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Der Junge in Feldgrau sprang in großen Sätzen die Treppe hinauf, er nahm zwei Stufen auf einmal. An der Tür drückte er, ohne sich zu besinnen, den Klingelknopf mehrere Male, und noch ein paarmal, als nicht sofort geöffnet wurde. Er sah flüchtig die Schilder unter den Namen an, sehr viele Schilder, sehr große, aber nüchterne Schilder, schwarze Buchstaben auf weißer Emaille: »Justizrat Dr. Meier – Rechtsanwalt und Notar. – Geschäftsstunden von 10-1, 3-6. – Mitglied des Reichstags.«

Er näherte den Finger wieder dem Klingelknopf – da ging die Tür auf.

»Warum denn so eilig?« fragte der Öffnende mit tiefer Stimme. »Herr Justizrat ist jetzt doch nicht zu sprechen – ach, du bist es, Erich. Komm herein – ich sage dem Doktor gleich Bescheid.«

»Ich sag's ihm selber!« rief Erich und lief schon in das Zimmer des Abgeordneten.

Der schwere, dunkle Mann las in einer Zeitung. »Ich wünsche jetzt nicht gestört zu werden«, sagte er, erkannte aber schon den Eindringling. »Ach, Erich! Erich in Uniform! Das hast du aber schnell geschafft! Ich höre, die Regimenter können sich vor Freiwilligen nicht retten. Wo bist du angekommen?«

»Bei einem Ersatzbataillon in Lichterfelde. Von dreitausend, die sich gemeldet haben, haben sie hundertfünfzig genommen!«

»Und dich darunter. Sehr schön. Ich habe es immer gesagt: Was du wirklich willst, führst du auch durch. – Und so hast du dich uns also in Uniform zeigen wollen, uns roten Genossen? Gut siehst du aus! Schneidig – was ja wohl das Höchste an Preußentum bedeutet.«

»Ich bin nicht gekommen, weil ich mich in Uniform zeigen wollte! So albern bin ich doch nicht, Herr Doktor!«

»Vielleicht ist das gar nicht so albern, Erich? Es muß für viele heute ein schönes Gefühl sein, die Uniform zu tragen. Ihr verteidigt uns doch, ihr wollt doch sogar für uns sterben!«

»Natürlich freue ich mich auch, daß ich Soldat bin. Aber doch nicht wegen der Uniform!«

»Und der Ton bei deinen Preußen – er gefällt dir? Anschnauzer waren doch sonst für dich, was das rote Tuch für den Stier ist! Oder wird nicht mehr geschnauzt ...?«

»Doch«, gab Erich zu. »Es ist elend, manchmal kann ich mich kaum beherrschen. Und das Gemeinste ist nicht das Schnauzen, sondern das Spötteln und Triezen, wenn einer nicht so kann, wie er soll! Manche können doch wirklich nicht, die nie geturnt haben und so ... Stundenlang geht es über die her, alle Tage!«

Der Abgeordnete sah aufmerksam in das erregte Gesicht. »Nun, mein Erich«, sagte er. »Ich hoffe, du kannst die Schnauze halten, wie man auf preußisch sagt. Die Kriegsartikel sind recht scharf, und Rebellion ist heute etwas Todeswürdiges. – Ich sagte dir wohl schon mal, daß du eigentlich ein Rebell bist«, setzte er hinzu. »Du wirst immer gegen jeden Zwang antoben, bis zur eigenen Vernichtung.«

»Ich kann aber jetzt die Schnauze halten, Herr Doktor!« rief Erich stolz. »Man kann alles, wenn die Sache es lohnt! Ich denke immer: Ein Vierteljahr werden wir nur ausgebildet, dann kommen wir doch an die Front und können kämpfen!«

»Vielleicht werdet ihr noch eher herauskommen, Erich. England hat uns jetzt auch den Krieg erklärt, weißt du es schon?«

»England auch?« rief der Junge bestürzt. »Aber warum denn? Unsere Vettern, gleichen Blutes, und der Kaiser ist ganz nahe mit denen verwandt! Warum denn?«

»Weil wir die belgische Neutralität verletzt haben. Sagen sie. Und das haben wir ja auch wirklich getan.«

»Aber England«, rief der Junge, »hat sich hundertmal in seiner Geschichte über Verträge hinweggesetzt! Es hat nie ein Papier geachtet, wenn es um ein Lebensrecht seines Volkes ging! Und jetzt ging es um unser Lebensrecht!«

»Sie sagen Christentum, und sie meinen Kattun!« zitierte der Abgeordnete, trübe lächelnd. »Sie sagen belgische Neutralität, und sie meinen unsere Flotte, unsere Kolonien!«

»Aber England besitzt fast ein Fünftel der Welt – was zählen da unsere paar Kolonien?«

»Ein reicher Mann ist nie reich genug. Wir werden es schwer bekommen, Erich. Sei dir klar, daß fast die ganze Welt Deutschland haßt.«

»Aber warum? Wir wollten doch in Frieden leben ...«

»Weil wir zwiespältig sind. Weil sie uns nie verstehen. Sie wollen uns immer verstehen, aber Deutschland, mein Sohn, kann man nicht verstehen. Deutschland muß man lieben oder hassen.«

»Ja«, rief der Junge, »jetzt weiß ich wieder, warum ich hierherkam. Ich habe doch recht behalten, Herr Abgeordneter, Herr Mitglied des Reichstages, Herr Sozialdemokrat! Auch Sie lieben Deutschland – Sie haben doch für die Kriegskredite gestimmt, alle, einer wie der andere!«

»Ja«, gab der Abgeordnete fast verlegen zu. »Wir haben diesen Krieg gebilligt. Die Rede des Reichskanzlers war kläglich. Wenn er uns die Wahrheit gesagt hat, so hat er uns nicht die volle Wahrheit gesagt. Vieles blieb unklar ...«

»Sie haben mit Ja gestimmt!«

»Österreichs Haltung ist zwiespältig. Der Kaiser redet von Nibelungentreue, aber der, dem wir zu Hilfe kamen, hat heute noch nicht an Rußland den Krieg erklärt. Die Herren in Wien möchten ihren kleinen Strafkrieg gegen Serbien führen, und wir dürfen uns für sie mit der Welt herumschlagen!«

»Und doch haben Sie ja gesagt!«

»Weil wir Deutschland lieben, jawohl, Erich. Es sind unendliche Fehler gemacht worden, vom Kaiser, von diesem philosophierenden Kanzler – von allen. Aber man läßt ein Kind nicht wegen Fehlern im Stich, man verläßt auch nicht seine Mutter ... Wir haben mit Ja gestimmt. Wir konnten gar nicht anders. Das ganze Volk sagt ja, Erich. Und wir wollten auch nicht anders. Hoffentlich, hoffentlich sind unsere Regierenden im Kriege anders, als sie im Frieden waren ...«

»Es wird alles anders«, sagte Erich.

Der Abgeordnete sah zweifelhaft darein. »Sie schleifen euch auf dem Kasernenhof wie früher, Erich. Sie werden sich auch in den Regierungsstuben nicht ändern. Erich, jetzt geht ein Wille durch das Volk, ein Glaube, ein Zusammenhalt! Wenn sie diese Stunde nicht nützen, wenn sie sich nicht ohne Dünkel in die Front eingliedern – wenn auch diese Gelegenheit ungenützt verstreicht, dann, Erich, kommt eine schreckliche Zeit. Dann bricht alles auseinander, dann ist es ganz vorbei mit ihnen. Heute glaubt alles an Deutschland, liebt alles Deutschland, aber wenn sie diesen Glauben, diese Liebe verlieren – was dann? Vielleicht nie wieder!«

»Wir werden ihn nicht verlieren«, sagte Erich. »Sie können uns schleifen, sie mögen dünkelhaft sein: Sie zählen ja nicht! Es sind bloß ein paar. Wenn ich sie auf dem Kasernenhofe schreien höre, denke ich immer, es ist mein Vater. Es ist seine Art zu brüllen, es sind seine Ausdrücke. Ich habe das so gehaßt, es war mir so unerträglich geworden, daß ich mich oft schon beim Klang seiner Stimme schüttelte!«

Er hielt einen Augenblick inne, dann sagte er leise: »Jetzt denke ich manchmal: Er kann auch nicht anders. Er ist so geworden. Im Grunde liebt er uns – auf seine Art!«

Der Abgeordnete schüttelte leicht den Kopf. »Das ist eine Entschuldigung, die wir nicht annehmen können, Erich. So könnte man jede Ungerechtigkeit, jede Gemeinheit freisprechen. – Aber es ist immerhin eine bemerkenswerte Wandlung bei dir, mein Sohn, ich sehe jede Stunde, es geht wirklich etwas vor im deutschen Menschen. Der verknöchertste Parteifunktionär, wandelt sich. Und es ist nicht bloß Hurra-Patriotismus. Möge es dauern, Erich. Und mögen sie die Stunde nicht versäumen. Vielleicht kommt sie nie wieder!«

Der eiserne Gustav

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