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Fedderwardersiel
ОглавлениеIm kleinen Hafen von Fedderwardersiel wurden die Krabbenkutter zum Auslaufen klargemacht. Auch auf dem nostalgisch anmutenden Ausflugsdampfer wurde die Maschine angelassen. Die ersten Touristen warteten schon am Kai, um mit der Bella einen Törn in die Nordsee zu unternehmen.
Die Sonne war hinter niedrigen Wolken verborgen. Es schien aber trotzdem ein schöner Tag zu werden, denn der aufkommende leichte Südwind trieb die Wolken fort und die Sonne brach durch.
Die BELLA war fast ausgebucht. Als die Flut die nötige Höhe erreicht hatte, verließ das Schiff, begleitet vom Tross der Möwen, den Hafen und nahm Kurs auf den Leuchtturm Roter Sand.
Während die BELLA die Außenweser durchpflügte, erläuterte der Schiffsführer Eilert Harms über an Deck angebrachte Lautsprecher etwas über die Tide, dass die Flut ungefähr sechs Stunden dauert, in der der Wasserspiegel steigt, und dass er dann ebenso lange, bis zur totalen Ebbe wieder abfällt. „Immer im selben Rhythmus der Gezeiten.“
Die überwiegend in der Sonne auf dem Oberdeck sitzenden Passagiere, die fast alle aus Nordrhein-Westfalen stammten, hörten interessiert zu. Unter dem lauten Gekreische der begleitenden Möwen passierte das Ausflugsschiff das an Steuerbord liegende Langwarden und hatte die graue Einöde der Nordsee vor sich.
Ein Krabbenkutter kam von See zurück. Auch hier wurde ein Schwarm Möwen vom Kielwasser des Kutters wie von einem Magneten angezogen.
Inzwischen jagten wieder einige zerrissene Wolken über den Morgenhimmel.
Der Schiffsführer erzählte den aufmerksamen Passagieren, dass der Schifffahrtsweg jetzt nicht mehr gezeitenabhängig sei, aber die Rückfahrt rechtzeitig vonstatten gehen müsse. „Und zwar bevor der Hafen von Fedderwardersiel wieder trockenfällt, denn sonst sitzen wir im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Trockenen. Sie sehen, meine Damen und Herren und liebe Kinder aus dem Binnenland, dass wir hier mit dem Tidenkalender leben, der unseren Tagesablauf bestimmt.“
Gerade erklärte der Kapitän, dass an Bord der BELLA auch der Klabautermann und ein Kielschwein leben, als achtern ein Schrei ertönte.
„Da, ein Mensch im Wasser!“
Eilert Harms unterbrach seinen Vortrag und blickte von der Brücke über seine Schulter. Er nahm sein Fernglas und erkannte, dass die Frau, die den Schrei ausgestoßen hatte, richtig gesehen hatte. An Backbord trieb ein lebloser Körper. Sofort stoppte er die Maschine und manövrierte die BELLA zurück, während sein Bootsmann Hannes Wagner, der als Kartenabreißer und „Mädchen für alles“ an Bord zuständig war, versuchte, den im Wasser treibenden Körper an einen Bootshaken zu bekommen. Der Kapitän kam hinzu, bat die gaffenden Leute zurückzutreten und gemeinsam wurde der Körper über die Reling gehievt und auf Deck auf dem Rücken abgelegt.
Es handelte sich – wie nicht zu übersehen war – um die Leiche einer jungen Frau. Die Tote hatte am Schädel eine schwere Verletzung. Über den Hinterkopf zog sich eine tiefe, klaffende Wunde. Die Augen der Frau waren vielleicht von Seevögeln gefressen worden, denn es waren nur noch leere Höhlen. Trotz dieser Verletzungen war zu erkennen, dass die Frau einmal sehr hübsch gewesen war. Sie hatte lange, blonde Haare und ein zartes Gesicht mit vollen Lippen. Der Hals und die Glieder waren anmutig geformt. Die Leichenstarre war schon von ihr gewichen, dadurch war das Fleisch über den Knochen erschlafft. Die Brüste lagen auf den Rippen, Mund und Kiefer hatten sich gelockert. Die Schamhaare waren zu einem schmalen Strich rasiert.
Eine korpulente Touristin, die sich nicht an die Anweisung des Kapitäns gehalten und sich ganz nach vorn bis an die Leiche gedrängelt hatte, konnte sich bei dem Anblick der toten Frau gerade noch rechtzeitig über die Reling beugen, bevor sie die drei Brötchen mit Käse und Marmelade vom Frühstück in einem würgenden Schwall erbrach. Sofort stürzten sich die immer hungrigen Möwen auf diese unverhoffte Mahlzeit.
„Arme Deern“, murmelte der Bootsmann, während er eine Persenning über die Leiche breitete.
Der Kapitän war inzwischen auf die Brücke geeilt, um die Wasserschutzpolizei zu verständigen.
Während der Aktion hatte sich der Himmel urplötzlich verfinstert, und die schwappenden Wellen waren kabbeliger und bedrohlicher geworden. Ein plötzlich einsetzender Regenschauer ließ die Passagiere unter Deck flüchten. Ein Sturm mit Windstärke neun kam aus Westnordwest. Das Meer toste. Die Nordsee zeigte sich von ihrer brutalen Seite und reagierte so, als ob sie das Opfer nicht gern wieder hergegeben hätte.
Der Kapitän hielt sich nicht lange mit der Meldung an die Wasserschutzpolizei auf, sondern gab nur das Nötigste durch. Die Position des Leichenfundes trug er ins Logbuch ein. Vorrangig setzte er alles daran, die BELLA zurück in den sicheren Hafen zu bringen, denn erste schwere Brecher rollten über das Deck. Bevor die tote Frau von Bord gespült werden konnte, brachte der Bootsmann den Leichnam in eine kleine Kammer unter Deck. Das Schiff stampfte in der aufgewühlten See, und der Sturm war zum Orkan geworden. Fast horizontal peitschte der Regen über die BELLA.
Eilert Harms hatte sein Kapitänspatent vor zwanzig Jahren gemacht. Bis zur Übernahme der BELLA hatte er auf großer Fahrt alle Weltmeere befahren. Ihn konnte nichts mehr erschüttern. Er hatte die heftigsten Stürme in der Biskaya erlebt und Kaventsmänner von vierzig Meter Höhe bei der Fahrt um Kap Hoorn überlebt. Er war ein Ruhe und Autorität ausstrahlender, besonnener Mann. Mit seiner bedächtigen Art versuchte er die verängstigten Passagiere zu beruhigen, während riesige Wellen die BELLA in die Höhe hoben und wieder in die Tiefe fallen ließen. Ein tiefes Dröhnen war in der Ferne zu hören, und plötzlich schlugen Hagelschauer gegen die Fenster des Salons. Einzelne Passagiere fingen angstvoll an zu wimmern. Der Weltuntergang schien nah. Auf den Tischen rutschte klirrend das Geschirr hin und her und wurde nur durch die Sturmkante vor dem Herunterfallen bewahrt. Mehrere Passagiere hatte die Seekrankheit gepackt. Einige saßen mit grauen Gesichtern apathisch auf ihren Stühlen, während andere sich in bereitliegende Tüten übergeben hatten. Zwei Männer bekämpften das Unwohlsein auf ihre Art. Sie ließen sich an der kleinen Bord-Bar vom Bootsmann einen Schnaps nach dem anderen einschenken. Die Therapie schien erfolgreich zu sein. Die Männer wurden nicht seekrank, waren aber stark betrunken.
Einer der beiden, ein typischer Ruhrpott-Kumpel aus Wanne-Eickel konnte nur noch lallen: „Jezz ham wir nichs mehr von dat Kielschwein gehört.“
Die Antwort seines Zechkumpans ließ erkennen, dass er aus Berlin stammte: „Du Orje, vom Klabautermann hatta ooch nüscht mehr jesacht.“
„Denn man prost, Atze“, sagte der Ruhrpottkumpel, und beide hoben zum neunten Mal ihr Glas.
Nachdem die Gläser leer waren, meldete sich noch einmal der Berliner: „Eenen könn wa noch, wat?“
So plötzlich, wie das Unwetter gekommen war, verschwand es wieder. Der Sturm ließ nach, von Westen her rissen die Wolken auseinander, und die Sonne kam durch.
Inzwischen war die BELLA in der Wesermündung und hielt Kurs auf ihren Heimathafen Fedderwardersiel, wo sie von der Wasserschutzpolizei erwartet wurde.