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Die Obertertia tobte. Schon vor fünf Minuten hatte es zum Unterrichtsbeginn nach der großen Pause geläutet, aber kein Lehrer hatte sich bisher sehen lassen. Das kam in diesen ersten Wochen und Monaten nach Kriegsbeginn häufig vor. Weit über die Hälfte der Lehrerschaft war eingezogen worden, mit ein paar kümmerlichen Hilfslehrern (dienstuntauglichen) suchte man den Unterricht durchzuführen.

Die Jungen genossen die ungewohnte Freiheit mit vollen Zügen. Der Ausbruch des Krieges, der siegreiche Vormarsch der Truppen in Belgien, in Frankreich, alle diese Erfolge hatten ihnen einen nicht zu bändigenden Übermut gegeben. Ohne sich darüber klar zu sein, fühlten sie sich als die Vertreter einer Nation, die alle Völker der Erde besiegte, sie waren die Söhne und die Brüder von Helden. Wenn geflaggt wurde, wenn schon wieder die Glocken läuteten: Lüttich gefallen, Antwerpen eingeschlossen – so war das ihr Stolz, ihr Erfolg, ihr Sieg!

Der blasse, bebrillte Hilfslehrer aus dem Klassenzimmer nebenan steckte seinen Kopf flehend durch die Tür. »Jungen! Jungen!!«

»Seid doch mal still! Da will wer was!«

»Mein Bruder hat geschrieben, in einem Keller haben sie so viel Weinfässer gefunden ...«

»Jungen! Meine Herren!«

»Seid doch mal still ...«

»Sie haben einfach die Böden von den Fässern eingehauen ...«

»Ruhe! sage ich. Ruhe!!« Der Hilfslehrer war zornrot.

»Unterrichten Sie denn jetzt bei uns, Herr – Professor?«

»Nein, aber ich möchte nebenan unterrichten. Und bei dem Krach, den ihr macht, ist das einfach unmöglich!«

»Hier macht doch keiner Krach!«

»Wer macht denn hier Krach? Ich nicht! Du etwa?«

»Sie machen hier allein Krach, Herr Professor!«

»Krach! Krach! Ist hier vielleicht einer, der Krach heißt?«

»Ihr solltet euch was schämen. Jungen! Ihr wollt deutsche Jungen sein?! Ein deutscher Junge gehorcht, wenn ihm etwas befohlen wird. Nur durch Gehorsam lernt man Befehlen!«

Aber der Unselige hatte sich völlig im Ton vergriffen, jetzt wurden sie bösartig.

»Sie haben uns gar nichts zu befehlen!«

»Warum sind Sie überhaupt nicht an der Front?«

»An der Front dürfen Sie befehlen!«

»Wer nicht kriegsdienstfähig ist, der hat gar nichts zu sagen!«

»Untaugliche haben das Maul zu halten!«

Der Hilfslehrer wurde kreideweiß. »Schämen ...«, murmelte er. »Es ist häßlich ...«

Er machte ein paar Schritte zum Pult, besann sich, drehte sich rasch um und verließ eilig die Klasse.

Einen Augenblick herrschte betretenes Stillschweigen, ein wenig schämten sie sich doch.

Dann rief eine grobe, im Stimmwechsel begriffene Stimme: »Der Deutsche sagt: Auf Wiedersehen – nicht adieu!«

Erstes Gelächter.

»Gott strafe England!« schrie ein anderer.

Zweites Gelächter.

»Und die Arschpauker!«

Tosendes Gelächter!

Ein paar fingen an zu singen, das Lied, das damals in aller Munde war, das Rachelied, das Zornlied: »Was schiert uns Russe und Franzos? Schuß wider Schuß und Stoß um Stoß!«

Mehr und mehr sangen es. Bis zu dem Kehrreim, den sie alle gemeinsam schmetterten, über die Bänke gelümmelt, mit den Pultdeckeln Takt schlagend, an den Klassenschrank gelehnt: »Wir haben alle nur einen Feind: England!«

»Ich bitte um Ruhe«, sagte eine leise, aber sehr deutliche Stimme vom Lehrerpult her.

Dort stand ihr Professor, jetzt der richtige, beim Gesang war er unbemerkt eingetreten. Ein älterer Mann mit hoher gebuckelter Stirn, die bläulichweiß glänzte, zurückgekämmt eine Mähne von rotflammendem Haar, in das sich schon graue Strähnen mengten. Die blauen Augen leuchteten. Professor Degener, Lehrer des Lateinischen und Griechischen, eigentlich ein Männchen Ende der Fünfzig, mit Spitzbauch und ziemlich lächerlich gekleidet.

»Auf eure Plätze!«

Sie schoben sich verlegen durch die Gänge, sie grobsten sich halblaut an: »Mach doch Platz, Schafskopf!«.

»Selber Schafskopf, schlaf bloß nicht ein.«

»Das gibt noch was!«

»Au Backe, wenn ich noch mal Karzer fasse, kriege ich das Konsilium!«

»Degener hat einen Rochus!«

»Die Klasse hat sich schmählich benommen«, sagte der Professor in eine tiefe, atemholende Stille hinein. Er war blaß vor Zorn, sein rotes Haar flammte. »Nicht allein ist es undeutsch, einem anderen ein körperliches Gebrechen vorzuwerfen.« Er sprach Deutsch nur, als übersetze er es aus dem geliebten Latein. »Es ist auch schmählich, bei allen Völkern des Erdballes, selbst bei den Engländern! Es ist überall schmählich. Herr Kandidat Tulieb ist lungenleidend. Er müßte in einer Heilstätte sein, er unterrichtet euch, weil Not am Mann ist. Man kann nicht nur draußen auf dem Felde der Ehre sterben. – Oh, Schmach ...!«

Er stand oben, flammend, sie saßen unten. Manche hielten die Köpfe gesenkt, andere sahen verloren zum Fenster hinaus. Aber es gab auch einige, die den geliebten, nun so zornigen Lehrer offen ansahen.

»Die drei«, sprach Professor Degener, »die sich am schuldbeladensten fühlen, werden sich jetzt in das andere Klassenzimmer begeben und sich vor versammelter Untertertia bei Herrn Tulieb entschuldigen. Sie werden ihn um Verzeihung bitten, wohlverstanden – keine Redensarten, Jungen, sondern Bekenntnis eurer Schuld und Reue. Reue!«

Er sah wieder über seine Klasse.

»Ich selbst werde jetzt das Klassenzimmer verlassen und erst nach fünf Minuten hierher zurückkehren. Unterdes wird die Klasse darüber einig geworden sein, welche Strafe sie sich selbst für ihr schmähliches Verhalten auferlegt ...«

»Au Backe, das haut hin ...«, flüsterte einer gedankenverloren.

»Fünf Minuten!« rief der Professor und lief, nach einem Blick über seine Schäflein, auf dünnen Beinchen unter dem Ostereierbauch aus dem Klassenzimmer.

»So ein Aas!« sagte einer bewundernd.

»Nicht diese Töne, Lieber«, sprach der nächste und schlug den ersten auf den Bizeps. »Degener hat ganz recht. Wer geht Abbitte leisten?«

Sie sahen sich verlegen an.

»Also erst mal ich«, sprach Hoffmann. »Dann – du, Hackendahl?«

»Meinethalben! Aber ich rede nicht.«

»Und ich!« sprach Porzig.

»Nein, du nicht. Porzig. Du mußt hier über unsere Gesamtstrafe beraten. Aber denkt was Vernünftiges aus, daß Rotkopp zufrieden ist – es muß schwer sein! – Komm du lieber mit, Lindemann.«

Sie gingen eilig. Sie klopften an. »Herein!« krähte der Kandidat Tulieb. Aber als er die drei erkannte: »Ich fordere euch auf, sofort dieses Klassenzimmer zu verlassen!«

Die Untertertia sah schadenfroh auf die drei Büßer.

»Hoffmann und Hackendahl in Canossa!« rief einer ziemlich laut.

»Holt Schnee, es kniet sich kühler.«

»Herr Kandidat, wir kommen ...«

»Wollt ihr nicht einmal jetzt gehorchen?! Ihr sollt dies Zimmer verlassen! Ich will euch nicht sehen ...«

Er war kein edelmütiger Sieger, der Herr Kandidat Tulieb, nein, das war er nicht ...

»Wir haben uns wie die Schweine benommen«, sagte Hoffmann rauh. »Wir bitten um Verzeihung ...«

»Verzeihung, das ist leicht gesagt ...«, sprach der Kandidat. »Ihr habt mich in meiner Ehre gekränkt ...«

»Verzeihen Sie uns doch, Herr Kandidat!« rief Hackendahl. »Wir werden uns von jetzt an auch anständig benehmen!«

»Werdet ihr das?« Der Kandidat lächelte. »Ihr da von der Untertertia, seht her! Nehmt euch ein Beispiel! Das sind die traurigen Folgen des Ungehorsams ...«

Die drei stöhnten nur: »Schwein ...«

»Aber so leicht kommt ihr mir nicht davon. Hat Herr Professor Degener euch schon bestraft ...?«

»Nein.«

»Natürlich. Er hat es mir überlassen! Ihr seid die drei Rädelsführer, ich sehe es euern Gesichtern an ... Ihr werdet mir jeder dreihundertmal den Satz niederschreiben: Sunt pueri pueri, pueri puerilia tractant ... Übersetze mir das, du da!«

Heinz Hackendahl übersetzte: »Kinder sind Kinder, Kinder treiben Kindisches!«

»Kindereien, jawohl! So schätze ich euch ein! Geht!«

»Haben Sie uns verziehen, Herr Kandidat?« fragte Hoffmann vorsorglich.

»Wenn ihr den Satz dreihundertmal säuberlich geschrieben morgen hier abliefert, dann ja. Eher nicht. Das könnt ihr Herrn Professor Degener sagen.«

Die drei standen auf dem Gang, schweigend, grimmig.

»Ich habe wohl gesehen, wie du gewackelt hast, Hackendahl«, flüsterte Lindemann. »Du warst schön wütend.«

»War ich auch! Aber ich habe daran gedacht, daß man sich bei den Soldaten auch anbrüllen lassen muß, ohne die Miene zu verziehen. Ich habe nur ganz wenig gewackelt.«

»Merde, da haben wir dreihundertmal Abschreiben extra weg, und wir haben kein Wort gesagt!«

»Hauptsächlich war es Lange, das elende Schwein!«

»Na, jetzt hilft's nichts mehr. Wollen hören, was die anderen unterdes ausgebrütet haben.«

Es war nichts Besonderes: Sie hatten beschlossen, einen Monat lang alle Sonntage auf den Stadtgütern bei der Ernte zu helfen, denn die Arbeitskräfte waren knapp und die Ernte weit zurück.

»Mäßig!« erklärte Hoffmann. »Ob Rotkopp das als Strafe ansieht?«

»Und ihr? Was habt ihr bei der Brillenschlange ausgerichtet?«

»Ach, reden wir nicht davon ...«

Sie hatten auch keine Zeit mehr dafür, Herr Professor Degener bestieg das Katheder.

»Ist alles geregelt? Gut. – Nein, danke, ich wünsche keine Mitteilungen. Ich bin vollkommen überzeugt, daß ihr alles anständig erledigt habt. – Statt aber nun ...«, sagte er und sah die Klasse an, »statt aber nun unsern Cäsar zur Hand zu nehmen, müssen wir etwas anderes tun. Die Klasse steht auf!«

Sie taten es.

»Haltung! Die Klasse hört: Auf dem Felde der Ehre fielen: Günther Schwarz, bisher Oberprimaner unseres Gymnasiums, Grenadier im 3. Garderegiment zu Fuß. Herbert Simmichen, Oberprima, Kriegsfreiwilliger bei der 15. Feldartillerie, 3. Batterie. Dulce et decorum est pro patria mori ...«

Einen Augenblick Stille.

»Die Klasse setzt sich. Ich verlese euch jetzt die Berichte der Kompanieführer über den Tod eurer Mitschüler ...«

Der eiserne Gustav

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