Читать книгу Hans Fallada: Der Trinker – Band 186e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski - Ханс Фаллада - Страница 12
Kapitel acht
ОглавлениеKapitel acht
Ich erwache. Ich liege in meinem Bett, die Fenster stehen offen, die Vorhänge bewegen sich leise im Wind, draußen scheint die Sonne. Es muss schon spät sein, das Bett neben mir ist bereits gemacht, das Schlafzimmer ist leer, ich bin allein darin. Mir ist sehr schlecht, mein Magen hat ein trockenes Brennen, nur langsam entschließt sich mein Kopf zu denken. Nur langsam kommen mir die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück, dann fühle ich die Schmerzen in den Füßen. Ich streife die Decke zurück und sehe die Verbände. Und mit einem Schlage steht alles wieder vor mir: das Lauern vor meinem eigenen Geschäft nach den Schatten auf der Glasscheibe, die gemeine Trinkerei in der Schankstube, die schamlose Szene in der Kammer des gemeinen Mädchens, mein schuhloser betrunkener Heimweg und, als Schlimmstes von allem, die Szene in der Küche mit Magda! Wie ich mich beschmutzt habe, ach, wie ich mich beschmutzt habe. Eine brennende Reue überfällt mich. Scham, peinigende, schmerzende Scham, ich verberge mein Gesicht mit den Händen, ich presse die Augen fest zu ... Ich will nichts mehr sehen, ich will nichts mehr hören, nichts mehr denken! Ich stöhne, ich beiße die Kiefer zusammen, ich knirsche mit den Zähnen. Ich stöhne: ‚Es kann nicht wahr sein! Es ist nicht wahr! Das bin ich nicht gewesen, ich habe alles nur geträumt! Ich muss alles vergessen, auf der Stelle muss ich alles vergessen! Es darf nichts wahr sein!’
Das schüttelt mich wie ein Krampf, und dann kommen die Tränen, Tränen über all das, was ich so mutwillig verlor. Endlose, bittere, lange, schließlich doch lösende Tränen.
Und als ich mich ausgeweint habe, ist immer noch die Sonne vor meinen Fenstern, wehen die frischen duftigen Vorhänge im leichten Winde. Immer noch ist das Leben da, jung und lächelnd, du kannst es in jeder Stunde noch einmal beginnen, es kommt nur auf dich an. Neben meinem Bett steht ein Tischchen mit einem Frühstückstablett, der Kaffee ist sorgsam mit einer Haube verdeckt, und nun beginne ich zu frühstücken. Die ersten Bissen der Semmel kaue ich noch zäh und träge im Munde, aber der Kaffee ist extra stark zubereitet; allmählich kommt der Appetit wieder, und ich genieße mit dankbarer Freude all das, was mir Magdas Sorgsamkeit an Extrabissen auf das Tablett gestellt hat: scharfe Anchovis, eine schöne fette Leberwurst und wunderbaren Chesterkäse. Selten habe ich mit solchem Genuss gegessen, ich fühle mich wie ein Genesender. Dankbar begrüße ich die säuberlichen Dinge der bekannten Umwelt, grüße sie wie alte vertraute Freunde, die man lange entbehrt hatte. Nun finde ich auch auf dem Nachttisch einen Zettel von Magda. Sie teilt mir mit, dass sie nur auf wenige Stunden ins Geschäft gegangen sei, sie bittet mich, bis zu ihrer Rückkunft im Bett oder doch im Hause zu bleiben; das Bad sei für mich geheizt.
Eine halbe Stunde später verlasse ich das Haus. Zwar macht mir das Gehen mit meinen wunden Füßen arge Schmerzen, aber ich bin nicht gesonnen, weiter tatenlos zu verharren. Ich habe mich gesäubert von oben bis unten, ich zog frische Wäsche an, meinen besten Anzug – und nun will ich meinen alten Platz in der Welt wieder einnehmen. Wenn ich auch nicht so tatkräftig wie Magda bin, möchte ich doch wieder die Bremse am eilig vorgetriebenen Wagen sein: die Fahrt regelnd und sichernd!
Ich zögere nicht, ich schiele nicht von Torwegen her nach Schatten; ich trete ohne weiteres ein. Ich grüße die Angestellten in meinen beiden vorderen Büros freundlich und trete in mein Chefbüro ein. Magda springt von meinem Schreibtischsessel auf; früher hat sie dort nie gesessen, wenn ich nicht anwesend war; sie hatte einen Platz an einem Nebentisch. Ein wenig schmerzt es mich, dass sie mich so ganz schon von der Liste der Mittätigen ausgestrichen hat; sie wird auch sehr rot.
„Erwin, du?“ ruft sie. „Ich dachte ...“
Und sie schaut erst mich, dann Herrn Hinzpeter an.
„Guten Morgen, guten Morgen, Herr Hinzpeter“, sage ich freundlich und lasse mir nichts anmerken. „Ja, du dachtest ... aber ich fand, dass es mir heute früh doch schon erträglich ging, bis auf die Füße ... die Füße natürlich ... aber lassen wir das. Nun erzähle mir, was ihr festgestellt und was ihr vielleicht sogar schon beschlossen habt. Werden wir den Verlust der Gefängnislieferungen verschmerzen können –?“ Ich hatte mich in den Sessel an meinen Schreibtisch gesetzt. Ich sah sie freundlich an, ganz der Chef, der bereit war, die Vorschläge seiner Angestellten wohlwollend anzuhören, ehe er seine Entscheidung traf. Ich hatte – kaum eine Stunde war es her – in einem Krampf geschrien, dass ich vergessen wollte, dass ich vergessen musste ... Und nun saß ich hier, ich, ich konnte nicht vergessen, schon Magdas Blässe, schon meine in den engen Schuhen schmerzenden Füße erinnerten mich stets, aber sie mochte ich vergessen. Keine fünf Minuten, und es musste Magda wie ein böser Traum vorkommen, dass sie mich vor noch nicht zwölf Stunden am Küchentisch hatte sitzen sehen, drei Flaschen vor mir, die verschmutzten Füße in einer Schüssel, der Fliesenboden überschwemmt – nichts wie ein böser Traum! Vergessen! Vergessen!! (Auch dies, es war mir klar, war Schamlosigkeit; wortlos ging ich über das Geschehene fort, wischte es aus, duldete keine Anspielung, keinen nachdenklich forschenden Blick ... schamlos auch das!) Im Übrigen zeigte es sich, dass ich nicht umsonst auf Magdas Tatkraft gerechnet hatte. Schon am frühen Morgen hatte sie bereits einen Besuch bei ihrem Freund, dem Oberinspektor, gemacht, um festzustellen, ob nicht vielleicht doch noch etwas zu retten war. Und, siehe, dieser brave Mann hatte ihr wirklich einen Tipp gegeben, einen sehr wertvollen Tipp ... Ein Teil der Gefangenen wurde im Anfang der Strafzeit in Einzelzellen mit Wergzupfen beschäftigt, altes verbrauchtes oder zerrissenes Tauwerk wurde wieder in seine Grundbestandteile zerlegt, zerzupft, mit dem gewonnenen Werg konnten wieder neue Seile gemacht werden ... Der Bedarf an solchem Tauwerk war immer recht groß, und gerade im Augenblick waren die Vorräte der Gefängnisverwaltung darin ziemlich am Ende. Der Oberinspektor hatte Magda vorgeschlagen, nach Hamburg zu fahren und dort altes Seilwerk aufzukaufen, zwei oder auch drei Waggons. Seinen Angaben nach war dabei ein recht gutes Geschäft zu machen, wenn man nur die rechten Quellen kannte, und er hatte es sogar nicht an Hinweisen auf diese guten Quellen fehlen lassen.
Wie gesagt, ich hörte mir das alles wohlwollend an. Es war natürlich nur ein kleines Gelegenheitsgeschäft, das auch bei günstigstem Einkauf nicht annähernd eine dreijährige Lebensmittellieferung für annähernd fünfzehnhundert Menschen ersetzen konnte, aber es war mitzunehmen, wenn es eigentlich auch nicht in den Rahmen meines Geschäftes passte.
„Und wer, dachtest du, soll fahren, Magda?“ fragte ich. „Du selbst etwa –?“
„Nein, so gern ich möchte“, antwortete sie zögernd. „Ich glaube, ich kann im Augenblick schlecht fort. Gerade jetzt ...“ Sie brach ab und sah mich etwas hilflos und doch mit Bedeutung an. Dies war einer jener Blicke, die ich unter keinen Umständen dulden wollte. „Du hast ganz recht, Magda“, antwortete ich darum, „du bist hier im Augenblick wirklich schlecht abkömmlich. Und dann ist da dein Haushalt. Else ist doch noch sehr jung ... (gute, tröstende Else –!) Es ist schon das Beste, ich fahre selbst. Ich fühle mich wieder ganz frisch, und mit meinen Füßen, das werde ich mir schon so einrichten ... Ich kann ja Taxen nehmen ...“
Hastig unterbrach mich Magda: „Du kannst keinesfalls fahren, Erwin. Du weißt, du bist noch nicht ganz in Ordnung.“
Sie sah mich fest an, nicht böse, sondern eher traurig-liebevoll, aber unausweichlich und fest. Diesmal senkte ich den Blick.
„Nein“, fuhr sie fort, „das Beste ist, wir schicken Herrn Hinzpeter. Er könnte heute Abend noch fahren und wäre dann vielleicht schon übermorgen früh ...“
„Einen Augenblick bitte, Magda“, unterbrach ich sie.
„Besten Dank, Herr Hinzpeter, ich rufe Sie dann gleich wieder ...“
Ich wartete, bis sich die Tür hinter dem Buchhalter geschlossen hatte. Dann sah ich Magda fest an.
„Magda“, sagte ich, „wir wollen das Vergangene ruhen lassen, wir wollen nie mehr davon sprechen. Es soll für immer vergessen sein.“
Sie machte eine Bewegung, als wollte sie reden, dieser vielleicht etwas zu einfachen Lösung widersprechen.
„Nein, nein, Magda“, sagte ich darum eilig, „lass mich erst ausreden. – Ich bitte dich herzlich, lass du mich nach Hamburg fahren, es liegt mir sehr viel daran, und mit den Füßen, das richte ich schon ...“
Wieder machte sie eine heftige Bewegung, als seien meine Füße im Moment ganz belanglos. Diese Interesselosigkeit an meinem Wohlergehen kränkte mich sehr, aber ohne mir etwas anmerken zu lassen, fuhr ich fort: „Es wird für meine Stimmung sehr gut sein, wenn ich für ein oder zwei Tage hier herauskomme.“ Leiser setzte ich hinzu: „Dieser Misserfolg mit den Lebensmittellieferungen hat mich doch recht mitgenommen, ich komme mir doch sehr blamiert vor.“
Sie sah mich sehr fest an.
„Erwin“, sagte sie, „du hast selbst gesagt, wir wollen das Vergangene ruhen lassen, und ich will damit einverstanden sein, obwohl ...“ Sie brach ab. „Aber nun fange nicht du selbst wieder davon an. – Was aber deine Reise nach Hamburg angeht, so bin ich fest davon überzeugt, dass sie dir jetzt nicht gut ist. Nicht Ablenkung brauchst du, sondern Ruhe und Konzentration. Ich habe uns übrigens beide für heute Nachmittag bei Doktor Mansfeld angemeldet ...“
„Das ist wieder so eine von deinen Eigenmächtigkeiten, Magda!“ rief ich ärgerlich. „Was soll ich bei Doktor Mansfeld? Ich bin völlig gesund. Das bisschen Füße ...“
„Ach, deine Füße!“ rief sie, nun auch ärgerlich. „Das bisschen zerschundene Haut wird schon heilen. Nein, du bist wirklich krank, Erwin, ich habe es schon seit Monaten gemerkt, wie du dich veränderst, der Doktor muss dich einmal ganz gründlich untersuchen.“
„Und unter deiner Aufsicht!“ sagte ich spöttisch. „Nein, dafür muss ich wirklich danken ...“
„Erwin“, sagte sie wieder bittend, „lass uns dies eine Mal nicht streiten. Tu mir den Gefallen, geh mit mir zum Arzt. Er kann ja dann entscheiden, ob diese Hamburger Reise für dich gut ist.“
„Oh“, sagte ich bitter, „wenn er unter deiner Beratung entscheiden soll, dann brauchen wir erst gar nicht hinzugehen, dann kannst du Hinzpeter gleich sagen, dass er nach Hamburg zu fahren hat.“
Wir standen jetzt jeder an einem Fenster des Kontors und starrten auf die Straße, was mich anging, so starrte ich nicht nur, sondern trommelte auch mit den Fingern gegen die Scheiben. Draußen schien noch immer die Frühlingssonne, und was an Weiblichem vorüberging, war frühlingsmäßig gekleidet ... Noch immer war es nicht lange her, dass ich mich wie ein Genesender gefühlt hatte und alte Dinge um mich mit frischem Interesse begrüßt hatte, überzeugt davon, heute ein neues Leben zu beginnen ... Und nun drehte sich wieder die alte knarrende Mühle der Streiterei und zermahlte meine besten Vorsätze. Und warum? Weil Magda rechthaberisch war und über alles allein bestimmen wollte. Nein, diesmal war ich nicht gesonnen, nachzugeben. Wir hatten ausgemacht, dass das Vergangene vergangen sein sollte, wegen der Vorgänge in der letzten Nacht brauchte ich nicht nachgiebig zu sein.
Magda drehte sich mit einem Ruck vom Fenster fort und mir zu.
„Erwin ...“, sagte sie leise.
„Ja?“ fragte ich mürrisch und trommelte weiter, ohne sie anzusehen.
„Erwin“, wiederholte sie. „Ich möchte mich heute nicht mit dir streiten. Ich habe das Gefühl, als schweben wir in einer schrecklichen Gefahr und müssten um jeden Preis zusammenhalten. Also, ich will dir den Willen tun, fahre nach Hamburg, aber, wenn du zurückkommst, tu auch du mir den Gefallen und geh mit mir zu Doktor Mansfeld.“
Ich wandte mich ihr zu, ich lachte vergnügt.
„Wenn ich wiederkomme, wirst du selber sehen, wie gesund ich bin, und von allein auf den Arztbesuch verzichten. Aber immerhin, ich verspreche es dir. Im Übrigen danke ich dir schön, Magda, ich werde dir auch etwas Schönes mitbringen ...“
Und wieder lachte ich. Ich war ganz glücklich über diese Reiseaussicht.
„Ich habe es nicht um Dank getan“, sagte Magda ziemlich steif. „Ich habe es sogar ganz und gar gegen meine Überzeugung getan. Ich bin überzeugt, diese Reise wird dir nicht gut tun ...“
„Aber ich werde sie mit deinem Einverständnis machen“, unterbrach ich sie wieder, „und hinterher wollen wir darüber sprechen, wer von uns beiden recht hat. Jetzt aber sage mir, welche Firmen für diese Lieferung etwa in Frage kommen. Natürlich werde ich mich auch auf eigene Faust umtun ...“
* * *