groschen. Aber wenn ich aufgeregt bin . . .»
«Also Lämmchen, nimm dich doch einen Augenblick zusammen. Wenn du wirklich eben erst . . .»
«Junge, ich muß . . .»
«Ich bitte», sagt eine Stimme. In der Tür steht Doktor Sesam, der berühmte Doktor Sesam, von dem die halbe Stadt und die viertel Provinz flüstern, daß er ein weites Herz hat, manche sagen auch, ein gutes Herz. Jedenfalls hat er eine volkstümliche Broschüre über sexuelle Probleme verfaßt, und darum hat Pinneberg den Mut gehabt, ihm zu schreiben und sich und Lämmchen anzumelden.
Dieser Doktor Sesam steht also in der Tür und sagt: «Ich bitte.»
Doktor Sesam sucht auf seinem Schreibtisch nach dem Brief. «Sie haben mir geschrieben, Herr Pinneberg. Sie können noch keine Kinder brauchen, weil das Geld nicht reicht.»
«Ja», sagt Pinneberg und ist schrecklich verlegen.
«Machen Sie sich immer schon ein bißchen frei», sagt der Arzt zu Lämmchen und fährt dann fort: «Und nun möchten Sie einen ganz sicheren Schutz wissen. Ja, einen ganz sicheren . . .» Er lächelt skeptisch hinter seiner goldenen Brille.
«Ich habe in Ihrem Buch gelesen», sagt Pinneberg, «diese Pessoirs . . .»
«Diese Pessare», sagt der Arzt, «ja, aber sie passen nicht für jede Frau. Und dann ist es immer etwas umständlich. Ob Ihre Frau das Geschick hat . . .»
Er sieht zu ihr hoch. Sie hat sich ein bißchen ausgezogen, nur so angefangen, die Bluse und den Rock. Mit ihren schlanken Beinen steht sie sehr groß da.
«Nun, gehen wir einmal rüber», sagt der Arzt. «Die Bluse hätten wir nun dazu nicht auszuziehen brauchen, kleine junge Frau.»
Lämmchen wird ganz rot.
«Jetzt lassen Sie sie schon liegen. Kommen Sie. Einen Augenblick, Herr Pinneberg.»
Die beiden gehen in das Nebenzimmer. Pinneberg sieht ihnen nach. Der ganze Doktor Sesam reicht der ‹kleinen jungen Frau› nicht bis an die Schultern. Pinneberg findet wieder, sie sieht herrlich aus, das beste Mädchen von der Welt, das einzige überhaupt. Er arbeitet in Ducherow und sie hier in Platz, er sieht sie höchstens alle vierzehn Tage und so ist sein Entzücken immer frisch und sein Appetit über alles Begreifen.
Nebenan hört er den Arzt ab und zu halblaut etwas fragen, gegen einen Schalenrand klappert ein Instrument, das Geräusch kennt er vom Zahnarzt, es ist kein angenehmes Geräusch.
Nun fährt er zusammen, diese Stimme von Lämmchen kennt er noch nicht – sie sagt ganz laut, fast schreiend, sehr hell: «Nein, nein, nein!» Und noch einmal: «Nein!» Und dann ganz leise, aber er hört es doch: «O Gott!»
Pinneberg macht drei Schritte gegen die Tür – was ist das? Was kann da sein? Man hat schon gehört, daß solche Ärzte schreckliche Wüstlinge sind . . . Aber nun spricht Doktor Sesam wieder, nichts zu verstehen, und nun klappert wieder das Instrument.
Und dann lange Stille.
Es ist ein Hochsommertag, etwa Mitte Juli, herrlichster Sonnenschein. Der Himmel draußen ist dunkelblau, ins Fenster reichen ein paar Zweige, sie bewegen sich im Seewind. Da ist ein altes Lied aus Pinnebergs Kinderzeit, es fällt ihm eben ein:
Wehe-Wind, Puste-Wind,
Nimm den Hut nicht meinem Kind!
Sei gelind zu meinem Kind,
Wehe-Wind, Puste-Wind!
Die im Wartezimmer reden. Denen wird die Zeit auch lang. Eure Sorgen möcht ich haben. Eure Sorgen . . .
Die beiden kommen wieder. Pinneberg wirft einen ängstlichen Blick auf Lämmchen, sie hat so große Augen, wie von einem Schreck erweitert. Sie ist blaß, aber nun lächelt sie ihm zu, kümmerlich erst, und dann breitet sich das Lächeln voll aus über das ganze Gesicht und wird immer stärker und blüht auf . . . Der Arzt steht in der Ecke, er wäscht sich die Hände. Schräg schaut er hinüber zu Pinneberg. Dann sagt er eilig: «Ein bißchen zu spät, Herr Pinneberg, mit der Verhütung. Die Tür ist zu. Ich denke Anfang des zweiten Monats.»
Pinneberg ist ohne Atem. Das war wie ein Schlag. Dann sagt er hastig: «Herr Doktor, es ist doch unmöglich! Wir haben so aufgepaßt! Ganz unmöglich ist das. Sag doch selbst, Lämmchen . . .»
«Junge!» sagt sie. «Junge . . .»
«Es ist so», sagt der Arzt. «Irrtum ausgeschlossen. Und glauben Sie mir, Herr Pinneberg, ein Kind ist für jede Ehe gut.»
«Herr Doktor», sagt Pinneberg und seine Lippe zittert. «Herr Doktor, ich verdiene im Monat hundertachtzig Mark! Ich bitte Sie, Herr Doktor!»
Doktor Sesam sieht schrecklich müde aus. Was jetzt kommt, das kennt er, das hört er an jedem Tag dreißigmal.
«Nein», sagt er. «Nein. Bitten Sie mich gar nicht erst darum. Kommt überhaupt nicht in Frage. Sie sind beide gesund. Und Ihr Einkommen ist gar nicht schlecht. Gar – nicht – schlecht.»
«Herr Doktor!» sagt Pinneberg fieberhaft.
Hinter ihm steht Lämmchen und streicht ihm über die Haare: «Laß, Junge, laß! Es wird schon gehen.»
«Aber es ist ganz unmöglich . . .» bricht Pinneberg aus – und wird still. Die Schwester ist hereingekommen.
«Herr Doktor werden am Apparat verlangt.»
«Sie sehen», sagt der Arzt. «Passen Sie auf, Sie freuen sich noch. Und wenn das Kind da ist, kommen Sie sofort zu mir. Dann machen wir das mit der Verhütung. Verlassen Sie sich nicht aufs Nähren. Also denn . . . Mut, junge Frau!»
Er schüttelt Lämmchen die Hand.
«Ich möchte gleich . . .» sagt Pinneberg und zieht sein Portemonnaie.
«Ach ja», sagt der Arzt, schon in der Tür, und sieht die beiden noch einmal an, schätzend. «Na, fünfzehn Mark, Schwester.» – «Fünfzehn . . .» sagt Pinneberg gedehnt und sieht die Tür an. Doktor Sesam ist schon fort. Er holt umständlich einen Zwanzigmarkschein hervor, schaut mit gerunzelter Stirn zu, wie die Quittung ausgeschrieben wird, und nimmt sie in Empfang.
Seine Stirn hellt sich etwas auf: «Ich bekomme das von der Krankenkasse wieder, nicht wahr?»
Die Schwester sieht ihn an, dann Lämmchen. «Schwangerschaftsdiagnose, nicht wahr?» Sie wartet gar nicht erst auf die Antwort. «Doch nicht. Das ersetzen die Kassen nicht.»
«Komm, Lämmchen!» sagt er.
Sie steigen langsam die Treppe hinunter. Auf einem Absatz bleibt Lämmchen stehen und nimmt seine Hand zwischen die ihren. «Sei nicht so traurig! Bitte nicht! Es wird schon gehen.»
«Ja, ja», sagt er, tief in Gedanken.
Sie gehen ein Stück Rothenbaumstraße, dann biegen sie in die Mainzer Straße ein. Hier sind hohe Häuser und viele Menschen, Autos fahren in Rudeln, die Abendzeitungen sind schon da, niemand achtet auf die beiden.
«Gar kein schlechtes Einkommen, sagt der, und nimmt mir fünfzehn Mark ab von meinen hundertachtzig, solch Räuber!» – «Ich schaffe es schon», sagt Lämmchen. «Ich schaffe es schon.» – «Ach du!» sagt er.
Von der Mainzer Straße kommen sie in den Krümperweg, still ist das plötzlich hier.
Lämmchen sagt: «Jetzt versteh ich manches.»
«Wieso?» fragt er.
«Ach nichts, nur daß mir morgens immer schlecht ist. Und es war überhaupt so komisch . . .»
«Aber du mußt es doch gemerkt haben?»
«Ich hab doch immer gedacht, es kommt noch. Wer denkt denn gleich an so was?»
«Vielleicht hat er sich geirrt!»
«Nein. Das glaube ich nicht. Es stimmt schon.»
«Aber möglich ist es doch, daß er sich geirrt hat?»
«Nein, ich glaube . . .»
«Bitte! Höre doch einmal zu, was ich sage! Möglich ist es doch!?»
«Möglich –? Möglich ist alles!»
«Also vielleicht kommt morgen schon die Regel. Dann schreib ich dem aber einen Brief –!» Er versinkt in Gedanken, er schreibt einen Brief.
Auf den Krümperweg folgt die Hebbelstraße, die beiden gehen fein bedachtsam durch den Sommernachmittag, in dieser Straße stehen schöne Ulmen.
«Meine fünfzehn Mark verlange ich dann aber auch zurück», sagt Pinnebergplötzlich.
Lämmchen antwortet nicht. Sie tritt vorsichtig auf mit der ganzen Breite des Schuhs, und sie sieht genau, wohin sie tritt, es ist alles so anders.
«Wohin gehen wir eigentlich?» fragt er plötzlich.
«Ich muß noch mal nach Haus», sagt Lämmchen. «Ich habe Mutter nichts gesagt, daß ich wegbleibe.»
«Auch das noch!» sagt er.
«Schimpf nicht, Junge», bittet sie. «Aber ich will sehen, daß ich um halb neun noch mal runterkommen kann. Mit welchem Zug willst du fahren?»
«Um halb zehn.»
«Dann bring ich dich zur Bahn.»
«Und sonst nichts», sagt er. «Sonst wieder mal nichts. Ein Leben ist das.»
Die Lütjenstraße ist eine richtige Arbeiterstraße, immer wimmelt es von Kindern da, man kann keinen richtigen Abschied nehmen.
«Nimm es nicht so schwer, Junge», sagt sie und gibt ihm die Hand.
«Ich schaff es schon.»
«Ja, ja», sagt er und versucht zu lächeln. «Du bist Trumpf-As, Lämmchen, und stichst alles.»
«Und um halb neun bin ich unten. Bestimmt.»
«Und keinen Kuß jetzt?»
«Es geht wirklich nicht, es wird gleich weitergetratscht. Tapfer, tapfer!»
«Also gut, Lämmchen», sagt er. «Nimm du es auch nicht so schwer. Irgendwie wird es ja werden.»
«Natürlich», sagt sie. «Ich verlier den Mut schon nicht. Tjüs derweile.»
Sie huscht schnell die dunkle Treppe hinauf, ihr Stadtköfferchen schlägt gegen das Geländer: klapp – klapp – klapp.
Pinneberg sieht den hellen Beinen nach. Hunderttausendmal ist ihm Lämmchen schon diese gottverdammte Treppe hinauf entschwunden.
«Lämmchen!» brüllt er. «Lämmchen!»
«Ja?» fragt sie von oben und sieht über das Geländer.
«Einen Augenblick!» ruft er. Er stürmt die Treppe hinauf, er steht atemlos vor ihr, er faßt sie bei den Schultern. «Lämmchen!» sagt er und keucht vor Aufregung und Atemnot. «Emma Mörschel! Wie wär’s, wenn wir uns heiraten würden –?»